Im Berndeutschen ist die Métro weiblich. Hier in Paris ist das «Le Métro». Eine Institution – ja viel mehr: Ein Lebensgefühl, Ingenieurkunst, die genialste Art der öffentlichen Fortbewegung, der Inbegriff der Poesie von Paris. Und auch ein Ort, um zu lesen. Was viele Menschen tun, denn die Métro hat etwas von einer Wohnstube – wenn sie nicht gerade in Spitzenzeiten übervoll ist.
Es ist vor dem 5. Dezember 2019, ich fahre auf der Linie 2 von «Jaurès» Richtung «Etoile». Eine junge Frau liest «Qui à tué mon père» von Édouard Louis.[1] Louis ist der aktuelle französische Kultautor. Ich hatte bereits seinen Roman «En finir avec Eddy Bellegueule» gelesen – und war schockiert von dieser direkten Auseinandersetzung mit dem realen Leben.
Ich kaufe mir also sofort das kleine Bändchen über die Frage, wer nun seinen Vater umgebracht haben könnte. Knappe 80 Seiten als Einstieg in mein Pariser Leben? Der Text hat – auf den ersten Blick! – gar nichts mit Paris zu tun. Und schon gar nichts mit der heilen Welt und dem Cliché der charmanten Stadt der Liebe. Louis, der Soziologe und brillante Seismograph siedelt seine autobiografischen Verarbeitungen irgendwo in nordfranzösischen Regionen an. Dort wo ausgestorbene Provinzstädtchen langsam vom Radar der grossen Politik verschwinden. Dort wo im Ambiente von Kreiselverkehr und Frittenbuden der Untergang der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts direkt spürbar ist und wo alle Rhetorik über die postindustrielle Dynamik des digital-ökologischen Zeitalters zynisch anmutet. Vor allem dann, wenn in diesen Regionen gleichzeitig die sozialen Netze, Spitäler, Altersheime, Schulen, Kinderbetreuung schlicht auf den Hund gekommen sind. Man (der Staat) hat kein Geld mehr für solche Sachen.
Ist das als Annäherung an Paris die Lektüre? Ich habe ab dem 5. Dezember, sozusagen im Sturmauge der Streiks von fast zwei Monaten genau diesen Text gelesen. Und stelle fest: Da ist ungeschminkt die Wirklichkeit unserer Gesellschaft beschrieben, das hilflose Scheitern eines Vaters am eigenen Unvermögen. Ein Unvermögen das aber ohne sein Zutun System hat. Hier geht es nicht um «art pour l’art» oder Bohème-Poesie, sondern ums nackte Überleben, um existenzielle Bedrohung, um ein Journal über das was hierzulande falsch läuft und über die massive Gefährdung der Kohäsion der demokratischen Gesellschaften.
Wenn ich «hierzulande» schreibe, meine ich Europa und auch die Schweiz: Ende November 2019 am Centre Culturel Suisse von Paris besuche ich eine Lesung von Schweizer Autorinnen und Autoren[2]. Ein hier vorgetragener Text hat ähnliche Sprengkraft, wie jener von Edouard Louis: Es ist die «Petite Brume» des bernjurassischen Autors Jean-Pierre Rochat.[3] Hier erzählt ein Landwirt die unumgängliche Versteigerung seines Hofs und den brutalen Untergang seiner ganzen – bisher kaum in Frage gestellten – Welt. Ein Ereignis, das mit den Realitäten der Schweiz und des Kantons Bern direkt etwas zu tun hat. Und das sich bei aller bernischen Staatsräson nicht unter den Teppich wischen lässt.
Rochat und Louis geben der Sprachlosigkeit der Verlierer das Wort. Das Thema ist die Ohnmacht gegenüber denen, die in den Zentren Macht ausüben. Die Hauptstädte sind in diesen Texten weit weg. Irgendwo im Dunst am Horizont versprechen sie eine neue Ära – sind hochtrabend und verlogen. Die Menschen draussen in der Provinz verstehen dies alles nicht. Sie tragen «Gilets Jaunes», sie driften politisch gegen rechts, sie wollen nichts mehr mit den Regierenden und den Eliten zu tun haben. Sie kennen höchstens die (hilflose) Revolte. Aber keine Auswege.
Wenn ich einige Wochen danach durch mein Quartier in Paris spaziere oder meine Bar um die Ecke besuche, kommt mir das alles sehr bekannt vor. Hier im Norden der Metropole beginnt schon die Provinz – und im Quartier reden die Leute genau gleich: Man will Macron nicht und findet seine Rentenreform «aberrant». Genauso absurd findet man die Streiks und die Bähnler, die letztlich nur ihre Rentenprivilegien verteidigen. Die meisten finden das auf Fragen alles «très compliqué». Und sagen dann gar nichts mehr.
Hier im 19 Arrondissement gibt es wenige Touristen. Und nur von weitem winkt der Eiffelturm als scheinheiliges Symbol für eine Welt, die längst aus dem Ruder gelaufen ist. Meine schriftlichen Arbeiten lasse ich beim Inder an meiner Strasse ausdrucken, meine Zeitung kaufe ich täglich an der Métrostation bei einem fliegenden Strassenverkäufer und den vielen Obdachlosen ringsum spende ich etwas hilflos von Zeit zu Zeit einen Euro. Meine Baguette aber hole ich mir immer noch beim Artisan Boulanger. Ich nehme sie beim Nachhausegehen unter den Arm, wie das alle anderen auch tun. Vielleicht ist das ein Trost – vielleicht auch eine erste Antwort.
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Der Song zum Text I: «Je ne suis pas Parisienne», ZAZ https://www.youtube.com/watch?v=a9v4JtjBu8k
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Der Berner Michael Kaufmann war als Direktor der Hochschule Luzern-Musik von 2011 bis 2019 in Luzern. Bevor er als Heimwehberner in die wichtigste Hauptstadt der Welt zurückkehrt, hat er sich für einige Monate Paris entschieden. Er lebt momentan im 19. Arrondissement. Ein Umweg, der sich lohnt.
Seine «Spaziergänge in Paris» folgen sechs Beiträgen in den nächsten 6 Monaten.
[1] Edouard Louis, «Qui a tué mon père», Editions du Seuil, 2018
[2] Am selben Anlass wagt sich der Berner Gerhard Meister mit seiner virtuosen Berndeutsch-Klangmalerei als einziger Deutschsprachiger aufs Parkett der hehren Pariser Literaturszene.
[3] Jean-Pierre Rochat, «Petite Brume», Editions d’ Autre Part (2017)