Schon ist es wieder eine ganze Weile her, dass ich an dieser Stelle die Gurkenprobleme erwähnte, die ich in meinem Pflanzblätz hier in den Spanischen Bergen zu konfrontieren hatte. Was ich damals nicht erwähnte, ist die Tatsache, dass ich gleich neben den in diesem Jahr aus naheliegenden Gründen sehr spät gepflanzten Gurken ein rundes Salatbeet angelegt hatte, und zwar ohne mir dabei viel zu überlegen. Bald führte um dieses inzwischen längst abgeerntete Beet aber ein fest ausgetretener Pfad, denn ausser den Problemen mit den Gurken, galt es auch den Zustand der Welt im Allgemeinen und denjenigen der Spanischen Politik im Besonderen zu konfrontieren. In der mich dabei immer neu befallenden Hilflosigkeit hatte ich begonnen, verloren in meinen Gedanken, wie ein Esel am Göpel, endlose Runden um dieses Beet zu drehen. Auch stellte ich bald einmal fest, dass ich immer öfter Zeitungsartikel nicht mehr von Anfang an oder nicht wirklich zu Ende las. Mein Interesse und meine Neugier erlahmten. Dabei hätte ich in meiner mittlerweile gar nicht mehr so freiwilligen Selbstisolation sehr wohl Zeit und Musse gehabt, mich mit den Purzelbäumen auseinanderzusetzen, die das Tagesgeschehen in Madrid und Barcelona und im Rest des Landes unablässig schlug, um beispielsweise hier in diesem Blog darüber zu berichten.
Aber das ewige Gezänke, die peinlichen Auftritte , die verlogenen Drohungen, überhaupt die überholte spanische Rhetorik der Rechten gegen die Linken und der Linken gegen die Rechten, die so nichts zu tun hat mit der Suche nach Lösungen für die wirklichen Probleme. Es war nicht nur fürchterlich, es schien sich alles endlos zu wiederholen und um sich selbst zu drehen. Dazu kam, dass ich mich bei einer ganzen Reihe von Politikern und Politikerinnen immer wieder fragte, um Gottes Willen, wo kommen die her? Wie kommen die dorthin, wo sie sind? Wer hat die nur gewählt? Kein Wunder, dass die Kolumnen von namhaften Autoren und Autorinnen, die ich seit Jahren in El Pais und in La Vanguardialese, nur so strotzen von Exkursen über Scham und Fremdscham, über verpasste Chancen, über moralische Katastrophen und über eine sehr düstere Vision für die Zukunft dieses stolzen Landes Spanien. In meiner zeitweisen Abkehr von der Aktualität habe ich aber eine literarische Entdeckung gemacht, über die ich unbedingt berichten muss.
Per Zufall, einfach so, habe ich auf SRF eine Lesung gehört, die mich auf der Stelle in Beschlag nahm. Lesen tat Hanspeter Müller-Drossart und ich muss zugeben, anfänglich befürchtete ich, weil dies so oft geschieht, er würde sich vielleicht mit seiner Vorlesekunst vor den Text schieben. Ich hatte mich aber gründlich geirrt. Selbst auch Autor, muss Müller-Drossart sofort geschnallt haben, dass der Text in seinen Händen keine Interpretation und schon gar keinen eitlen Schabernack benötigte. Diese Sätze stimmen und klingen, und zwar so überzeugend, dass man sie einfach vorlesen kann und das tat er meisterlich gekonnt, indem er seine Stimme immer mehr mit dem Gelesenen verschmelzen liess und er als Interpret eigentlich verschwand. Ein grösseres Kompliment kann man einem Schauspieler beim Vorlesen wohl kaum machen.
Und das Buch? Es heisst Bayass und der Autor ist Flavio Steimann. Es ist eines jener Bücher, bei denen man sich sofort fragt, wo hat der Autor diese Geschichte bloss her, denn die ist so wahr, so nah, dass sie unmöglich erfunden werden konnte. Hätten diese Leute nicht gelebt, könnte er unmöglich so viel über sie wissen, denn eine solche Fülle an stimmigen, historisch überzeugenden Details gäbe kein Archiv der Welt her und nicht mal in 1000 Stunden liessen sie sich recherchieren. Man denkt sogar, der muss das alles miterlebt haben, obschon das zeitlich gar nicht möglich wäre. Und es wäre absurd, hier die Geschichte nachzuerzählen und zu behaupten, dieses Buch sei gut geschrieben. Das wäre ebenso unsinnig wie die «Suite Vollard» von Picasso zu beschreiben und zu behaupten, sie sei gut gezeichnet. Dieses Buch ist genau so geschrieben, wie es seine innere Natur und seine eigenen Gesetze verlangen, nämlich auf seine ganz eigene und einzig mögliche Art. Wollte man dennoch die Qualität seiner Prosa fassbar machen, müsste man diese mit einem sehr edlen Wein vergleichen, bei dem man zweifelsfrei spüren kann, dass seine tief verwurzelten Elemente ineinandergreifen und sich so vorteilhaft zu einem runden Ganzen formen, dass man sich etwas Bekömmlicheres gar nicht vorstellen kann. Der Rest ist Kunst.
Und was hat Margaret Bourke-White damit zu tun? Man vergisst gegenwärtig so leicht, wie viel Bewundernswertes an Kultur und Kunst aus den Vereinigten Staaten kam und kommt. Und Margaret Bourke-White war entschieden eine grosse Fotografin, die als Reporterin der US-Army mit den ersten Fotos eines befreiten Konzentrationslagers über Nacht weltberühmt wurde, der wir aber auch sehr witzige Bilder der Freiheitsstatue zu verdanken haben. Und genau dahin führt die Geschichte von Steimann, die nachzuerzählen sich hier völlig erübrigt. Erwähnt sei lediglich eine Überfahrt auf dem Immigrantenschiff «Liberté», die so einfühlsam und genau dargestellt wird, dass man als Hörer bei einem Sturm einmal beinahe selbst ein komisches Gefühl in der Magengegend zu bemerken vermeint. Und übrigens: Auf diesem Schiff soll es auch Leute gegeben haben, die glaubten, bei der Freiheitsstatue handle es sich um eine übergrosse Darstellung der Jungfrau Maria. Auch so kann man sich irren in Amerika.