«Alle versprechen das Gelbe vom Ei»

von Lukas Blatter 4. April 2014

Letzten Sonntag waren kantonale Wahlen. Den Sprung in den Grossen Rat schaffte die noch eher unbekannte Stadtberner SP-Politikerin Meret Schindler. Journal B hat die Pflegefachfrau und Mutter zum Interview getroffen.

Meret Schindler, Sie sind letzten Sonntag überraschenderweise in den Grossen Rat gewählt worden. Haben Sie Ihren Wahlsieg erwartet?

Nein, ich habe das Resultat so nicht erwartet. Ich war total überrascht und überwältigt vom Resultat. Noch bevor ich selbst davon erfuhr, kam auf dem Weg an das Wahlfest der SP jemand auf mich zu und teilte mir den Wahlausgang mit. Für mich war klar, dass Nicola von Greyerz gewählt wird. Tamara Funiciello von der Juso Stadt Bern war eigentlich meine Favoritin, dass ich selber gewählt werde, habe ich nicht erwartet. Ich sah mich stattdessen eher im besseren Mittelfeld auf der «SP-Frauen» Liste.

Warum glauben Sie, sind Sie gewählt worden?

Ich hatte viele tolle Leute um mich, die stets mit frischen Ideen an mich herangetreten sind. Ich war auf unzähligen Flyer zu sehen und auch im Wahlkampf auf der Strasse sehr aktiv. Meinem sehr präsenten Wahlkampf und der tollen Unterstützung von Freunden und Kollegen ist das Ergebnis zu verdanken.

Auch auf der Arbeit kommt man mir entgegen. Ich hatte kürzlich mit meiner Vorgesetzten gesprochen, die mir bereitwillig ein reduziertes Pensum anbieten wollte. Sie zeigte sich also damit einverstanden, mein politisches Mandat mitzutragen. Auch meine Arbeitskollegen waren erfreut, ich habe durchwegs positive Rückmeldungen erhalten. Mein Partner ist sehr stolz auf mich.

Haben Sie sich in der Rolle als Grossrätin bereits eingefunden?

Das braucht sicher seine Zeit. Aber ich bin aufgestellt und motiviert, mich auf mein Mandat genügend vorzubereiten. Der Wahlkampf ist nun endlich vorbei, die Erleichterung ob dem Wahlsieg ist selbstverständlich da. Darauf will ich mich aber nicht ausruhen. Ich geniesse nun noch etwas die Zeit vor der ersten Session, denn dort werde ich bestimmt genug zu tun haben.

Was wollen Sie im Grossen Rat anpacken?

Mir ist es wichtig, dass es für alle möglich ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Ebenso zentral ist für mich die Gesundheitspolitik, gerade auch durch meinen beruflichen Hintergrund, und natürlich die Bildungspolitik, die eine Schule für Alle ermöglicht, egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft und welcher Fähigkeiten.

Was wäre eine konkrete Forderung, die Sie ins Auge fassen?

Es muss sowohl für Männer wie für Frauen einfacher werden, Teilzeit zu arbeiten. Im Kanton Bern existiert ja die Auflage, dass ein Mittagstisch nur dann zustandekommen muss, wenn mindestens 10 Kinder angemeldet werden.
So gibt es Leute, die nicht Arbeiten gehen können, weil für die Kinder über den Mittag nicht gesorgt ist. Firmen, die auch Teilzeitstellen zulassen, sollten belohnt werden, sodass die Eltern etwas von ihren Kindern haben und die Kinder auch von ihren Eltern.

Der Kanton ist ja zurzeit finanziell ziemlich arg angeschlagen und Sie kommen mit einer solchen Forderung. Sollten Sie diese nicht vorerst zur Seite legen und sich mit der Stabilisierung der Kantonskasse auseinandersetzen?

Nein. Es liesse sich ja auch eine Lösung finden, die die Kantonsfinanzen nicht weiter belastet.

An was für eine Lösung denken Sie da denn?

Eine Pflichtsteuer wäre ein möglicher Ansatz, der die Betreuung von Kindern während der Arbeitszeit ermöglicht. Firmen, die ihren Arbeitnehmenden keine kinderkonforme Arbeitszeiten anbieten, zahlen in einen kantonalen Fonds Gelder ein. Unternehmungen, die sich für die Vereinbarung von Beruf und Familie einsetzen, erhalten Fördergelder. Ein einfaches Bonus-Malus-System also. Und mit dem überschüssigen Geld im Fonds lassen sich weitere Tagesschulen finanzieren. Wir brauchen aber auch eine gute Altenpflege mit verschiedensten Plätzen.

«Man darf den Bürgerlichen im Grossen Rat nicht das Feld überlassen.»

Meret Schindler

Zurzeit sind die Frauen das Rückgrat der Betreuungsarbeit. Zuerst schauen sie zu den Kindern, dann zu den Eltern und sind sie einmal pensioniert, haben sie bloss noch die AHV und keine Pensionskassengelder einbezahlt, da sie zuwenig gearbeitet hatten. Das ist leider noch immer häufig eine Realität. Meiner Meinung nach verdienen wir alle ein schönes Alter.

Der Grosse Rat ist bürgerlich dominiert. Schreckt Sie das nicht ab?

Gerade eben, weil es ein bürgerliches Parlament ist, darf man den Bürgerlichen nicht das Feld überlassen. Es war in letzter Zeit sicherlich nicht sehr lustig für linke Politikerinnen und Politiker, in diesem Parlament mitzuarbeiten. Ich bin jedoch guter Dinge, dass ich im Grosssen Rat etwas verändern kann, gerade auch durch die Mitarbeit in Kommissionen.

