«Wir haben seit Jahren die Vision, in einem belebten Quartier ein Haus zu eröffnen, in dem Menschen mit und ohne Behinderung ein- und ausgehen können», erklärt Jonas Staub, Initiant des Projekts Provisorium46 an der Muesmattstrasse 46. Mit «Wir» meint er die von ihm gegründete Organisation «Blindspot», die sich der Inklusion von Menschen mit Behinderung widmet. Mit dem Kauf der Liegenschaft des ehemaligen Länggassstübli habe man sich diesen Wunsch erfüllen können, sagt er, «und zwar in einem attraktiven Quartier an einer sehr guten Lage.»
Bewährtes Gastro-Konzept
«In der Art und Weise, wie wir das anbieten, gehen wir neue Wege.»
Geplant ist ein ganz normaler Gastronomiebetrieb: Am Mittag gibt es Take-away-Gerichte und am Abend einfache Menus. Ausserdem – je nach Tageszeit – Kaffee oder Apéro. Das Angebot richtet sich an die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers sowie an die Studierenden. «Wir machen nichts Unbekanntes, sondern es sind bewährte Konzepte», führt er aus. «Nur in der Art und Weise, wie wir das anbieten, gehen wir neue Wege.» Im Team des Provisorium46 werden nämlich Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten.
«Inklusion», erklärt Staub, «bedeutet einerseits die Förderung der Vielfalt und andererseits die selbstverständliche Teilhabe aller an der Gesellschaft.» Davon sei die Schweiz weit entfernt. Staub muss es wissen, denn er hat 12 Jahre lang als Sozialpädagoge in Institutionen mit Menschen mit Behinderung gearbeitet. Im Verlauf der Zeit seien ihm immer mehr Zweifel an dem Sinn der eigenen Tätigkeit gekommen. Die Jugendlichen, mit denen er zu tun hatte, wollten sich nicht ausschliesslich in dem auf sie zugeschnittenen Sondersetting bewegen: «Die wollten dasselbe wie andere Jugendliche ohne Behinderung.»
Skilager und Sommercamps
So fing er vor 11 Jahren zunächst an, Snowboardlager für Jugendliche mit und ohne Behinderung durchzuführen. Drei Jahre später kamen Sommercamps auf dem Zeltplatz Eichholz unter dem Namen «Cooltour» hinzu. Kerngedanke dieser Projekte ist, dass es keine Aufteilung in «Helfende» und «Hilfe-Empfangende» gibt, sondern dass alle Kinder gemeinsam etwas erleben. Lediglich im Hintergrund achten die Betreuerinnen und Betreuer mit und ohne Behinderung darauf, dass die Gruppen gut durchmischt sind und dass es nicht zu Mobbing-Situationen kommt.
«Wir greifen möglichst wenig ein, denn Inklusion ist ein Prozess. Die Kinder sollen ihre eigenen Erfahrungen machen», erklärt er. Häufig komme es anfänglich zu Hilfestellungen, welche gar nicht erwünscht sind oder eigenständige Entwicklungen hemmen. Ein Kind meint, es müsse ein anderes im Rollstuhl herum schieben, ihm den Becher halten und auffüllen. Das Problem löse sich oft von allein: «Nach ein bis eineinhalb Tagen wird es dem Kind ohne Behinderung meist zu viel», meint er, oder das Kind mit Behinderung wehre sich, weil ihm diese Hilfe auf die Nerven geht. Es zeige sich auch, dass Kinder mit Behinderung sich enorm weiterentwickeln und an Selbstsicherheit gewinnen, wenn ihnen der Raum dazu gegeben wird.
Kontingente sind Bestandteil dieses Konzepts: «Das ist wichtig für die Durchmischung», sagt er. Die Mehrheit der Kinder in den Ferienangeboten haben daher keine Behinderung – was auch ein Spiegel der Gesellschaft sei. Die Lager werden daher nicht in erster Linie als Inklusionsprojekte ausgeschrieben, sondern die Kinder melden sich wegen des attraktiven Angebots. Im Provisorium46 geht man ähnlich vor: Die Arbeitszeiten werden so eingeteilt, dass nie mehr als ein Viertel der anwesenden Mitarbeitenden eine Behinderung hat. «Dazu stehen wir», sagt Staub.
