Mir war in den Monaten vor der WM bewusst, dass mich das Fieber irgendwann packen wird. Ich verspürte keine Vorfreude, dachte sogar darüber nach, das Turnier zu boykottieren, wie viele andere. Das lag zum einen am Zeitpunkt – eine WM im Winter fühlt sich falsch an – zum anderen am Fakt, dass das Austragungsland ein ausbeuterisches, queerfeindliches, erdgasförderndes Land ist.
Doch ich wusste, dass ein kompletter Boykott unrealistisch und irgendwie heuchlerisch wäre. Ich habe sowohl die WM wie auch die Winterspiele in Russland geschaut, mein Lieblingsklub in der Premier League spielt im «Emirates Stadium» und die Champions League habe ich trotz des jahrelangen Hauptsponsors Gazprom immer verfolgt. Warum also plötzlich so tun, als könnte ich den Fussball deswegen nicht mehr geniessen.
Am Mittwochnachmittag ist es dann passiert. Deutschland bestritt das erste Gruppenspiel und ich fühlte mich wieder wie damals, 2010 als ich im weissen Trikot durch das halbe Städtchen lief, um bei meinem besten Freund die Spiele der DFB-Auswahl zu schauen.
Die Begeisterung, die ich damals für diese Mannschaft empfand, kam also beim Anstoss Deutschland-Japan wieder hoch. Wie bei jedem grossen Turnier. Und ja, trotz des 1-2 werde ich mir alle Spiele der Mannschaft anschauen, wie auch alle Spiele der Schweizer und vermutlich werde ich für die Dauer der WM mein Herz an ein Underdog-Team verlieren. Wie an jedem grossen Turnier.
Die FIFA zeigt einmal mehr, dass die Werte, mit denen sich der moderne Profimännerfussball gerne schmückt, leeres PR-Geschwätz sind.
Und doch ist diese WM nicht wie jedes andere grosse Turnier. Das Augenmerk ist zurecht auf die Arbeitsbedingungen beim Bau der Stadien, die Lage von Frauen, der LGBTQI+-Community und Gastarbeiter*innen in Katar sowie auf die ökologische Absurdität dieses Turniers gerichtet. Die FIFA zeigt einmal mehr, dass die Werte, mit denen sich der moderne Profimännerfussball gerne schmückt, leeres PR-Geschwätz sind. Das ist zwar nicht neu, aber diesmal unverschämt offensichtlich.
Ich kann das alles freilich nicht einfach ausschalten beim Fussball schauen. Das will ich auch nicht und habe ich bereits zuvor nie gemacht. Die Wut über manche Entwicklungen im modernen Fussball, über die kommerzielle Ausschlachtung sportlicher Grossereignisse und über das nationalistische Getue war immer Teil meines Fussballerlebnisses.
Diese Wut ist dieses Jahr bedeutend grösser. Zu Recht, wie ich finde. Doch mich macht etwas wütend, mit dem ich vor der WM nicht gerechnet hätte. Ich hatte und habe grosses Verständnis für alle, die das Turnier strikt boykottieren wollen. Ich bewundere diese Willenskraft. Und doch regt mich die Performativität dieses Aktes ungeheuerlich auf.
Diesen Kataris und dem ungebildeten, apolitischen Fussballpöbel haben wir es aber gezeigt
Fernsehmoderator*innen tragen Shirts mit Regenbogenaufdruck oder die von der FIFA «verbotene» One-Love-Captainbinde (die ohnehin schon mehr als ein Kompromiss darstellte) und werden dafür als mutige Widerstandskämpfer*innen gefeiert. Bravo tutti! Menschen, die sich den Rest des Jahres wohl für Fussball genauso wenig interessieren, wie für LGBTQI+-Rechte klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, im Wissen, durch ihren Boykott zu den Guten zu gehören. «Diesen Kataris und dem ungebildeten, apolitischen Fussballpöbel haben wir es aber gezeigt», stimmen sie in den klassistischen und rassistischen Chor der kleinbürgerlichen Selbstbeweihräucherung ein.
Es ist gut, diesen Anlass zu nutzen, um auf Probleme und Missstände hinzuweisen. Sportler*innen und Medien sollen diese Bühne nutzen, um ein Zeichen zu setzen und ja, das darf meinetwegen performativ sein. Nur soll das nicht Anlass bieten, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn er nicht mindestens genauso auf sich selbst gerichtet ist.
Warum sind geoutete aktive Spieler im Fussball noch immer eine Seltenheit? Wie sehen die Arbeitsbedingungen bei unseren Ausrüstern aus? Wie demokratisch und gerecht sind unsere Vereins- und Verbandsstrukturen? Wie viel wird bei uns in Frauenfussball investiert? Diesen Fragen könnten sich die Teams und Verbände endlich stellen, wenn sie die von ihnen propagierten Werte wirklich leben wollen.
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Statt der unsäglichen One-Love-Binde hätte es mich wirklich berührt, wenn auch nur eine der Mannschaften mit Trauerbinden in Gedenken an die Opfer von Colorado Springs aufgelaufen wäre. Ich würde all den Menschen ihr Engagement viel eher glauben, wenn sie sich der hasserfüllten Rhetorik gegen trans und nonbinäre Personen, die solche Angriffe begünstigt, im Alltag entgegenstellen würden.
Lasst uns über Gleichstellung, LQBTQI+-Rechte, Arbeitsbedingungen, Ökologie und Demokratie sprechen! Ganz ernsthaft und ohne den Drang, sich stetig gegenseitig vergewissern zu müssen, zu den Guten zu gehören. Lasst uns widerständig und mutig sein! Ganz ernsthaft und jenseits von Konsumentscheidungen. Das ist anstrengend, ich weiss. Wir können zum Entspannen ja ein Fussballspiel gucken.