Ein rechteckiger Tisch, an dem musiziert wird. Das klingt zunächst nicht ungewöhnlich. Bei genauerem Hinsehen wird aber klar: Im Wirken der Komponistin und Klangkünstlerin Svetlana Maraš geht es nicht um etablierte Instrumente wie Geige, Gitarre oder Blockflöte. Denn für ihr Stück «Table book» hat die diesjährige Composerin in Residence des Musikfestivals Bern ein ganz eigenes Instrument entworfen. «Ich habe gemeinsam mit einem Schreiner Zeit in der Werkstatt verbracht, um das Instrument aufzubauen», erklärt Maraš. «Danach hatte ich es in meiner eigenen Werkstatt, um Materialien und Klänge zu suchen und einzubauen, mit denen man spielen kann.» Das seien nicht etwa hochwertige Materialien, sondern ganz praktische und billige Gegenstände aus dem Alltag. Das hat Maraš inspiriert: «Es folgt der Idee, dass man mit vorgefundenen Klängen etwas Neues schaffen kann.»

Die Faszination spiegelt sich wieder in Svetlana Maraš’ Konzept. Die Bauweise des Instruments und das Layout der Partitur hat sie bewusst so gestaltet, dass vier Personen an je einer Seite bequem spielen können. Die Leidenschaft fürs Detail zeigt sich in der Ausgestaltung des Instruments, das selbst eine Art Partitur darstellt. So etwa in der Anordnung des Tisches oder in den technischen Details, die sie dafür entwickeln musste. «All das verkörpert zugleich eine musikalische Struktur, die mit dem Instrument gespielt werden kann», so Maraš.
Neues mit Altem vereint
Das gemeinsame Musizieren rund um den Tisch baut auf einer alten Tradition auf. Besonders im 16. und 17. Jahrhundert – zwischen Renaissance und Frühbarock – galt das sogenannte Table Book in England als eine verbreitete Form des Musizierens. Dabei gibt es eine spezifische Art des Notendrucks, bei der die Stimmen eines Musikstücks so in einem Buch angeordnet sind, dass alle Musiker*innen um einen Tisch sitzend die jeweiligen Stimmen gleichzeitig ablesen können. Maraš selbst hat von dieser Art des Musizierens zufällig durch einen Freund erfahren, der Spezialist für Musik der Frühzeit ist. «Dieses Thema hat mich sofort nicht mehr losgelassen. Ich weiss nicht genau warum, aber seitdem habe ich mich weiter intensiv mit dieser Tradition beschäftigt.»
Da bereits so viele Klänge festgelegt und vorgeformt sind, habe ich als Komponistin genug Kontrolle über das Material. Gleichzeitig gebe ich den Aufführenden aber auch viel Freiheit. Genau das gefällt mir daran.
Damit war der Grundstein für Svetlana Maraš’ Neuinterpretation von «Table book» gelegt. Denn die Bedeutung dieses alten Rituals sei auch heute noch gegeben, so Maraš: «Diese alten Rituale heben etwas Wichtiges hervor: den Umstand, dass der eigentliche Zweck der Musik im Machen liegt. Und ich denke, die ‹Tischpartituren› unterstreichen genau diese Idee: Sie sind dafür gedacht, dass Menschen um einen Tisch sitzen und gemeinsam spielen.» Es geht also weniger darum, etwas für andere vorzuführen oder gar ein Ergebnis zu präsentieren. Der Akt des Spielens selbst genügt.
Experiment zwischen Kontrolle und Freiheit
Die elektronische Musikerin liebt das Experimentelle. So stellt sie auch mal gängige Konventionen auf den Kopf. Der ausgetüftelte Tonapparat kann zum Beispiel ohne seine Musiker*innen weiterspielen: «Die Spieler:innen können sich irgendwann vom Instrument entfernen, denn es spielt mechanisch weiter.» Ausserdem steckt das quadratische Werk voller unterschiedlichster Klänge, sodass man es immer wieder neu spielen kann – jede Aufführung ist in gewisser Weise anders. «Auch ich werde gemeinsam mit dem Publikum in Bern diese Version quasi zum ersten Mal hören», meint Maraš schmunzelnd.

Das bedeutet wiederum, volles Vertrauen in die Spieler:innen zu haben. Denn ob das Stück funktioniert, hängt stark von den Menschen ab, die es spielen. «Da bereits so viele Klänge festgelegt und vorgeformt sind, habe ich als Komponistin genug Kontrolle über das Material. Gleichzeitig gebe ich den Aufführenden aber auch viel Freiheit. Genau das gefällt mir daran», erklärt Maraš.
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Abhängigkeiten als kreative Kette
Das passt zu Maraš’ Persönlichkeit. Sie hinterfragt Konventionen und Rollen, deren Zusammenspiel und Abhängigkeiten. «Ich denke, selbst wenn wir ein Stück ganz allein schreiben oder aufführen, hängt unsere Arbeit zwangsläufig sehr stark von anderen Menschen ab», sagt Maraš.
Wir Musiker:innen sind darauf angewiesen, zu Festivals eingeladen zu werden oder dass unsere Stücke überhaupt Gehör finden. Wir sind vom Publikum abhängig.
Eine Verkettung von Umständen also, die sich ganz passend unter das diesjährige Leitthema «Kette» des Musikfestivals einordnen lässt. Maraš fasst zusammen: «Wir Musiker:innen sind darauf angewiesen, zu Festivals eingeladen zu werden oder dass unsere Stücke überhaupt Gehör finden. Wir sind vom Publikum abhängig. Wir sind von den Menschen abhängig, die organisieren, vermitteln, kuratieren. Und wir sind auch von all jenen abhängig, die vor uns waren: von denen wir gelernt haben, mit denen wir uns über praktische Fragen austauschen.»
Spielerisches Klanglabor beim Musikfestival Bern
Vom 3. bis 7. September 2025 interpretieren Künstler:innen die Kette in insgesamt 21 Produktionen neu. Ob als Forschungsreise zum Thema Angst in «Get well soon», als Auseinandersetzung mit den Grenzen von Mensch und Maschine in «Algorithms do dream» oder beim «Augmented Reality Orchestra», bei dem das Publikum mit ihren EKG-Daten, Herz- und Atemgeräuschen Musik macht.

Diese Höhepunkte des musikalischen Schaffens sind vielseitig und kreativ. Was sie jedoch alle verbindet, ist die Freude an der Musik. Das steht auch bei Svetlana Maraš’ «Table book» im Vordergrund. «Was in diesem Stück noch stärker hervortritt, ist eine gewisse Verspieltheit. Die Musiker*innen können den Spass an dieser Art des Austauschs miteinander teilen», so Maraš. Dabei wirkt der Tisch manchmal wie eine Art Flipperautomat: mit den LED-Lichtern und den sogenannten Solenoids, den Spulen aus Draht, die aufgrund eines Magnetfelds mechanische Bewegungen auslösen. Das Ganze hat etwas Spielerisches, ja fast Spielerisch-Lustiges.
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