Die Allmend war jenisch

von Naomi Jones 24. April 2014

Jenische aus der ganzen Schweiz fordern zwanzig neue Durchgangsplätze. Einen davon im Kanton Bern. Um dieser Forderung Gewicht zu verleihen, sind sie in die Hauptstadt gefahren und haben die kleine Allmend besetzt.

Rund hundert weisse Wohnwagen stehen am Mittwochmittag auf der kleinen Allmend. Auf dem nahen Expo-Gelände laufen die Vorbereitungen zur diesjährigen BEA. Die Ausstellung wird am Freitag eröffnet.

Die kleine Allmend ist mit Gittern eingezäunt. Beim Eingang sind Transparente befestigt. «Leben statt Campen» steht auf einer Tafel.

Ein eigenständiges Volk

Auf der kleinen Allmend haben sich Jenische aus der ganzen Schweiz zur grössten Demonstration der Jenischen seit den 80er-Jahren eingefunden, zu der der Verein «Bewegung der Schweizer Reisenden» aufgerufen hat. Der Verein fordert, dass die Jenischen als eigenständiges Volk in der Schweiz anerkannt werden und dass der Kanton Bern ab sofort einen Durchgangsplatz anbietet. Denn davon gebe es in der Schweiz viel zu wenig, erklärt Vorstandsmitglied Reto Moser. Von 43 Durchgangsplätzen in der Schweiz seien lediglich zwölf benutzbar.

Der Durchgangsplatz ist ein Ort, wo sich Fahrende zwischen April und Oktober während zwei bis vier Wochen aufhalten, bevor sie weiterziehen. «Wir fahren der Arbeit nach», erzählt Moser. Im Winter würden die meisten Jenischen auf den sogenannten Standplätzen in fix installierten Wohnwagen, oft mit Vorbau, wohnen. Viele Sesshafte pflegen diesen Lebensstil im Sommer während ein paar Wochen auf einem Campingplatz. Die Standplätze stellen in der aktuellen Diskussion kein Problem dar. Aber die Jenischen brauchen auch genügend Durchgangsplätze, um ihre nomadisierende Lebensweise zu pflegen.

«In Bern sind in den letzten 25 Jahren rund zwanzig private Plätze zugegangen», erzählt Viviane Mülhauser. «Ausserdem kamen immer mehr Auflagen dazu, zum Teil tägliche Polizeikontrollen. Man hat uns die Infrastruktur weggenommen und begonnen uns zu vertreiben.» «Wenn es so weitergeht», ergänzt Reto Moser «gibt es in zehn Jahren die jenische Kultur nicht mehr. Unsere Kinder werden nicht mehr reisen können.»

Kinder gibt es heute viele auf der kleinen Allmend. Vorschulkinder balgen sich rund um die Wohnwagen, Jugendliche fahren mit kleinen vierrädrigen Motorfahrzeugen durch das Gelände. Das jüngste Kind ist wenige Tage alt, die Eltern sind der Pubertät knapp entwachsen. Auch Hunde gehören dazu. Die meisten passen in eine Handtasche.

Das Dilemma der Stadt

Die Stimmung ist friedlich, obwohl die Anspannung offensichtlich ist. Man sitzt zusammen, man diskutiert. Thema ist die vom Gemeinderat angekündigte Räumung des Platzes. «Wir haben schon ein bisschen Angst», sagt Viviane Mülhauser. Die Demonstration der Jenischen ist nicht bewilligt. Die kleine Allmend gehört zwar der Stadt, diese hat den Platz aber an die BEA-Organisatoren vermietet – ein Dilemma.

Plötzlich kommt Bewegung in die Gruppen vor den Wohnwagen. Alle eilen zum Eingang. Marc Heeb, Leiter der stadtbernischen Orts- und Gewerbepolizei ist mit drei weiteren Polizisten gekommen, um die vom Gemeinderat beschlossene Räumung mitzuteilen. Die Männer werden von Jenischen und Medienschaffenden umringt. Mike Gerzner, Präsident des Vereins «Bewegung der Schweizer Reisenden» verhandelt: «Wir wollen keine Gewalt. Wir haben hier kleine Kinder und schwangere Frauen. Wir werden euch die Schlüssel zu unsern Autos geben, und ihr könnt sie wegfahren. Aber wir werden nicht selbst gehen, solange wir keinen Durchgangsplatz haben.»

Gerzner bietet als Kompromiss an, dass die Jenischen den Platz während der BEA räumen und auf den Hornusserplatz etwas weiter hinten ziehen. Heeb bleibt ruhig. Er könne diesbezüglich nichts entscheiden, sein Auftrag sei es, den Platz zu räumen. «Für Kühe hat es Platz aber für Menschen nicht!» ruft ein Umstehender dazwischen. Gerzner gibt sich verständnisvoll aber bestimmt. Da Heeb den Jenischen keinen alternativen Platz bieten könne, wolle man mit jemandem sprechen, der dies könne. Mit dem Bundesrat am liebsten, oder mit dem Stadtpräsidenten.

Das Angebot der Jenischen

Um viertel nach drei sitzt Vizestadtpräsident und Sicherheitsdirektor, Reto Nause, am Campingtisch unter dem Vorzelt eines Wohnwagens. Die Jenischen werten dies als einen ersten kleinen Erfolg.

