Weiter geht es mit José Manuel Ballester

von Beat Sterchi 25. November 2020
Nach meinem vorangegangen Beitrag, in welchem ich unter anderem meine Hilflosigkeit gegenüber der Spanischen Politik beklagte, erreicht mich doch tatsächlich die vorwurfsvolle Reaktion einer geschätzten Kollegin.
Die Kollegin schreibt, sie könne meine Haltung als Person zwar verstehen, aber als Schreibende hätten wir auch die Pflicht, uns der Gegenwart zu stellen und «erlahmtes Interesse» finde sie eine verantwortungslose Ausrede, die sie nicht gelten lassen könne.  Umso mehr, als sie Spanien überhaupt nicht kenne und sehr gerne gelesen hätte, was dort gerade passiert.
Was bleibt mir also anders übrig, als vor meiner Rückreise nach Bern noch einmal zur Feder zu greifen?
Sicher ist, auch in Spanien kommen und gehen die Zugvögel wie eh und je, aber die Geier fliegen tief und während hier im Dorf die Steinböcke ihr Unwesen auf die Spitze treiben, wird das Land, das letztes Jahr noch mehr Touristen willkommen hiess, als es Einwohner und Einwohnerinnen hat, gerade ziemlich erhudelt.
Völlig unverändert ist der freundliche, sogar herzliche  Umgang der Menschen. Beim Einkaufen wird man auch in diesen Krisenzeiten mit typisch spanischer Liebenswürdigkeit bedient; es wird auch weiter viel gelacht und viel geredet, bloss in der U-Bahn von Barcelona soll es still geworden sein. Dort werden die Passagiere angeblich über Lautsprecher aufgefordert, wegen der  Ansteckungsgefahr in den vollbesetzen Zügen zu schweigen.
Wenn auch nicht im öffentlichen Verkehr, wird dagegen weiterhin endlos viel über Fussball geredet. Und zwar mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie eh und je und auch noch immer mit jener vermeintlichen Objektivität, mit welcher die Experten jedes  Resultat erklären zu können meinen, als hätten sie es vorausgesehen. Nichts ist in Spanien derart unter Kontrolle wie der Fussball und bei Länderspielen am Fernsehen, wie eben zweimal gegen die Schweiz, schrecken die Kommentatoren weiterhin nicht eine Sekunde vor dem Wörtchen «wir» zurück. Ebenso hemmungslos wie ironiefrei sagen sie:  «Wir spielen überlegen» «Wir dürfen dieses Spiel jetzt nicht aus der Hand geben» oder «Wir haben verdient gewonnen, weil wir besser waren!» Und dies alles einfach so, ohne Sternchen und nix. Am Radio wird dagegen oft und gerne über die offensichtlich lebensnotwendigen und anscheinend von allen normalen Menschen konsumierten Serien geredet, denn vor allem wenn es um deren Privatleben geht, wird von den Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen, als wären sie jedermanns bestvertraute Freunde und Bekannte. Und überhaupt nicht selbstverständlich: Nach wie vor fliesst der Strom recht zuverlässig aus den Steckdosen, dort wo es Zugang gibt, funktioniert das Internet und weiter wird täglich in schweren, orangeroten Behältern das Gas angeliefert, mit welchem man kocht und vielerorts auch heizt.
 
Knapp ist dagegen noch immer das Wasser. Die Versteppung schreitet entsprechend voran und vielerorts geht sie Hand in Hand mit der Entvölkerung weiter Gebiete des Landes. Kaum befahrene Strassen verbinden die nur noch spärlich bewohnten legendären Spanischen Dörfer, während die Städte wuchern und wachsen. Dort gibt es in den Kirchen weiterhin zahllose Menschen, die vor ihren verehrten Heiligen niederknien und beten. Niemand beklagt sich hier über schlecht besuchte Gottesdienste. Anders verhält es sich mit der ebenso legendären wie populären  spanischen Bar, eigentlich einer Mischung zwischen Beiz, Café, Schnellrestaurant, Kiosk und Spielsalon, von welchen es in Spanien mehr geben soll als im übrigen Europa insgesamt. Sie werden unterschiedlich gemieden und auch von den Behörden je nach Region unterschiedlich in ihrer Funktion eingeschränkt. Bis Ende des Jahres werden Tausende ihre Türen nie mehr öffnen.
 
