So war das «Reitgenössische»

von Maurin Baumann & Rahel Schaad 14. Juli 2022

Am vergangenen Samstag fand das im Vorfeld viel diskutierte «Reitgenössische Schwingfest» in der Reitschule statt. Journal B war vor Ort – Eindrücke von einem ungewöhnlichen Anlass.

Um 14 Uhr ist das Schwingfest bereits gut besucht. Der Innenhof hat sich in eine halbrunde Tribüne verwandelt. Die Besuchenden trinken «Haubeli» Weisswein, essen eine Wurst vom Restaurant Sous le Pont oder marokkanische Gerichte vom Medina-Stand. Die Stimmung ist aufgestellt, gemütlich, ja locker. Das Geschehen im Sägemehl wird aber gespannt verfolgt.

Gerade steigen zwei neue Kämpfer in den Kreis, geben sich die Hand, greifen sich an die Hosen. Für beide ist es das erste Mal im Sägemehlkreis, der Kampf dauert rund eine halbe Minute. Das Publikum klatscht. Beide stehen lachend auf, geben sich die Hand, der Gewinner klopft dem Verlierer das Sägemehl vom Rücken. Der nächste Kampf dauert etwas länger. Bei spannenden Würfen geht ein anerkennendes Raunen durchs Publikum.

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Ein Grossteil der Zuschauenden stammt aus dem Reitschulumfeld. Für viele ist es das erste Mal an einem Schwingfest. «Es ist mega schön», findet eine Besucherin, «ich kenne mich zwar nicht aus mit dem Schwingen, aber es fägt zuzuschauen.» Für einige scheint das Fest auch ein bisschen eine Mottoparty zu sein. Sie haben Edelweisshemden angezogen und verfolgen das Geschehen mit einer «Krummen» im Mundwinkel.

Kranzschwinger im Publikum

Im Publikum sind aber auch einige, die man vielleicht eher nicht in der Reitschule vermuten würde. Einer von ihnen steigt sogar gleich selbst ins Sägemehl: Tom Berger, der Co-Fraktionspräsident der Stadtberner FDP. Auch er gibt am «Reitgenössischen» sein Schwing-Debüt. Und er schlägt sich gut: Er qualifiziert sich für den kleinen Final, muss sich dort aber geschlagen geben. «Ich verfolge den Schwingsport schon seit längerem intensiv», wird Berger später auf Anfrage sagen. «Entsprechend hat es mich stets ein wenig ‘geguselt’, das ich selber noch nie geschwungen habe». Das «Reitgenössische», das auch Amateur*innen die Möglichkeit bietet, sich im Sägemehl zu messen, sei dafür die perfekte Gelegenheit gewesen.

Zu Bergers Freude traf er am alternativen Schwingfest gleich auf mehrere Kranzschwinger, darunter Hanspeter Luginbühl, den Berger schon oft an Schwingfesten sah. Ins Gespräch kommen die beiden aber nun zum ersten Mal in der Reitschule. Die «echten» Schwinger hätten den Anlass unter anderem in der Agenda des «Schweizer Bauer» entdeckt, waren neugierig und verschafften sich selbst ein Bild, erzählt Berger. Laut ihm hätten sie den Anlass, wie er selbst auch, positiv aufgefasst.

Wer die Infotafeln mit den Texten nicht liest, wird eigentlich nicht unbedingt zur Reflexion angeregt.

Durchgehend positiv? Nicht ganz. Die inhaltlichen Tafeln, mit denen sich das «Reitgenössische» von gewissen Konnotationen des traditionellen Schwingens abgrenzt, teilt Berger nicht zu hundert Prozent. «Es wurde teilweise das Gefühl suggeriert, die ganze Schwing-Schweiz sei nur durch die SVP geprägt», so Berger. Dies entspräche aber nicht seinen Erfahrungen. Andere Statements der Organisator*innen, etwa, dass der Stadt-Land-Graben konstruiert sei, teilt Berger hingegen. «Ich finde es schade, dass diese vermeintliche Trennung beidseits des politischen Spektrums befeuert wird.» Beim «Reitgenössischen» habe man das beobachten können: Im Vorfeld hätten einige eher das Trennende statt das Verbindende gesucht. Zumindest für Berger passt das Schwingen «wunderbar» in die Reitschule und er hofft sehr, dass der Anlass wiederholt wird.

Leichte Kritik kommt auch aus den internen Reihen der Reitschule. So wird etwa bedauert, dass nur Männer kämpfen würden. Gemäss den Idealen des OK war das bestimmt nicht so gewollt. Doch haben sich auf die offene Ausschreibung offenbar nur Männer gemeldet.

