«Es fühlt sich für mich an wie eine Bestrafung»

von Sonja L. Bauer 6. September 2022

Am 25. September stimmt die Schweizer Bevölkerung über die Reform der AHV ab. Diese beinhaltet, dass die Frauen erst mit 65 Jahren pensioniert würden statt wie bis anhin mit 64. Wir fragen drei Frauen nach ihrer Meinung.

Am 25. September kommt das AHV-Paket zur Abstimmung. Die Idee dahinter: Durch die Reform sollen die Finanzen für die kommenden zehn Jahre stabilisiert werden, was bedeute, so die Befürwortenden, dass die AHV längerfristig gesichert sei. Ein Punkt der Reform betrifft das Pensionsalter 65 für Frauen (zurzeit 64). Ausserdem beinhaltet das Paket die Erhöhung der Mehrwertsteuer, um zusätzliche Gelder für die AHV zugenerieren. In Bezug auf die Erhöhung des Rentenalters sind sich Gegnerinnen und Befürworter der Vorlage nicht einig. Der «Berner Landbote» unterhielt sich mit drei parteilosen Berufsfrauen aus der Region, die über 50 Jahre alt sind: Mit Christina Imbach (65), Claudine Fischer (50) und Liliane Gerber (52). Frauen, deren Pensionierung in den kommenden 10 oder 15 Jahren bevorsteht oder die, im Falle von Imbach, bereits vorbeigezogen ist.

Liliane Gerber zog die Kinder ihres geschiedenen Partners mit gross:

Unter dem Aspekt der Emanzipation finde ich es gut, bis 65 zu arbeiten. Aber dann sollten die Rahmenbedingungen für die Frauen auch gleich sein. Das Wichtigste: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, zudem: bezahlte Kinderbetreuung. Denn wenn eine Frau «nur» Teilzeit ausser Haus arbeitet, weil sie Kinder betreut, kann sie auch weniger in die Pensionskasse einzahlen. Es gilt zuerst, dies im Sinne der Frau zu regeln. Ehrlich gesagt bin ich noch unsicher, wie ich abstimmen soll. Gerade, weil die AHV reformiert werden muss! Doch es ärgert mich: Die Frau wird wieder betrogen.

Christina Imbach hat eine erwachsene Tochter und steht noch im Berufsleben, weil sie sich, wie sie sagt, eine Pensionierung nicht leisten kann:

Aufgrund der Kinderbetreuung können Mütter viele wichtige Berufsjahre lang nicht in die Pensionskasse einzahlen. Das ist ein Riesenproblem. Dann kommt eventuell noch eine Scheidung hinzu. Das bedeutet, dass eine Frau total von ihrem Partner abhängig ist. Ausserdem sollen Frauen, die aufgrund dessen dann länger arbeiten müssen, auch gefördert werden. Das Gegenteil geschieht: Eine Frau über 50 ist für die Arbeitgeber zu teuer. Sie findet kaum noch einen Job. Ich war auch vier Jahre arbeitslos, bevor ich durch «Vitamin B» wieder einen Job bekam.

Für eine arbeitslose Frau bedeutet dies, dass sie zur Langzeitarbeitslosen wird, vom Arbeitsamt irgendwann ausgesteuert und schliesslich zum Sozialfall wird. Dies verschiebt einfach die Kosten. Deshalb ist es wichtig, dass Frauenarbeit gefördert wird. Frauen, die länger arbeiten müssen, weil sie sonst für den Lebensunterhalt nicht selbst aufkommen können, sollen unterstützt werden, wenn schon verpasst wurde, sie früher gleichzustellen. Davon würden alle profitieren. Zudem wünsche ich mir, dass die Qualitäten, die gerade ältere Frauen durch Erfahrung haben, endlich als das, was sie sind, anerkannt werden. Dann sind wir über die unterbezahlten Jobs hinaus. Denn Menschen ab 60 Jahre sind zwar teuer, aber auch wertvoll. Sind sie den Arbeitgebern zu teuer, so frage ich mich, warum sie überhaupt länger arbeiten sollten, denn dann sind sie sowieso arbeitslos und müssen aufs Arbeitsamt.

Liliane:

Männer haben es diesbezüglich einfacher, sie werden viel öfter über das Pensionierungsalter hinaus beschäftigt, da sie sowieso schon jahrelang bei der gleichen Firma beschäftigt waren.

Christina:

Aber es gibt auch viele sehr fähige Frauen, die längst mit Social Media vertraut sind und, egal in welchem Job, beratend zur Verfügung stehen können.

Claudine Fischer ist seit vielen Jahren berufstätig und alleinerziehende Mutter eines 16-Jährigen:

Ich werde Nein stimmen. Unser System ist noch viel zu unausgereift. Viele, vor allem Männer, bewegen sich in alten Mustern. Diese Männer werden auch abstimmen. Für mich besteht dort ein grosses Problem: Erst soll die Frau in der Gesellschaft respektiert und anerkannt werden. Und zwar generell. Dazu gehören gleicher Lohn und gleiche berufliche Möglichkeiten – auch nach einer Scheidung. Gemäss dem neuen Scheidungsgesetz wird die Frau schwer benachteiligt. Solange die alten Muster in den Köpfen sind, gibt es für mich keine Gleichberechtigung und somit keine Erhöhung des Pensionsalters für Frauen auf 65 Jahre.