Von der Pandemie relativ unbeeinträchtigt, scheint sich der Drogenhandel zu halten, wenn auch nicht ohne Zwischenfälle. Frühmorgens am ersten Oktober soll eine Drohne mit 4 kg Haschisch an Bord in Ceuta abgestürzt sein und ein Kurier, der von Marokko her die Grenze zu dieser Spanischen Exklave auf afrikanischem Boden schwimmend zu überwinden versuchte, hat sich mit 30 kg am Leib der gleichen Substanz offensichtlich derart überladen, dass er ohne die Hilfe der marokkanische Marine ertrunken wäre. Undurchsichtig ist die Rolle der gleichen Marine bei dem Ansturm der Flüchtlinge auf die kanarischen Inseln, von welchen man gerne vergisst, wie weit südlich und wie nahe vom Festland diese sich befinden. Bei der Bewältigung dieser durch Corona verschärften neuen Flüchtlingswelle ist der Spanische Staat offensichtlich einmal mehr überfordert. Für Schlagzeilen sorgen vor allem die Quarantäne in improvisierten Zeltlagern, wenn auch moniert wird, hinter dem Versagen bei der Versorgung der Ankömmlinge stecke möglicherweise die Absicht, abzuschrecken. In den Zeitungen schreiben übrigens auch hier sehr fleissig nordamerikanische Professoren und Professorinnen bestes bekannter Universitäten lange Artikel mit relativ wenig überraschendem Inhalt und in den hier ebenfalls sehr beliebten Interviews mit italienischen Philosophen, zeigt sich vor allem, dass es noch immer viele Zeitungsleute gibt, die noch nicht gelernt haben, dass eine Frage nur dann eine Frage ist, wenn sie kurz ist.
 
Viel geschrieben wird gegenwärtig auch über die vielen Konzessionen, welche die Regierung machen muss, um sich an der Macht zu halten. Sehr umstritten ist dabei eine Schulreform, die sprachpolitisch den katalanischen Separatisten entgegenkommt, auf deren Stimmen Präsident Sanchez paradoxerweise angewiesen ist. Und im Baskenland, wo ehemalige Mitglieder der ETA, wenn sie ihre Strafen abgesessen haben, bei der Freilassung weiter als Helden gefeiert werden, ist es die ultra-nationalistische Partei BILDU, welche bei der anstehenden Abstimmung über das Budget der Regierung notwendige Stimmen zusichert. Undurchsichtig ist, zu welchem Preis diese Unterstützung gekauft wurde. Für die Generationen, welche den ETA-Terror mit seinen über 800 Todesopfern miterlebt haben, sind die neusten Hafterleichterungen offenbar nicht nachvollziehbar. Seit Jahren beklagen die Angehörigen die langen Reisen beim Besuchen der mit Absicht über ganz Spanien verteilten Inhaftierten, worauf die  Angehörigen der Opfer antworten, sie würden gerne eine achtstündige Busfahrt auf sich nehmen, wenn sie damit ihre toten Väter und Mütter oder Kinder besuchen könnten.
 
Für viele Spanier und Spanierinnen ist es ebenso unverständlich, warum gerade jetzt in diesen schwierigen Zeiten über die Monarchie in Frage gestellt werden muss. Als Aussenstehender könnte man tatsächlich den Eindruck bekommen, bei dem amtierenden König handle es sich um einen Despoten. Und insgesamt hat man als Aussenseiter immer mal wieder den Eindruck, alles was in der Politik passiere, sei gar nicht wahr und die zum Teil sehr unerfahrenen Politiker und Politikerinnen seien lediglich am üben, denn wie sonst würden sie in einer Zeit, in welcher immer mehr Leute gegen die Verarmung kämpfen, sich selbst und den Staatsangestellten allgemein Lohnerhöhungen gewähren?
Und was hat José Manuel Ballester damit zu tun?
Wer kennt nicht die aufgeräumten Bilder von Ursus Wehrli? Ballester macht auch Ordnung, aber indem er die Bilder ausräumt. Er entfernt die menschlichen Figuren aus Klassikern. Zurück bleib anstatt Las Meninas ein leerer Königspalast, ein Abendmahl ohne Gäste, leere Landschaften, leere Wälder, leere Strassen, was alles sehr gut passt in diese Zeit. Fehlt bloss noch das Bild einer leeren Kasse.