Alltag - Kolumne

Der kranke Mensch als Goldesel

von Céline Rüttimann 5. November 2025

Who cares? Céline Rüttimann ist langjährige Historikerin, Germanistin – und Pflegefachfrau. Im ersten Beitrag ihrer neuen Kolumne «Who cares?» schreibt sie übers Geld. Denn auch in der Pflege, so hat sie früh erkannt, geht es in erster Linie nur um die klingende Münze.

Neulich sass ich mit einer Gruppe Azubis zusammen und fragte sie, warum sie sich für den Pflegeberuf entschieden haben. Sie haben alle ausnahmslos mit folgendem Satz geantwortet: «Ich heisse XY und arbeite gerne mit Menschen.»

Schön, dachte ich. Wer täglich Fernbedienungen sucht, zigmal Urinflaschen leert und immer mal wieder grundlos angeschrien wird, muss Menschen gernhaben. Als ich mich vor fünf Jahren dazu entschieden habe, Pflegefachfrau zu werden, dachte ich vor allem an die hohe Arbeitsplatzsicherheit. Ich bin da etwas pragmatischer, nachdem ich ein paar Entlassungswellen in der Medienbranche erlebt habe. Mit Menschen arbeite ich natürlich auch gern.

(Illustration: Sarah Blaser)

Was ich den Azubis nicht sagte: In der Pflege geht es – wie überall – nur ums Geld. Das werden sie früh genug merken, dachte ich.

Nehmen wir das Beispiel Langzeitpflege. Damit Pflegeheime Geld verdienen, müssen Zimmer belegt werden. Die Heimbewohner*innen werden in Pflegstufen eingeteilt, die den Pflegeaufwand aus finanzieller Sicht darstellen sollen. Je höher die Pflegestufe, desto mehr Geld gibt es von der Krankenkasse und vom Kanton. Und je mehr pflegebedürftige Menschen mit hohen Pflegestufen in einem Heim leben, desto mehr Personal kann angestellt werden.

Woran krankt das Gesundheitswesen? An der einseitigen Ausrichtung auf ökonomisches Wachstum.

Zimmer in einem Pflegeheim zu vermieten ist aber nicht immer einfach. Denn ich kann nicht steuern, ob das Heidi aus dem Dorf einen Heimplatz benötigt, oder ob sie noch mit der Spitex zu Hause leben kann. Oft fehlt auch ausgebildetes Personal, um die Bewohner*innen in die richtige Pflegestufe einzuteilen. Durch diese Faktoren geht Geld verloren, was schlussendlich beim Personalschlüssel eingespart wird, heisst, weniger Pflegende müssen mehr betagte Menschen betreuen. Durch diese Belastung verlassen immer mehr Pflegende den Beruf. Es ist ein Teufelskreis, der durch den Faktor Geld bestimmt wird.

Auch im Akutbereich bestimmen die Finanzen. Die Spitäler versuchen mit weniger Personal mehr Betten zu betreuen, möglichst viele Untersuchungen durchzuführen und möglichst viele Operationssäle zu betreiben. Wer darunter leidet, sind unter anderem die Pflegenden und Patient*innen. Der Berufsverband der Pflegenden (SBK) beschreibt es treffend: «Woran krankt das Gesundheitswesen? An der einseitigen Ausrichtung auf ökonomisches Wachstum.»

Das paradoxe am Gesundheitswesen ist, dass nicht am gesunden Menschen verdient wird, sondern am kranken. Wenn die Menschen gut gepflegt werden und deshalb nach Hause gehen können oder keine Spitaleinweisung benötigen, verdienen die Spitäler und Heime kein Geld.

Von einer gerecht bezahlten und gut ausgebildeten Pflegekraft, die nicht kurz vor dem Burnout steht, würden aber wir als Privatpersonen profitieren. Denn wenn wir kompetent betreut werden, sinken dadurch die Gesundheitskosten. So würden die Krankenkassenprämien nicht ständig steigen, was uns alle entlasten würde.

Unsere Menschlichkeit wird ausgenutzt, um nicht mehr Geld in die Pflege investieren zu müssen.

Finanziell in die Pflege zu investieren, lohnt sich also. Das haben auch die Stimmberechtigen begriffen, als sie die Pflegeinitiative angenommen haben. Dies war ein absolut notwendiger Schritt, um zu zeigen, dass die Pflege von nationalem Interesse sein muss. Gerne dürfte der Bund jährlich ähnliche Milliarden Franken in die Pflege investieren, wie er die Landwirtschaft jährlich subventioniert.

Also, Lektion Nummer eins, liebe Azubis: Unsere Menschlichkeit wird ausgenutzt, um nicht mehr Geld in die Pflege investieren zu müssen. Wie oft verzichten Pflegende auf ihre Pausen, weil es zu wenig Personal hat, hilfsbedürftige Menschen aber auf die Toilette müssen? Wie oft springen sie ein, weil die Kollegin krank ist? Wie oft rennen Pflegende durch die Gänge, sind Psychologinnen, Coiffeure, Seelsorgerinnen und Pflegende gleichzeitig?

Warum streikt das Gesundheitspersonal nicht? Warum gibt es keine Shutdowns der Spitäler und Heime, wie zum Beispiel beim Bahn-oder Flugverkehr?

Weil es Menschenleben kosten würde.

Und diesen ethischen Konflikt machen sich Politik und Unternehmen zu Nutze.

Ich heisse XY und arbeite gerne mit Menschen.