Journal B: Dieses Jahr findet «Queersicht» bereits zum 29. Mal statt. Braucht Bern im Jahr 2025 überhaupt noch ein queeres Filmfestival?
Enggist: Es braucht uns mehr denn je. Denn «Queersicht» hilft, die Wachsamkeit zu erhalten. Gerade geopolitisch gesehen, ist es erschreckend, wie queere Rechte wieder eingeschränkt werden. Auch ist uns ein aufklärerischer Aspekt wichtig. Mit «The Secret of Me» zeigen wir etwa eine eindrückliche Dokumentation über eine Studentin, die 1995 entdeckte, dass sie all die Jahre über ihre Intergeschlechtlichkeit belogen worden war. Der Film erzählt aus einer persönlichen Perspektive, welche Auswirkungen dies auf ihr Leben hat. Filme wie dieser zeigen, dass noch immer viele wichtige Themen nicht adressiert sind.
Das LGBTIAQ+-Filmfestival «Queersicht» wird ehrenamtlich organisiert und vom Verein Queersicht getragen. Das Festival will Höhepunkte des «queer cinema» zeigen, die in der Regel den Weg ins übliche Kinoprogramm nicht finden. Das Filmprogramm umfasst Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilme.
Dieses Jahr findet das Festival zum 29. Mal statt. Vom Donnerstag, 06. November bis zum Mittwoch, 12. November sind Filme im Kino ABC, im Kellerkino, im Kino in der Reitschule, im Kino Rex, in der Cinématte sowie im Lichtspiel zu sehen. Hier geht es zum Programm.
Engel: Zudem schaffen es zwar mittlerweile auch immer mehr queere Filme in die kommerziellen Kinos. Das sind aber oft eher Filme für ein breites, selbst nicht zwingend queeres Zielpublikum, die meistens auch auf wenige, mainstream-taugliche Perspektiven beschränkt sind. Wir nehmen explizit Filme von Queers für Queers in den Fokus. Und auch mit Schwerpunkten, die es eben sonst nicht so ins Kino schaffen.
Sind wir Berner*innen aber tendenziell offener für Filme geworden, bei denen es um unterschiedliche sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten geht?
Enggist: Es ist erstaunlich, wie viele junge Menschen seit Covid den Weg an unser Festival finden. Vielleicht hängt es mit dem verstärkten Aktivismus zusammen, wodurch sich Menschen wieder mehr für solche Themen interessieren.

Ihr sprecht von einem durchmischteren Publikum. Ist das auch eine Chance für die Sensibilisierung?
Enggist: Für mich persönlich ist das tatsächlich eine grosse Chance. Als schwuler Mann merke ich beim Filmeschauen oft, wie wenig ich über andere queere Realitäten weiss – zum Beispiel über trans Themen. Wenn wir danach noch ein Filmgespräch mit betroffenen Personen führen, ist das für mich eine echte Horizonterweiterung. Und ich hoffe, andere Besucher*innen erleben dies ebenso.
Auch euer Programm hat sich gewandelt – früher dominierten Coming-out-Geschichten, heute sind queere Figuren oft selbstverständlicher Teil einer Handlung.
Engel: Das ist tatsächlich so. Früher hatten wir viel mehr Filme in den Sparten «Lesbian» und «Gay», welche oft verschiedene Arten von Coming-Out-Stories erzählten. Mittlerweile gibt es Immer mehr starke Filme, die auch non-binäre oder trans Realitäten thematisieren. Diese bringen auch die Qualität mit, die wir für unser Festival wollen. Entweder in Bezug auf filmisches Handwerk oder Inhalt. Ein Beispiel, das eine interessante Machart und spannenden Inhalt verbindet, ist «Niñxs». Der Film erzählt die Geschichte der 15-jährigen Karla, die in einem mexikanischen Dorf ihre trans Jugend durchlebt.
Claudio und ich haben absolut nicht den gleichen Filmgeschmack.
Mit «Visions of Palestine» werft ihr in mehreren Kurzfilmen differenzierte Perspektiven auf Palästina. Welche anderen Geschichten wollt ihr an diesem Festival ebenfalls sichtbar machen?
