Dort bin ich vorgestern ungefähr auf der Höhe des Kinderbuchladens einer Bekannten begegnet, die mich, nachdem wir uns gegenseitig noch ein spätes «Guets Nöis» gewünscht hatten, freundlich nach meinen Neujahrsvorsätzen fragte. Ich dachte auf der Stelle an ein Kalenderblatt, das ich seit ein paar Tagen zusammengefaltet in meinem Notizbuch aufbewahrte, sagte aber scherzhaft, ich wolle im neuen Jahr täglich zweimal die Aare überqueren und mindestens einmal die Berge sehen. Meine Bekannte lachte, fand meine Vorsätze bescheiden und sagte, sie hätte sich mehr vorgenommen. Sie wolle nichts mehr bei Amazon bestellen. Es könne ja nicht sein, sagte sie, dass ein einzelner Mensch reicher und mächtiger werde als Louis IV und der Zar von Russland zusammen und sie mache sich auch noch schuldig, zu diesem Verhältnisblödsinn beizutragen. Natürlich dachte ich da wieder an das Kalenderblatt in meinem Notizbuch. Es enthält den Konfuzius zugeschriebenen Spruch, dass der Baum der guten Vorsätze zwar reichlich Blüten, aber selten Früchte trage.
Ich dachte aber auch an ein Schaufenster, etwas weiter oben an der Gerechtigkeitsgasse, eigentlich gleich hier um die Ecke im Antoniergässchen. Dort wird in grossen Buchstaben die Frage gestellt: Was ist wirklich wichtig?
Der Laden verkauft zwar sehr edle Betten und nicht die Wahrheit, aber weil ich unfähig bin, im öffentlichen Raum stehende Schriftzeichen nicht zu lesen, werde ich dort täglich mindestens einmal aufgefordert, mich zu fragen, was wirklich wichtig ist.
Was ist wirklich wichtig?
Seit ein paar Tagen geht mir diese Frage aus einem sehr traurigen Anlass gar nicht mehr aus dem Kopf.
Letzte Woche ist völlig unsinnig und völlig ungerecht Laurence Boissier, unsere liebe Kollegin aus Genf gestorben und ich kann gar nicht mehr aufhören, mich zu fragen, was wirklich wichtig ist.
Was ist wichtig in Anbetracht des Todes?
Mit Laurence bin ich im Rahmen von Bern ist überall öfters auf der Bühne gestanden und nie, nie habe ich bedacht, dass sie plötzlich einfach nicht mehr da sein könnte. Als sie vor ein paar Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, war ich überzeugt gewesen, den Anfang einer grossen Karriere einer ganz grossen Autorin mitzuerleben und hatte meiner Bewunderung genau hier in diesem Blog auch Ausdruck gegeben.
Und dann stirbt sie. Einfach so.
Viel zu jung. Viel zu schnell.
Was ist wirklich wichtig?
Wenn man die Gruppe Bern ist überall buchen will, gibt es die Auflage, dass unter den drei jeweils mit einem Musiker oder mit der Musikerin Maru Rieben lesenden Kollegen und Kolleginnen, immer auch eine Stimme aus der Romandie dabei sein muss. Besonders östlich von Bern wehrten sich Veranstalter oft, wenn auch vergebens, gegen diese Regel. Wenn aber Laurence dann ans Mikrophon trat, waren nach wenigen Worten alle Vorbehalte vergessen. Ihre verschmitzte Ernsthaftigkeit und ihre zurückhaltende Selbstsicherheit reichten, um auch das ostschweizerischste Publikum für sich einzunehmen. Sie versprühte zwischen den Zeilen so viel Schalk, so viel Lust an der Sprache und so viel Ironie und Charme, dass auch noch bescheidene Französischkenntnisse ausreichten, um ihren Witz zu verstehen und an ihren Texten Gefallen zu finden. Ihr Humor war grenzenlos, aber immer gediegen. Ihre Beobachtungsgabe war messerscharf, aber nie verletzend.
Was ist wirklich wichtig?
Laurence Boissier spielte zu unserem Vergnügen liebevoll mit den zwischen den Sprachregionen gängigen Klischees und Vorurteilen. Ich höre sie noch jetzt: Quand j’ai dit à mon mari, que je fais partie de Bern ist überall… Sie liebte la Suisse alémanique und nie war ich sicherer, dass es zwischen Genfersee und Bodensee eben doch ein paar gerne geteilte Gemeinsamkeiten gibt, als wenn Laurence aus ihren Texten las.
Und was hat das mit Augusto Giacometti zu tun?
Laurence bewunderte ihn. Einmal nach einem Auftritt in Chur sind wir zusammen ins Bergell nach Stampa gefahren. Ich wollte dort einen Stein auf das Grab von Alberto Giacometti legen und von dem Dorfbrunnen trinken, von dem er auch getrunken haben muss. Laurence wollte die Kirche von Stampa besuchen, wo Augusto Giacometti eine moderne Auferstehung in das Chorgewölbe gemalt hat. Sie erkannte in den, diesem Künstler eigenen, weissen Flecken in den oft mosaikartigen Bildern die Liebe zu den Farben. Einmal sagte sie: Regarde, comme il laisse la place aux couleurs! Ganz ähnlich verlieh sie in ihren Texten durch sehr viel Unausgesprochenes den vorhandenen Worten umso mehr Kraft.
Und jetzt steht ihre Beerdigung bevor.
Was ist wirklich wichtig?