Über die Zukunft müssen wir uns nicht wundern

von Rafael Egloff 4. April 2020

In einem vielbeachteten Text hat Zukunftsforscher Matthias Horx vor zwei Wochen auf Journal B eine Welt nach Corona gezeichnet. Zum Zeitpunkt, zu dem ich diesen Text schreibe, wurde der Artikel auf einschlägigen Social Media-Plattformen bereits satte 233-mal geteilt.

Auch wenn mir der Begriff «Re-Gnose» bisher nicht bekannt war – ich liebe Blicke von der Zukunft zurück ins Heute. Denn solche Gedankenspiele sind nicht nur spassig und inspirierend, sondern auch relevant für unser Handeln. «Mit der Zukunft ist es wie mit der Fantasie. Sie ist vorgestellt, erfunden, (noch) nicht real. Sie lässt sich nicht fassen, aber formen. Und zwar jetzt. Wie wir jetzt leben, prägt das Morgen», um ein heiter zukunftsorientiertes Berner Kulturhaus zu zitieren.  

Dass Zukunftsgedanken oder Re-Gnosen, um den Begriff hier aufzunehmen, gerade für das Handeln im hier und jetzt von Bedeutung sind, geht bei Horx aber gleich mal kräftig verloren. Die Zukunft scheint einfach zu passieren, und wenn sie dann da ist, sind wir alle überrascht und wundern uns, wie toll wir aus der Krise rausgeglitten sind. Dabei gilt es, die Zukunft zu gestalten und grad jetzt müssen und dürfen wir an der Zukunft nach der kollektiven Isolierung arbeiten.

Denn diese Isolierung hats in sich – vielleicht nicht für privilegierte Menschen wie mich, dessen WG-Gspändli jeweils acht Brote vom Einkauf heimbringen, wohl auch nicht für privilegierte Menschen wie Matthias Horx, der sich erleichtert fühlt, dass das «viele Reden und Kommunizieren auf Multikanälen zu einem Halt» kommt – sondern für diejenigen, denen der Lockdown ein wohltuendes Umfeld nimmt, die hinten anstehen oder halt runterfallen.

Die Geschichten aus meinem Umfeld, die mich in dieser Zeit beschäftigen, drehen sich weder um Tele- und Videokonferenzen, noch um das Internet-Teaching der Zukunft («Kulturtechniken des Digitalen» am Arsch!). Sondern um «verblassende Lichter am Ende des Tunnels», Medikamentenpackungen, Angst vor einem Spitalbesuch ohne Ausweis und Sich-eingesperrt-Fühlen, weil man nicht wohnt, sondern untergebracht ist.

Bezeichnenderweise ist die SVP die erste laute politische Stimme, welche sich medienwirksam aus dem tröstenden Mantra der prognostizierten Infizierten-Raten, BAG-Weisungen und eines kaum hinterfragten Solidaritätsbegriffes löst. Schade wärs, wenn die Linke diesen historischen Moment des Stillstandes, des kollektiven Hinterfragens und Neubeginns verpassen würde. Zeichnet doch mal eure eigenen Re-Gnosen! Wie wollen wir gelebt haben? Träumen erlaubt. Und gemeinsam daran arbeiten auch. Vielleicht vermag dann eine solche Zukunft tatsächlich noch zu überraschen.