Das Eis der Sammlung taut auf

von Joel Schreyer 1. Oktober 2025

Museen Das Historische Museum Bern widmet sich mit «Grönland in Sicht! Perspektiven auf ein koloniales Erbe» ihrer ethnografischen Grönland-Sammlung. Kuratorin und Provenienzforscherin Mira Shah erklärt im Gespräch, was die Objekte über das Verhältnis der Schweiz zur Arktis erzählen.

BKA: Mira Shah, das Bernische Historische Museum besitzt eine Grönland-Sammlung mit 175 Objekten. Was sagt das über die Schweiz und ihre koloniale Vergangenheit aus?

Mira Shah: Anfang des 20. Jahrhunderts gab es zwei schweizerische Grönland-Expeditionen, die vom damaligen Konservator der ethnografischen Sammlung Rudolf Zeller begrüsst wurden. In dem Sinne waren es keine staatlichen Unternehmungen, sondern wissenschaftliche. Eine Erlaubnis erhielt man nur, weil der Schweiz kein imperiales Interesse attestiert wurde. Die Reiseberichte zeigen, dass die Expeditionen allerdings stark von der kolonialen Infrastruktur abhängig waren. Die Sammlung repräsentiert deshalb sehr gut, wie die Schweiz in den europäischen Kolonialismus eingebunden war.

Es gibt eine spezifische schweizerische Affinität fürs Polare, die auf geografischen Gegebenheiten wie Gletschern, Eis und Schnee gründet.

Und welchen Nutzen sah man darin, Objekte aus den polaren Regionen zu sammeln?

Einerseits ist das ethnografische Paradigma zu dieser Zeit, dass alle Weltregionen mit repräsentativen Objekten möglichst umfassend vertreten sein sollten. Die Objekte ermöglichten es, ethnografisches Wissen zu produzieren. Anderseits dienten sie aber auch einer ethnologischen Analogie: Objekte aus polaren Regionen wurden mit prähistorischen, eiszeitlichen Objekten der Schweiz in Verbindung gebracht. Die Schweizer Urgeschichte sollte so greifbar und verständlich gemacht werden. Ein solcher Vergleich ist problematisch, weil er häufig dazu führte, dass Menschen in der Arktis als «steinzeitlich» betrachtet und abgewertet wurden.

Das Schweizer Expeditionsteam in Grönland. (Foto: © ETH Library Zurich)

Die Faszination für polare Welten ist bis heute in der schweizerischen Bevölkerung verankert. Woher kommt die?

Es gibt eine spezifische schweizerische Affinität fürs Polare, die auf geografischen Gegebenheiten wie Gletschern, Eis und Schnee gründet. Dadurch ergibt sich eine gefühlte, aber auch tatsächlich klimabezogene Gemeinsamkeit. Die Schweiz sitzt zum Beispiel als Beobachterin im Arktischen Rat – mit dem Argument, dass die Alpen eine «vertikale Arktis» sind.

Sehen das die Grönländer*innen auch so?

(Sie lacht). Sie würden kaum behaupten, sie hätten «horizontale Alpen». Das zeugt zumindest von einer starken Identifikation der Schweiz mit polaren Regionen.

Die Aufgabe ethnografischer Sammlungen ist heute herauszufinden, wie und warum die Objekte ans Museum gekommen sind.

Grönland ist sehr präsent im Berner Museumsquartier. «Grönland. Alles wird anders» nennt sich die laufende Ausstellung im ALPS. Wie eng arbeiten Sie zusammen?

Wir haben durchaus zusammengespannt und bieten gemeinsame Veranstaltungen und Museumstickets an. Die Ausstellung im ALPS widmet sich der aktuellen Perspektive Grönlands. Mit unserer Ausstellung setzen wir dagegen einen historischen Fokus und gehen der Frage nach, wie es überhaupt zu dieser Faszination und der schweizerischen Verstrickung mit Grönland kam.

Sie betreuen die Grönland-Sammlung und koordinieren die Provenienzforschung am Museum. Ihre Ausstellung denkt kritisch über ethnografisches Sammeln nach. Wozu braucht es eine solche Sammlung im Jahr 2025 noch?

Wir sind ein historisches Museum mit einer ethnografischen Sammlung und haben derzeit auch keine aktive Sammlungspraxis. Die Aufgabe ethnografischer Sammlungen ist heute mittels Provenienzforschung herauszufinden, wie und warum die Objekte ans Museum gekommen sind, und welche Personen dahinterstecken. Unsere Verpflichtung ist es also, Herkunft, Geschichte und Archivdokumentation der Objekte transparent und zugänglich zu machen. Sie sind koloniales Erbe und in diesem Kontext gesammelt worden – und damit müssen wir uns auseinandersetzen.

In der Ausstellung «Grönland» am 9. September 2025 im Bernischen Historischen Museum in Bern.
(Foto: Stefan Wermuth)

Gibt es eigentlich konkrete Überlegungen zu Rückgaben?

Wir haben momentan kein Restitutionsprojekt zu dieser Sammlung, durch die Ausstellung sind wir aber mit diversen Institutionen in den Dialog getreten. Bei den Objekten, die wir hier haben, lässt sich aufgrund des Archivmaterials vermuten, dass sie nicht unrechtmässig erworben worden sind. Trotzdem ist es wichtig, noch mehr zu forschen. In einem Katalog listen wir Objekte auf – und das Wissen darüber, das wir haben. Da zeigt sich: Wir wissen vieles nicht. Dieser Leerstelle widmen wir uns mit der Ausstellung und fragen aktiv danach, wie damit umgegangen werden soll.

Werden die Stimmen von Grönländer*innen in die Ausstellung einbezogen?

Absolut. Wir haben einen Raum eingerichtet, bei dem Grönländer*innen zu Wort kommen und über die Beziehung zu ihrer Kultur und ihrer «Indigenität» sprechen. Mir ist es sehr wichtig, dass wir nicht einfach für andere Gesellschaften sprechen.

Dieses Interview erschien zuerst bei der Berner Kulturagenda.