Eine Reitschülerin hätte sich ausserdem noch mehr offensichtlich politische Positionierung gewünscht. «Es war schon sehr traditionell. Wer die Infotafeln mit den Texten nicht liest, wird eigentlich nicht unbedingt zur Reflexion über das Schwingen und seine Bedeutung angeregt.» Alles in allem fallen die Kommentare zum Anlass aber sehr positiv aus.

Am selben Tag die Regeln gelernt

«It was superfun», schwärmt am Montag danach auch Ishmael Asoka Rajuai, der Gewinner des «Reitgenössischen». Der aus Kenia kommende Boxer machte mit seiner Freundin drei Wochen Ferien in der Schweiz. Als ihn seine Freundin drei Wochen zuvor auf das Amateurschwingen in der Reitschule hinwies, meldete er sich sofort an. «Nur zum Spass – ich stellte es mir lustig vor ‘Swiss Wrestling’ auszuprobieren», erzählt er später gegenüber Journal B am Telefon. Also habe er auf Youtube nach Schwing-Videos und Erklärungen im Internet gesucht. «Als ich am Samstagmorgen aufgestanden bin, habe ich noch immer nicht gewusst, wie das eigentlich geht.» Zum Glück habe der Schiedsrichter am Anfang nochmal die Regeln erklärt, die ihm dann jemand auf Englisch übersetzt habe.

Es ist ein aussergewöhnliches Zusammenkommen an diesem Samstag in der Berner Reitschule; es ist tatsächlich, so schief dieses Wort klingen mag, ein Volksfest.

Am Anfang sei er noch etwas ängstlich und nervös gewesen, sagt Rajuai. Im ersten Kampf musste er denn auch gleich eine Niederlage einstecken. Danach entspannte er sich und gewann von da an jede Runde, was er selbst nicht ganz glauben konnte, wie er sagt. Im Gegensatz zum Boxen sei es hier beim Schwingen vielmehr um den Spass gegangen. Was ihm vor allem gefallen habe, sei der respektvolle Umgang gewesen. «Dass der Gewinner dem Verlierer den Rücken abklopft, finde ich eine sehr schöne Regel.» Vielleicht werde er das «Swiss Wrestling» ja mal in Kenia vorstellen, sagt Rajuai zum Schluss des Gesprächs lachend.

Ein Ring, offen für alle

Mit dem Final um 17 Uhr endet das Turnier einige Stunden früher als geplant. Das Amateur-Niveau führte zu durchschnittlich kürzeren Kämpfen, als das OK dies abgeschätzt hatte. Was folgt, ist eine spontan wirkende offene Runde: Alle, die wollen, dürfen mal ins Sägemehl. Die Stimmung ist ausgelassen. Überall lachende Gesichter, immer mehr Menschen, die sich im Innenhof tummeln, sind schliesslich selbst voller Sägemehl. Die Kämpfe werden englischsprachig kommentiert und der Speaker hatte vor diesem Anlass ganz offenkundig keine Ahnung, was das für ein Sport ist. Es ist keine Demo, es ist keine Party – es ist ein aussergewöhnliches Zusammenkommen an diesem Samstag in der Berner Reitschule; es ist tatsächlich, so schief dieses Wort klingen mag, ein Volksfest.

Untermalt wird das Ganze durch ein musikalisches Rahmenprogramm. Mal erklingt eine Hackbretteinlage, nach dem Finale spielen die «Krummen Junioren» – eine Mischung zwischen Ländler-Trio und Tomazobi. Und schliesslich kommt mit einigen Eurodance-Hits die Afterparty in der grossen Halle in Gang.

Nach der Party ist vor dem Zmorgä

Fünf Uhr morgens treffen wir einen Teil des OK-Teams am Eingang der grossen Halle. Die Stimmung ist gut, es werden Sprüche geklopft, aber auch Schlafmangel und Erschöpfung machen sich langsam bemerkbar. Kurz werden die nächsten Stunden durchgegangen: Um 5 Uhr Ende der Party, dann aufräumen, wischen. Danach geht’s weiter mit dem «Bürinnäzmorge». Um 8 Uhr beginnen dafür die Vorbereitungen. Wird es bis dahin für zwei Stunden Schlaf reichen? «Ich glaube, nach diesem Wochenende habe ich ein Burn-Out», sagt Leon*. «Aber es hat sich gelohnt – auch finanziell.» Das eingenommene Geld wird an Medina und an das Solinetz Bern gespendet.

Als die letzten Personen aus der Halle rausgeworfen werden müssen, verabschieden wir uns. Gibts wieder ein Schwingfest? Die Frage in dieser sonntäglichen Morgendämmerung ist zu früh gestellt. In den Köpfen der Organisator*innen drehen sich die Gedanken beim Aufräumen noch um den bevorstehenden Brunch. Zumindest für sie ist das «Reitgenössiche» noch in vollem Gang. Um 14 Uhr ist die Grosse Halle wieder sauber abzugeben. Und das Sägemehl muss auch wieder verschwinden.