Warum gehe ich eigentlich abstimmen und wählen?

von Gerhard Meister 17. Juni 2015

Beat Sterchi befürchtet, von mir als Romantiker und Träumer bezeichnet zu werden, weil er sich Politiker wünscht, die noch etwas anderes bewirken wollen im Land, als einen möglichst hohen Wähleranteil bei den Wahlen zu gewinnen.

Die Frage wäre, vor welcher Bezeichnung sich einer fürchten muss, der es ganz normal findet, wenn ein Politiker sich in den Wind hängt und dann ganz unabhängig von eigenen Überzeugungen ein Wahlprogramm zusammenschustert, das ihm einen möglichst hohen Wähleranteil beschert.

Müsste sich so jemand nicht Zyniker schimpfen lassen? Vielleicht – oder er ist ganz einfach ein Vertreter der ökonomischen Theorie in der Politik und damit ein angesehener Akademiker, der behauptet, Parteien seien Anbieter und Wähler Konsumenten eines Marktes.

Und dieser Theorie zufolge verhält sich ein Politiker dann rational, wenn er anbietet, was die Leute auch kaufen wollen. Die Kosten des Wahlkampfs nimmt man auf sich, um dafür den Nutzen der Macht einzufahren, politische Entscheidungen sind zweitrangig.

Aber vielleicht sind manchmal angesehene Akademiker auch nicht mehr als Zyniker. Oder dann einfach weltfremd.

Dass ökonomisches Denken mit Demokratie nichts zu tun hat, zeigt sich daran, dass es immer noch Wahlen und Abstimmungen gibt.

Jemand, der sich der ökonomischen Theorie entsprechend verhält, der geht nicht wählen und abstimmen. Denn ein solcher Mensch hat ja ein rationales Verhalten und rational ist ein Verhalten der ökonomischen Theorie gemäss, wenn es weniger kostet als einbringt.

Abstimmen und wählen aber kostet immer mehr als es einbringt und ist somit in jedem Fall irrational.

Man hat einen gewissen Aufwand, Ertrag aber hat man keinen, denn auf die einzelne Stimme ist es bekanntlich bis jetzt noch in keiner Abstimmung angekommen. Der ökonomisch rationale Nutzenmaximierer muss also unbedingt zuhause bleiben.

Und wer weiss, vielleicht hat der sinkende Anteil derjenigen, die sich die Mühe nehmen, an die Urne zu gehen oder schon nur das Couvert in den Briefkasten zu werfen, auch damit zu tun, dass sich das ökonomische Denken mit seinen nicht nur für die Demokratie gefährlichen Konsequenzen immer tiefer in unseren Wortgebrauch und in unser Verhalten hinein gefressen hat.

Wie kann man heute jemandem noch auf einfache, überzeugende Weise erklären, weshalb es wichtig ist, an dem regelmässigen Abstimmungs- und Wahlritual teilzunehmen? Und zwar wichtig nicht nur für die Demokratie (was immer das ist), sondern auch für ihn oder sie als einzelnen Menschen?

Oder liegt das Problem vielleicht gerade darin, dass wir für die Demokratie an die Urne gehen und nicht oder nur zum geringen Teil für uns selber? Und niemand mehr recht weiss, weshalb er etwas tun sollte, das nicht ihm persönlich nützt, sondern im Dienst steht von etwas, das grösser ist als er?

In Zürich hat die FDP bei den diesjährigen Kantonalwahlen auf ihren Plakaten mit dem Begriff „Gemeinsinn“ um Stimmen geworben. Was für ein seltsames, aus der Zeit gefallenes Wort.