Von Madame Bovary und Monsieur Streit

von Beat Sterchi 29. Januar 2014

Beat Sterchi begegnet einem Kollegen. Da fällt ihm ein, dass er dessen Buch noch nicht gelesen hat. «Wilde Zeiten»: Eine Lektüre, die sich lohnt.

 

Neulich habe ich einen Kollegen getroffen. Er sass auf einer Bank oben am Aargauerstalden in Bern an der winterlichen Nachmittagssonne. Dass er Kopfhörer aufgesetzt hatte, war mir nicht entgangen. Er nahm diese ab, begrüsste mich freundlich und als ich sagte, ich wollte ihn nicht stören, meinte er, überhoupt kees Problem, er sei bloss dabei, das letzte Kapitel von «Madame Bovary» zu hören, gelesen habe er den Roman schon und er lasse sich gerne von mir unterbrechen.

Man möchte vieles lesen

Er hatte kaum ausgesprochen, da durchzuckte mich die Erinnerung an das Buch, das dieser Kollege selbst geschrieben, selbst publiziert und im letzten Sommer selbst vertrieben hatte. Ich wusste sogar genau, wo ich es finden würde, denn ich hatte es mir genau angeschaut, hatte es beschnuppert, wie man ein Buch beschnuppert, von dem man nicht so recht weiss, wie man es einordnen soll. Ich hatte sogar erkannt, dass es sich als lohnende Lektüre entpuppen könnte. Aber wie das so ist, man muss und möchte vieles lesen!

Wilde Zeiten

Aber kaum zuhause, habe ich es gleich zuoberst auf einem meiner Bücherstapel gefunden und gelesen. Es heisst «Wilde Zeiten» und der Autor, der von sich sagt, er betrachte sich nicht als Schriftsteller, heisst Bernhard Streit. Gut, der Titel «Wilde Zeiten» ist nicht wahnsinnig originell, aber ich las mit grossem Vergnügen, wie da einer mitten aus einem Leben heraus erzählt, was er für wichtig hält, wie sich die Schicksale und die kleinen Dinge zu einer Stimmung mischen, die unter anderem den Reiz der Erkennbarkeit besitzt. Das war Bern! Da waren sie, die Berner und die Bernerinnen! Und genau so war das früher im «Falken». Es roch nach Bier, Rauch und Käse und die Leute waren tatsächlich in Diskussionen über Politik und Literatur verwickelt. Wenn man sich das heute vorstellt: Junge Leute sitzen rund um einen Tisch und diskutieren über Sinn und Zweck einzelner Bücher, die sie mit anderen vergleichen, die sie vergöttern oder verdammen. Und zwar ganz ohne Apps und Snapps.

Wirkliche Leser oder Leserinnen

Die Lektüre war teilweise auch ein Nachhausekommen. Schön war das und während ich in diesen unprätentiösen, ehrlichen Geschichten las, wurde mir auch klar, warum mich in den vorangegangenen Lesewochen etliche vermeintlich hochkarätige Bücher, die in hochkarätigen Besprechungen hochkarätig bejubelt worden waren, nicht wirklich überzeugten. Weil die Rezensierenden mit ihren oft so unangemessenen Besprechungen und viele der Schreibenden mit ihrem oft so grenzenlosen Ehrgeiz, immer öfter nicht mehr wirkliche Leser oder Leserinnen sind und auch nie und nimmer auf einer Bank oben am Aargauerstalden, nachdem sie den Roman schon gelesen haben, mit dem letzten Kapitel von «Madame Bovary» in den Kopfhörern anzutreffen wären.

 

Bernhard Streit: Wilde Zeiten, Geschichten aus einem Leben, 2013