Zeitkritisch

von Gerhard Meister 12. November 2014

Der Kapitalismus, seit einem Vierteljahrhundert konkurrenzloses Modell des Wirtschaftens, beherrscht zwar den ganzen Globus, hat seinen Eroberungszug aber noch längst nicht abgeschlossen.

Er besetzt unsere einst arbeitsfreien Wochenenden. Er macht aus unseren Daten eine Handelsware. Er vertreibt den Schlaf aus unserem Leben, um Platz zu schaffen für noch mehr Arbeit und Konsum.

Die Amerikaner, so las ich vor einigen Tagen in der Zeitung, schlafen heute anderthalb Stunden weniger als noch vor ein paar Jahrzehnten.

Könnte man jetzt sagen, dass ich hier gerade zu einer zeitkritischen Kolumne ansetze?

Ja, so könnte man das nennen, hatte ich bis vor kurzem gedacht. Nun hat mich ich ein harmloses Gespräch mit einer Nachbarin gelehrt, dass sich der Kapitalismus das Wort „zeitkritisch“ geschnappt, seinen Sinn komplett ausgehöhlt und in sein marktkonformes Gegenteil verwandelt hat.

Ja, sagte die Nachbarin nämlich auf meine Frage, ob sie zur Arbeit fahre (wir trafen uns im Bus), sie arbeite in einer IT-Firma, nur Teilzeit, der Kinder wegen, aber es gehe gut, die Abteilung, in der sie arbeite, sei nicht zeitkritisch.

Verblüfftes Gegenfragen meinerseits, bis ich begriff. Sie gebrauchte das Wort in einem mir bisher nicht bekannten Sinn. In einem Sinn, den der Kapitalismus dem Wort aufoktroyiert hat: Zeitkritisch, das heisst heute nicht mehr gegen die Zeit oder zumindest der Zeit gegenüber kritisch eingestellt, sondern eben das Gegenteil. Möglichst angepasst an diese Zeit und also möglichst schnell und ohne Verzug produziert und geliefert, damit die Ware nicht verdirbt, damit der Konkurrent nicht schneller ist.

Gierig nach Futter für meinen Ekel am Hier und Jetzt, wie Heiner Müller das in einem Gedicht einst genannt hat, fand ich auf dem Netz folgende Verwendungen des Wortes „zeitkritisch“: zeitkritische Geschäftsprozesse – zeitkritische Ersatzteillogistik – Software in einem zeitkritischen Umfeld realisieren – oder in einem ganzen Satz: Terminmanagement beinhaltet sodann die Optimierung von Planungs- und Bauabläufen, die Feststellung von zeitkritischen Aktivitäten und von Pufferzeiten.

Und wo ich grad am Zitieren bin, zum Abschluss noch ein Ausschnitt aus dem Wikipedia-Artikel zum Begriff „Neusprech“, wie ihn George Orwell in seinem Roman 1984 verwendet:

„Neusprech“ bezeichnet die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken. Damit sollen sogenannte Gedankenverbrechen unmöglich werden. Durch die neue Sprache bzw. Sprachregelung soll die Bevölkerung so manipuliert werden, dass sie nicht einmal an Aufstand denken kann, weil ihr die Wörter dazu fehlen.