Die Wahlbeteiligung bei den Grossrats- und Regierungsratswahlen liegt gesamtkantonal knapp bei einem Drittel, in der Stadt leicht höher. Ist das Wahlergebnis somit nicht eine Farce, wenn man von so wenigen Wählenden in ein Amt gewählt wird?

Bereits jene, die Wählen dürfen, sind nur ein Teil der Bevölkerung. Kinder, Leute mit einer psychischen oder geistigen Behinderung und Personen ohne Schweizerpass dürfen ja nicht wählen gehen. Umso schlimmer ist es, dass von jenen, denen das Recht zu Wählen zusteht, nur wenige die Möglichkeit auch ergreifen. Das finde ich sehr schade und versuche stets, die Leute zu mobilisieren.

Scheinbar hat die Mobilisierung nicht gewirkt. Die SP Stadt Bern hat bei diesen Wahlen 1,8 Prozent Verlust eingefahren. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Viele meiner Kollegen antworteten mir auf die Frage, ob sie wählen gegangen seien, mit einem ehrlichen Nein. Ich kann hier nur Vermutungen anstellen, weswegen so wenige ihre Stimmen abgeben wollten. Für einige ist es wohl zu kompliziert.

Und alle versprechen dir gleichermassen das Gelbe vom Ei. Von links bis rechts steht bei allen «grün» und «sozial». Wer sich nicht kontinuierlich mit der Politik beschäftigt, kann sich gar kein Bild machen, wer nun recht hat und wer nicht, wer entsprechend handelt und wer sich einfach ein Etikett angeheftet hat. Viele sind auch frustriert oder haben sich über die Exekutivpolitiker aufgeregt.

Apropos Exekutivmitglieder: Jene der SP politisieren ja auch oft nicht so sehr auf der Parteilinie. Andreas Rickenbacher beispielsweise erklärte einst, dass er nicht Politik nach dem Parteibüchlein machen wolle. Wo bleibt da der gemeinsame Nenner?

Selbstverständlich kann man sich über die Madatärinnen und Mandatäre der SP beispielsweise im Regierungsrat aufregen. Doch man kann sich auch selber zu Wahl aufstellen lassen und es besser machen.
Die SP hat ein sehr breites Profil. Es gibt verschiedene Meinung und Positionen, einige sind ziemlich links, andere sind zum Teil auch etwas konservativ. Aber uns allen liegt das Soziale am Herzen.

Wenn wir von der sozialen Ader der SP sprechen, liegt es ja nicht fern zu erwähnen, dass Sie als Beruf Pflegefachfrau sind. In diesem Bereich hat der Grosse Rat im November letzten Jahres Einsparungen beschlossen. Was halten Sie von diesen Sparmassnahmen?

Das Sparen in diesen Bereichen wäre nicht nötig gewesen. Ich finde nicht, dass hätte gespart werden müssen, besser wären die Steuern erhöht worden. Es ist klar, dass irgendwo gespart werden musste, aber es wurden Organisationen und Personen gegeneinander ausgespielt.

Schliesslich hatten die Behindertenorganisationen eine genügend grosse Lobby und die Psychiatrie nicht, weshalb schliesslich dort gespart wurde. Das ist nicht zuletzt auch dem heuchlerischen Verhalten der SVP zu verdanken, die zwar die Hilfeschreie der Behindertenorganisationen hören wollte, der Psychiatrie und die Spitex hingegen kein Ohr schenkte.

Ebenso sind die SKOS-Richtlinien im Kanton Bern für ungültig erklärt worden. Das mit der Begründung, dass es unhaltbar sei, wenn Sozialhilfebezügerinnen und Sozialhilfebezüger mehr verdienen als Arbeitende. Verstehen Sie diese Argumentation?

Die SKOS-Richtlinien existieren ja nicht, damit es Sozialhilfebezügerinnen und Sozialhilfebezügern super geht, sondern um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dass die Sozialhilfe höher ausfallen kann als das Verdienst in einem Beruf, liegt an den heutzutage ausbezahlen Dumpinglöhne.

Um mit ihrer Arbeit über die Runden zu kommen, müssen daher viele zusätzlich Sozialhilfe beziehen. Genau darum setzte ich mich für den Mindestlohn ein, diesen braucht es dringender denn je. Auch mit dem Mindestlohn erhält man, den 13. Monat in die Rechnung miteinbezogen, nur 3’700 Franken pro Monat, muss dann als Familie aber nicht gleich bei jedem Arztbesuch auf die «Soziale» gehen.
Zurzeit tragen wir Steuerzahlenden die Kosten, welche Arbeitgebende nicht bereit sind auszuzahlen. Das stete Lohndumping ist schlimm.

Sie leben seit Ihrer Geburt in der Stadt Bern. Ist Ihr Wohnort genügend vertreten im Grossen Rat?

Rein prozentual ist die Stadt mit genügend Sitzen vertreten. Die Interessen sind es allerdings nicht. Es gibt einige Leute aus dieser Stadt, die gegen diese politisieren.
Es ist ja nachvollziehbar, dass alle Regionen ihre Interessen haben und diese auch vertreten. Aber Sparmassnahmen bei Tramlinien in wichtige Quartiere Berns wie Bümpliz, die von Stadtpolitikern vorgeschlagen werden, sind schade. Sich im Kanton profilieren zu wollen und gleichzeitig den Ast abzusägen, auf welchem man sitzt, ist nicht meine Art zu politisieren.