Im Hintergrund aktiv
Wie in den Jugendlagern sollen auch im Provisorium46 die Teammitglieder ohne Behinderung keine Betreuungsfunktion übernehmen. «Es sind alle im gleichen Boot», führt er aus: «Die Betriebsleiterin und die Köche kommen aus dem Gastgewerbe und haben eine entsprechende Ausbildung.» Die betreuerischen Funktionen übernehme Blindspot im Hintergrund.
Längerfristig hat Staub Grösseres im Sinn. In zwei Jahren will er das Haus umbauen: Im Untergeschoss sind Tagungsräume geplant; in den Obergeschossen Büros sowie ein Projekt mit neuartigen Wohnformen. Im Gegensatz zu den herkömmlichen begleiteten Wohnprojekten, in denen oft die Vermittlung von Alltagskompetenzen wie Kochen und Einkaufen im Vordergrund stehe, solle das Augenmerk zusätzlich auf der Erlangung von sozialen Kompetenzen liegen. Junge Erwachsene mit Behinderung sollen zum Beispiel während einer befristeten Zeit dabei unterstützt werden, sich ein soziales Netz im Quartier aufzubauen.
Ziel ist die Inklusion: Gesucht werden Anschlusslösungen ausserhalb des betreuten Umfelds, (z.B. in einer WG), wobei diese natürlich den speziellen Bedürfnissen und Voraussetzungen der Betroffenen gerecht werden müssen. Bis der Umbau realisiert ist, sollen erste Erfahrungen mit der Arbeitsintegration gesammelt werden. Staubs Ziel ist es, für alle Mitarbeitenden mit Behinderung eine Anschlusslösung im regulären Arbeitsmarkt zu finden. Im Provisorium46 können sie deshalb nur für eineinhalb bis zweieinhalb Jahre tätig sein.
Offene Fragen
In der konkreten Umsetzung des Modells sind allerdings noch manche Fragen offen. Dies liegt nicht zuletzt am heutigen IV-System, wie Staub erklärt: «Wir können zum Beispiel Angestellten mit Behinderung im Provisorium46 nicht mehr als einen bestimmten Höchstbetrag als Lohn zahlen», erklärt er, «denn sonst würden sie ihr Anrecht auf eine Invalidenrente verlieren.» Dies liegt daran, dass sich die Invalidität an der Erwerbseinbusse bemisst, die jemand aufgrund seiner behinderungsbedingten Beeinträchtigung verzeichnet. Umgekehrt will Staub jedoch den Mitarbeitenden mit Behinderung mehr als einen symbolischen Fünfliber pro Tag als Lohn auszahlen. Das sei ein riesiges Problem. Momentan müsse Blindspot deshalb die Möglichkeiten von Fall zu Fall abklären.
Die Situation wäre einfacher, wenn sich das Provisorium46 als Behinderteninstitution einstufen liesse, denn dann könnte Blindspot Leistungsverträge abschliessen. Dies liefe aber dem Grundgedanken und der Vision der Organisation zuwider, da Blindspot sich als Inklusions- und nicht als Behindertenorganisation verstehe. Inklusion bedeute, dass jeder und jede von uns seine Schritte machen muss, erklärt Staub: «Sehr oft werden Menschen mit Behinderung vom System zu stark geschützt», vermutet er. Das bedeute aber auch, dass diesen Menschen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und zur Entwicklung von Selbstinitiative genommen werde. Blindspot versucht deshalb, Denkprozesse anzustossen, und zwar sowohl bei den Menschen ohne Behinderung, die sich vom Thema oft nicht betroffen fühlen, als auch bei den Menschen mit Behinderung, indem diesen aufgezeigt wird, dass auch sie sich einsetzen müssen, um vollumfänglich zur Gesellschaft dazu zu gehören.