Enggist: Diese Frage ist immer so schwierig zu beantworten, denn es gibt viele erwähnenswerte Filme. «We Are Faheem & Karun» kann ich besonders empfehlen. Das ist eine Liebesgeschichte, die in Kaschmir spielt – sicherlich nicht die progressivste Gegend. Gerade deshalb ist der kulturelle Kontext so spannend. Ich habe den Film als sehr herzerwärmend empfunden, auch wenn er durchaus gewalttätige Szenen enthält.
Engel: Claudio und ich haben absolut nicht den gleichen Filmgeschmack. Ich glaube, der Eröffnungsfilm «Lesbian Space Princess» ist der einzige, den wir beide toll finden. Mir ist zudem «Dreamers» besonders in Erinnerung geblieben. Zwei Frauen lernen sich während des Immigrationsprozesses in der UK kennen. Es ist ein sehr emotionaler und berührender Film, welcher trotz des happigen Themas auch Momente der zwischenmenschlichen Wärme und des Humors zeigt. Den würde ich jeder Person nahelegen.

Enggist: Dann gibt es noch einen Film, der mich ziemlich aus meiner Komfortzone herausgeholt hat: «Truth or Dare». Es ist ein sehr expliziter Film über Sexualität – in verschiedensten Formen, Facetten, Konstellationen und Praktiken. Auf eine sehr feinfühlige Art, bei der ich nie das Gefühl hatte, dass es pornografisch wirkt. Vor allem auch die Dialoge, die dort stattfinden, haben mich ziemlich gefordert. Dies, obwohl ich mich nicht als prüde, sondern als experimentierfreudig bezeichnen würde. Sehr sehenswert.
Ihr lebt Vielfalt in eurer Programmauswahl. Wie stellt ihr sicher, dass die unterschiedlichen Stimmen und Identitäten der Community tatsächlich repräsentiert sind?
Engel: Bei uns ist grundsätzlich das ganze Organisationskomitee (OK) an der Filmsichtung beteiligt – so versuchen wir verschiedenste Perspektiven und Eindrücke einzuholen. Anschliessend schustert das Programmteam daraus das Festival-Programm. Natürlich können wir eine differenzierte Repräsentation leider noch nicht vollständig sicherstellen, aber wir versuchen entsprechend uns dazu ein Bewusstsein zu schaffen und entgegenzusteuern. Filme aus allen Sparten und zu unterschiedlichen Identitäten des queeren Spektrums sind bei uns alle willkommen. Auch wollen wir eine gewisse Diversität der Produktionsländer schaffen. Wir haben zwar fast immer Filme aus Amerika – dieses Jahr besonders aus Kanada – aber wir wollen, wann immer möglich, auch Produktionen aus dem asiatischen und afrikanischen Raum zeigen.
Filmgespräch mit betroffenen Personen sind für mich eine echte Horizonterweiterung.
Neben der inhaltlichen und strukturellen Diversität spielt auch das Gefühl von Sicherheit eine zentrale Rolle. Wie sorgt ihr dafür, dass Queersicht für alle Besucher*innen ein Safer Space bleibt?
Enggist: Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Wir informieren vor jeder Vorstellung, dass sich Menschen jederzeit frei fühlen sollen, den Saal zu verlassen, wenn ihnen etwas unangenehm wird. Zudem haben wir seit einigen Jahren damit begonnen, Triggerwarnungen zu verwenden. Bei grösseren Veranstaltungen haben wir Roomkeeper vor Ort, die darauf achten, dass sich alle sicher fühlen. Zudem finden Besucher*innen im Programmheft eine Telefonnummer und E-Mail Adresse, unter welcher sie uns erreichen können.
Engel: Bisher gab es zum Glück kaum Situationen, die ein Eingreifen erfordert hätten – aber wir sind uns der Verantwortung bewusst. Und am Ende des Tages tragen wir alle – OK und Besucher*innen gemeinsam – die Verantwortung dafür, dass Queersicht ein Raum bleibt, in dem sich jede Person willkommen und sicher fühlen kann.
Ab Donnerstag zeigen das Queersicht Filmfestival Filme unter anderem im Kino Rex. (Foto: David Fürst)