Nause hört sich die Anliegen der Jenischen konzentriert an und versucht, Verständnis für die Situation der Stadt zu erwirken. Er bietet an, sich für Gespräche der Jenischen mit Vertretern des Kantons und des Bundes zu engagieren, sofern die Jenischen abziehen würden. Gerard Mülhauser, Sprecher des Vereins «Bewegung der Schweizer Reisenden» führt diesmal die Verhandlungen. «Wir gehen erst, wenn wir einen alternativen Platz zugesichert erhalten. Wir wissen nicht, wo wir sonst hingehen sollen.» Mülhauser versteht, dass die Stadt gegenüber der BEA-Organisation an Verträge gebunden ist. Deshalb bietet er an, dass die Jenischen die Platzmiete von 15 Franken pro Tag und Wagen an die BEA bezahlen. Das wären mehr als 1500 Franken täglich während zehn Tagen.

Nause sieht sich zu keiner Entscheidung befugt. Er habe kein Verhandlungsmandat des Gemeinderates. Dann solle er aber doch bitte die Verantwortlichen der BEA an den Tisch holen, so Mülhauser. Auch dies kann Nause nicht versprechen. Eine Lösung gibt es keine. Bevor Nause aufbricht gibt er dem Präsidenten Mike Gerzner aber seine Natelnummer.

Wo ist ein Zuständiger?

«Das waren nur Drohgebärden der Polizei» ermutigt Venanz Nobel die Umstehenden. Nobel vom Verein «Schäft Qwant» (Link auf www.jenisch.info) kennt sich aus. Er hat schon in den 80er Jahren Demonstrationen der Jenischen erlebt. Nun ist er als Berater und wenn nötig als Mediator hier. Trotzdem ist die Spannung nochmals ein Stück gestiegen. Nauses Abgang ohne Entgegenkommen lässt den nächsten Schritt offen. Steht nun die Räumung an?

Um viertel vor fünf erscheint der Gewerbepolizeileiter Marc Heeb wieder auf dem Gelände. Er bringt eine Kopie des Räumungsantrags, den die Stadt als Eigentümerin des Grundstücks bei der Polizei gestellt hat. Venanz Nobel freut sich. «Das ist noch keine Verfügung.» Der Ball liege nun bei der Polizei. Diese stelle auf den Antrag hin die Räumungsverfügung aus. Es liege aber in ihrem Ermessen, wann sie räume. Es könne Stunden dauern oder Monate. Die Jenischen hoffen auf Zeit. Ausserdem haben sie die Koordinaten eines neuen Ansprechpartners, den Leiter der Immobilien der Stadt Bern. Sie wollen nun ihm, dem Zuständigen, ihr Angebot unterbreiten.

Beginn der Räumung

Um halb sieben am nächsten Morgen kommt die Polizei. Sie beginnt mit dem Räumen. Abschleppwagen laden einzelne Autos auf. Die Wohnwagen lassen die Polizisten vorerst stehen. Die Jenischen schauen zu und filmen die Szene mit ihrem Handy. Zum Teil scherzen sie gar mit den Polizisten. «Die Polizisten machen ja auch nur ihre Arbeit», meint Pia Birchler. Sie füllt gerade die Waschmaschine im Kofferraum ihres Minivans. «Bis es soweit ist, habe ich noch etwas gewaschen. Aber es ist eine durchzogene Sache. Wie das Wetter. Bewölkt.» Birchler zeigt auf die Wolken am Morgenhimmel.

Die Räumung geht langsam voran. Die Jenischen stellen sich dem Abschleppwagen mit Transparenten in den Weg. Dieser fährt um den Platz herum und holt sich ein Auto am Rand des Camps. Unterdessen sind Vertreterinnen von Amnesty International eingetroffen. Sie beobachten, sprechen mit den Leuten und beraten.

«Mir wänd Platz für öises Volk»

Um halb elf gibt die Polizei eine kleine Pressekonferenz. Marc Heeb informiert, dass nun die Kantonspolizei zuständig sei. Mediensprecher Christoph Gnägi übernimmt. Die Situation habe sich verändert. Nun müsse man Abklärungen treffen und beraten. Die Jenischen würden passiven Widerstand leisten. Sie hätten ihr Versprechen, die Autoschlüssel auszuhändigen, nicht eingehalten. «Das stimmt nicht. Die wollten meinen Schlüssel nicht. Ich habe ihn angeboten.» sagt Claude Gerzner dazu.Sein Auto wurde am Morgen als erstes abtransportiert.

«Es ist eine Schande. Mein Grossvater wurde im KZ vergast, ich war ein sogenanntes Kind der Landstrasse und meinen Kindern nehmen sie das Zuhause weg. Dabei bin ich Schweizer und zahle Steuern und zwar nicht wenig.»

Die Abschleppwagen sind parkiert. Die Polizisten stehen herum. Die Jenischen diskutieren miteinander und geben Interviews. Bei einigen Wohnwagen wird das Mittagessen gekocht. Man wartet auf die nächsten Schritte der Polizei. Ein junger Mann holt die Gitarre und improvisiert einen Protestsong: «Mir wänd Platz für öises Volk. Öisy Fraue wänd es Läbe!»

Um 16 Uhr beginnt die Räumung. Obwohl die Polizisten freundlich sind, weckt das Szenario beklemmende Erinnerungen.

«Ich kann es nicht fassen.» Venanz Nobel ist ausser sich: «Um halb zwei hat mir Regierungsrat Christoph Neuhaus am Telefon gesagt, er habe in zwei Stunden einen alternativen Platz für uns. Um viertel vor vier ruft er mich an und sagt, er könne nichts machen, der Ball sei bei der Stadt.»