Solidarität ist das Wort der Stunde: Solidarität mit den Alten, den Gefährdeten, den Kranken. Und ich bin einverstanden. Solidarität ist das, was es jetzt braucht, damit diese Krise nicht im GAU endet, aber auch das, was es schon immer gebaucht hat, zu jeder Zeit, überall. Es ist eine Binsenweisheit, dass wir etwas immer erst dann lernen, wenn wir es am eigenen Leib erfahren. Nur zur Erinnerung: Seit 2011 tobt in Syrien ein unerbittlicher Krieg, der bereits über eine halbe Million Menschenleben gefordert hat. Im Jemen dauert der Krieg seit über 5 Jahren an. Im Mittelmeer ertrinken seit Jahren Menschen zu tausenden, weil wir sie nicht nach Europa lassen. Nicht erst seit Corona gibt es humanitäre Katastrophen, denen die starken Bande der Solidarität entgegengehalten werden müssten.
Es ist nicht die Zeit, jemandem Heuchelei vorzuwerfen, aber es geht mir nicht in den Kopf, dass immer noch Kriegsmaterial exportiert wird – die Werke der RUAG zum Beispiel spucken auch während der Corona-Krise noch Tötungsmaschinen wie den Cobra Mörser aus – Menschen aber gleichzeitig zornfaltig die Aare entlangspazieren und die Faust ballen, wenn sie eine Gruppe Jugendlicher beim Bräteln überraschen. Solche Dissonanzen sind schizophren.
Aber was bringt schon dieser Whataboutism? Was bringt es schon, von Kriegsgerät zu reden, wenn die Bedrohung für einmal nur unter dem Elektronenmikroskop sein Gesicht zeigt? Ausserdem mag niemand die Sorte Mensch, die dann auftaucht, wenn – entschuldigen sie die Sprache – die Kacke am Dampfen ist und mit gehobenem Zeigefinge auf vergangene, vergessene oder zumindest verdrängte Verfehlungen hinweist. Was interessiert mich das Gestern, wenn schweizweit keine 200 Betten mehr auf den Intensivstationen frei sind?
Jetzt Solidarität zu fordern ist das einzig Richtige. Es ginge nicht an, die Last einzig auf wenigen Schultern zu verteilen, indem zum Beispiel, wie im Kanton Uri geschehen, eine Ausgangssperre nur für Menschen über 65 verhängt wird. Geteiltes Leid ist halbes Leid und geteiltes Leid ist doppelte Effizienz. Bleibt nur zu hoffen, dass dieselben Menschen, die heute für sich und ihre Landsleute die Solidarität der ganzen Welt einfordern morgen bereit sein werden, diese Solidarität wieder zurückzugeben. Auch nach Corona wird es genug Menschen geben, die sie bitter nötig haben.