Seit mein Sohn zwei Jahre alt ist, mache ich zu fast 100 Prozent alles allein. Ich kämpfte wie verrückt, musste und muss auf das Geld schauen, musste auf vieles verzichten, konnte nicht in den Urlaub fahren. Alles für meinen Sohn, weil ich Mutter bin. Wenn ich nun noch bis 65 arbeiten soll, also nochmal länger, dann fühlt es sich für mich wie eine Bestrafung an. Und ich denke, dass dies vielen Frauen so geht. Was die Gleichberechtigung von Mann und Frau angeht: Da sind wir noch lange nicht. Erst braucht es gleiches Gehalt für gleiche Arbeit, bezahlte Mutterarbeit, grössere Steuerabzüge. Sogar die Alimente meines Sohnes muss ich versteuern, während Ex-Ehemänner nicht selten vermögend bleiben und, falls sie selbstständig sind, zudem kaum Steuern bezahlen müssen. Da geht bei mir die Rechnung nicht auf und ich bin sicher, es gibt genug solche Geschichten.

Christina:

Ich arbeite übrigens extrem gern und das, seit meine Tochter sechs Jahre alt war. Seit der Scheidung bin ich auch nur am Kämpfen. Nie bekam ich von einem Amt finanzielle Unterstützung. Weil ich immer berufstätig war. Ich lebe am Rande des absoluten Existenzminimums. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu arbeiten, denn ich komme nicht durch mit der Rente. Bis ich 32 Jahre alt war, lebte ich in der DDR. Von Deutschland bekomme ich 400 Franken im Monat, ein Nasenwasser. Gemäss der Deutschen Bundesregierung müsste ich gar bis 67 arbeiten, dies steht nochmal in einem anderen Kontext. Somit ist es für mich das Wichtigste, so lange wie möglich arbeiten zu dürfen.

Aber: Es ist nicht gesagt, dass eine Frau in meinem Alter überhaupt einen Job kriegt. Wer beruflich gut integriert war, vielleicht. Andere haben kaum eine Chance. Auch mir wurde mit 58 gekündigt und, wie erwähnt, ohne Beziehungen hätte ich niemals mehr einen Job gefunden. Die vier Jahre ohne Job waren bitter. Vor allem, wenn man vorher immer im Berufsleben stand. Arbeitslos nur, weil man unterdessen über 50 Jahre alt geworden ist. Manchmal stelle ich mir vor, ich müsste ohne Job leben, ich würde durchdrehen zu Hause. Es ist für mich finanziell schon fast unmöglich, heim nach Deutschland zu fahren, «nur» um Familie und Freunde zu besuchen.

Claudine:

Ja, natürlich. Die Möglichkeit zu haben, arbeiten zu dürfen, ist wichtig. Aber eben: Wer will einen noch in diesem Alter!? Allein die Sozialleistungen… Meine Mutter zum Beispiel ist AHV-Bezügerin. Weil diese nicht reicht, suchte sie einen Job. Nur: Sie muss dieses Gehalt von zwei Wochentagen, mit dem sie ihre kleine Pension aufbessert, noch versteuern. Wo rentiert dies noch? Ich persönlich zahle so viel Steuern, die Alimente inbegriffen, wie jene, die keine Kinder haben. Es muss eine andere Lösung geben. Ich bin nicht dagegen, länger zu arbeiten, ich bin gesund, ich will Struktur und auch noch gebraucht werden, aber ich bin nicht bereit, ein Jahr mehr zu arbeiten, wenn diese Benachteiligungen nicht endlich beseitigt werden.

Liliane (ironisch):

Wenn wir Sozialhilfe-Empfängerinnen werden, bekommen wir nicht einmal kostenlos Gesprächstherapien…

Claudine:

Es scheinen nur jene eine Chance zu haben, die unserer Leistungsgesellschaft entsprechen. Wer mal ein Burnout hatte, eine Beeinträchtigung hat, ist weg. Nur noch: Was ist jemand wert? Da sollten wir uns doch fragen, was, eben, wirklich wichtig ist im Leben. Was ist wirklich wichtig? Und daran wird gemessen und das Geld verteilt. Stetes Wachstum wird uns schaden. Der Schlüssel zum Glück liegt in der Einfachheit, davon bin ich überzeugt.

Liliane:

Die Umverteilung von Reich zu Arm passiert nicht. Wir sollten aufhören, die Reichen zu begünstigen.

Christina:

Ich glaube an unsere Kinder. So viele Söhne wuchsen allein mit ihren Müttern auf, sie sehen, was diese leisten. Dies wird eine andere Wertigkeit in die Gesellschaft bringen, hoffenlich.

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitung «Berner Landbote».