Schätze

von Christoph Reichenau 26. März 2020

Jetzt haben wir Alten Zeit in Fülle, manchmal fast zu viel. Was im Haushalt zu tun ist, ist einmal getan. Auch der Spaziergang, der Ausflug mit dem Velo oder ein Joggingversuch dauern nicht ewig. Kontaktpflege per Mail, am Telefon, via Skype, alles hat seine Zeit.

Es bleiben Schätze. Ein Schatz ist die Erinnerung oder besser: Der Blick in die Schweizergeschichte. Er zeigt auch bei oberflächlicher Wahrnehmung wie viel besser wir es heute in der Corona-Krise haben als die Menschen in unserem Land damals 1918, als am Ende des Ersten Weltkriegs die Spanische Grippe grassierte mit tausenden von Toten, viele davon junge, kräftige Männer. Oder während des Zweiten Weltkriegs zur Zeit der Mobilmachung, als Lebensmittel rationiert, die «Anbauschlacht» geschlagen, Verdunkelung befohlen und in der Nacht eine Quasi-Ausgangssperre galt. Wie anders heute: Kein Mangel an Lebensmitteln und allem, was man täglich braucht, keine Angst vor einem Feind von aussen, vor Gewalt, Zerstörung, Kälte.

Im gegenwärtigen Aushaltenmüssen des Ausnahmezustands sind wir privilegiert, bestens informiert, unterstützt von zahlreichen Hilfsangeboten, können uns gefahrlos draussen bewegen mit Mass und Abstand. Auch wenn uns gelegentlich die Decke auf den Kopf zu fallen scheint: Bleiben wir realistisch – uns geht es gut. Wenn wir nicht für ein paar Wochen etwas vom vermeintlichen Recht auf das abgeben, was wir pathetisch Freiheit nennen (und was in vielen Fällen Egoismus und Selbstverwirklichung ist), dann haben wir nicht begriffen, wie es in der Welt zugeht.

Ein anderer Schatz ist der Zugang zu Kunst und Kultur. Musik hören am Radio, ab der CD, im Internet. Bücher lesen. Filme anschauen am Fernseher oder am Laptop. Auch wenn die Kinos, Theater, Tanzorte, Museen, Konzertlokale, Galerien und so weiter geschlossen sind, was ich für sie und das Publikum äusserst bedaure – wir sind nicht ohne Kunst. Ein Buch zu lesen, war schon immer eine intime Angelegenheit. Musik hören kann man bestens allein. Viele Bilder und andere Kunstwerke sind über die Websites von Museen zugänglich. Das Museum für Kommunikation ermöglicht jeweils von Dienstag bis Freitag um 13:30 Uhr virtuelle Einblicke. Nicht ausgehen zu können bedeutet nicht, von Kunst und Kultur abgeschnitten zu sein. Es erfordert und erlaubt vielmehr neue Konzentration darauf, virtuell in der Form, real im Erleben.

Natürlich ist dieser Zustand katastrophal für die Kunst- und Kulturorte jeder Art, deren Einnahmen wegbrechen, und noch viel mehr für die Kunst- und Kulturschaffenden, die nicht arbeiten und auftreten können und also nichts verdienen. Am schlimmsten trifft es die Selbständigerwerbenden in jeglicher Sparte. Hilfe ist beschlossen und demnächst real – das heisst in Franken und Rappen – verfügbar, doch gerade im Kulturbereich ist sie bürokratisch organisiert. Und auch die Unterstützung hier und heute befreit die Betroffenen nicht von der Sorge, wie es in Zukunft sein wird, wenn wir aus dem Tunnel wieder ins Freie gelangen: Wollen die Leute meine Darbietung noch erleben, meine Werke sehen, meine Überlegungen anhören?

Wer bin ich, wenn die Welt neu zu sich kommt? Oder kommt sie eben jetzt im Ausnahmezustand zu sich? Und ist am Ende des Tunnels nicht alles wie es vorher war, sondern neu wie es jetzt ist – und bleiben wird? Zumindest teilweise?