Dieser Blog kommt noch aus Spanien. Sein Bernbezug ist nicht offensichtlich, aber es gibt den berühmten Flügelschlag des Schmetterlings in China, der uns lehrt, dass alles mit allem zu tun hat. Es geht um ein Land in einem Land. Es geht um das sogenannte «Leere Spanien», in welchem ich wieder einen langen Sommer verbracht habe.
Von meinem Stehpult aus, sehe ich oben auf einem Felsrücken ein kleines helles Gebäude, das die aufgehende Sonne bei schönem Wetter vor dem blauen Himmel zum Leuchten bringt. Daneben sehe ich das Dach eines Gehöfts, auch die Silhouette von ein paar Steineichen und die Krone eines grossen Baumes. Weil ich schon oft dort gewesen bin, weiss ich, dass der grosse Baum abgestorben ist, aber von kräftigem Efeu umrankt und ganzjährlich begrünt wird. Ich weiss auch, dass es sich bei dem kleine Gebäude um eine Kapelle handelt und dass das Gehöft schon vor mehr als 40 Jahren verlassen worden ist. Als ich auf einer Wanderung zum ersten Mal dort vorbei kam, waren die brachliegenden Äcker mit Disteln und anderem Dorngestrüpp überwuchert; die zerbröckelnden Mauern und die eingestürzten Dächer zeugten von fortgeschrittenem Zerfall. Nur das steinerne Hauptgebäude war noch in gutem Zustand.
Weil im ersten Stock eine Balkontür offenstand, kletterte ich hinauf und stand plötzlich in einem Schlafzimmer vor einem zwar verwüsteten, aber noch mit Wäsche bezogenen Bett. An einem Nagel hing eine Umhängetasche aus Segeltuch und verteilt über die Wände gerahmte Familienfotos und ein oder zwei Heiligenbilder der kitschigen Art. Auf dem Nachttisch lag neben einem kleinen Öllämpchen, das aus einem Tintenfass gebastelt worden war, eine Ausgabe der Zeitschrift Lectura aus dem Jahre 1974. In einer Truhe gab es Kleider und Schuhe, der ganze Hausrat war also zurückgelassen worden. Neben der Feuerstelle hingen ein halbes Dutzend ausgedörrte Würste von der Decke und irgendwo musste einmal eine grosse Menge Mandeln gelagert worden sein, denn überall lagen die von Mäusen und Ratten aufgebrochenen Schalen herum. In der Vorratskammer standen etliche verkorkte Weinflaschen auf einem Regal und am Boden zwei kniehohe, mit Öl gefüllte Tonkrüge.
Im angrenzenden Stall sah ich ein richtiges Joch und das Zaumzeug der Maultiere. Am nachhaltigsten hatte mich aber ein Nachttopf aus weissem Porzellan beeindruckt. Er stand neben einem Bett und ein dickes Buch war quer darübergelegt, das offensichtlich als Quelle für Toilettenpapier gedient hatte. Es war ein dickes Kompendium von medizinischen Zeitschriften mit dem Titel «Revista De Medicina y Cirurgia Practicas». 219 von etwa 600 Dünndruckseiten hatten schon daran glauben müssen.
Schnell wurde mir damals klar, dass das Gehöft ganz unvermittelt verlassen worden war. Eines Tages hatte man einfach genug und ergriff die Flucht. Eigentlich kein Wunder, lebte man doch ohne Nachbarn, mit einem 10 Minuten entfernten Sodbrunnen, in einer kargen, steinigen Landschaft, die sich im Sommer in einen Backofen verwandelte und auch im Winter alles andere war als ein Garten Eden. Ganz ähnlich verhielt es sich aber nicht nur mit Tausenden von solchen Gehöften, auch Weiler und ganze Dörfer wurden eines Tages einfach genau so wie sie waren, in der Landschaft stehen gelassen. Der letzte machte noch das Licht aus, aber das Glück wurde fortan in den Städten gesucht.
Weil dieser Trend bis heute anhält, besteht Spanien eigentlich aus einer dicht besiedelten Küste, aus ein paar grossen bis sehr grossen Städten und aus dem riesigen, fast ganz entvölkerten Teil dazwischen, der einem Land im Land gleichkommt und für den es heute einen Namen gibt: «La España vacia» – das leere Spanien. Geprägt hat diesen Namen das gleichnamige Buch des aragonischen Autors Sergio del Molino, der damit etwas geschafft hat, was nur sehr wenigen vergönnt ist: Er hat ein Buch geschrieben, das etwas verändert. Vielleicht veränderte es nicht die ganze Welt, aber es veränderte bereits die spanische Selbstwahrnehmung und es leitete eine Diskussion ein, die das Land noch lange beschäftigen wird. Natürlich gibt es dazu Daten und Fakten, viele davon hat Sergio del Molino zusammengetragen. Weil ich selbst Zahlen schnell wieder vergesse, nur so viel: Sie sind dramatisch. Es gibt das Spanien, wo Menschen leben und es gibt das zehnmal grössere Spanien, das sich zunehmend entleert. Dies ist das Spanien der verlassenen Gehöfte, der ganz oder fast ausgestorbenen Dörfer, es ist das Spanien der unzähligen noch intakten Kleinstädte, die menschenleer rumstehen wie Kulissen auf der Bühne, nachdem das Stück abgespielt worden ist.
Und was hat Andreas Gursky damit zu tun?
Es ist sicher nicht wahnsinnig originell in diesem Zusammenhang das Bild eines der bekanntesten Fotografen der Welt zu bemühen. Aber Gurskys Bilder machen klare Aussagen und bringen auch dieses Problem hier auf den Punkt. Man redet zwar viel von Freiheit und von Naturverbundenheit, aber den entleerten Dörfern und Landschaften steht immer mehr die freiwillig akzeptierte Batteriehaltung der Menschen gegenüber. Egal ob auf einem Kreuzfahrtschiff oder in Mega-Städten wie Wuhan oder São Paulo oder Madrid. Die gewaltigen Gegensätze sind nicht nachvollziehbar und die ganze Entwicklung überhaupt doch eher unverständlich und sehr, sehr schwierig zu erklären.