Ich stürme mit dem Quaffel übers Feld, direkt auf die drei Ringe zu. Schon möchte ich auf den mittleren zielen, da trifft mich ein Klatscher voll ins Gesicht. «Off broom!», schreit irgendwer – er meint mich. Schnell nehme ich den Besen zwischen den Beinen hervor, renne zurück zu den Ringen unseres Teams und berühre sie. Jetzt bin ich wieder im Spiel.
Es ist Freitagabend, Quidditch-Zeit. Ja, Quidditch, wie das Spiel aus den Harry-Potter-Büchern. Und ja, es gibt Besen in diesem Spiel, wenn sie zwar auch nicht zum Fliegen taugen – es sind kurze Plastikstöcke, die man sich zwischen die Beine klemmt. Und die verdammt unhandlich sind. Die anderen aus dem Team rennen mühelos mit diesen Sticks übers Feld, während ich immer wieder «vom Besen falle» und damit aus dem Spiel bin. Super. Als wäre das Spiel nicht schon kompliziert genug.
Ein Spiel im Entstehungsprozess
Quidditch – also Quidditch in der realen Welt – wurde 2005 von zwei Studenten am Middlebury College in Vermont entwickelt. Das Regelwerk umfasst 200 Seiten. «Alleine vierzig davon behandeln die Aufstellung, achtzig die Körperkontaktregeln», erzählt mir Alain, als wir zum Spielfeld laufen. Der Stolz des Insiders outet ihn sogleich als einen der beiden Gründer des Berner Quidditchteams, Berner Boggarts, wie sie sich nennen. «Alle zwei Jahre werden die Regeln überarbeitet», fügt er hinzu.
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Quidditch – ein Spiel im Entstehungsprozess. Seit Beginn hat es sich schon dutzende Male verändert. So wurde aus dem ovalen Spielfeld ein rechteckiges (einfacher zu finden in unserer Welt), aus den echten Besen Plastikstäbe (weniger Unfälle) und auch der Schnatz darf sich mittlerweile nur noch im Spielfeld selbst aufhalten (offenbar sei einmal einer in die U-Bahn entwischt).
Das Spiel besteht aus einer einzigartigen Mischung aus Rugby, Handball und Völkerball. Einerseits gibt es Chaser, die versuchen, den Quaffel (einen Volley-Ball) durch einen der Ringe zu kriegen. Das gibt 10 Punkte. Dann gibt es Beater, die mit Klatschern (graue Dodgebälle) andere Spieler*innen ausschalten, indem sie sie treffen und sozusagen «vom Besen hauen». Und dann gibt es noch den Schnatz. Der ist nicht klein und goldig und kann auch nicht fliegen. Es ist eine parteilose Person, die eine gelbe Hose mit einem daran befestigten Tennisball trägt. Aufgabe der Seeker ist es, den Tennisball abzureissen. Erst dann endet das Spiel.
Spätestens wenn es um den Schnatz geht, ist Quidditch nämlich ein richtiger Vollkontaktsport.
Ein queerer Sport
Nach dem Training demonstrieren Vincent und Alain, wie ich mir das vorzustellen habe. Vincent hat die Berner Boggarts zusammen mit Alain gegründet und leitet die Trainings. Er erinnert mich ein bisschen an Oliver Wood, den Quidditch-Kapitän von Gryffindor – sehr engagiert und immer mit neuen Spieltaktiken zur Stelle.
Alain zieht sich die gelbe Hose mit dem Schnatz über, Vincent spielt nun den Seeker. Seine Aufgabe hört sich simpel an, aber die Ausführung ist gar nicht so einfach. Denn der Schnatz hat keinen Besen als Handicap und darf alles. Er darf die andere Person festhalten, er darf ihr den Besen wegnehmen, er darf sich mit Hand und Füssen zur Wehr setzen. Spätestens wenn es um den Schnatz geht, ist Quidditch nämlich ein richtiger Vollkontaktsport.
Bemerkenswert dabei: Quidditch ist der einzige gemischtgeschlechtliche Vollkontaktsport, den es gibt. Und noch dazu die einzige Sportart, die gleich alle Geschlechter berücksichtigt: Frauen, Männer, non-binär. Auf dem Spielfeld dürfen nie mehr als vier Leute desselben Geschlechts stehen.
Wer das Spiel einmal selbst sehen will, hat an diesem Wochenende die einmalige Chance: Denn am Samstag finden die Schweizer Quidditch-Meisterschaft in Bern statt. Von 8:30 Uhr bis 17 Uhr auf dem Sportplatz Allmend.
Durch diese einzigartige Regelung finden hier auch viele Menschen einen Platz, den sie in anderen Sportarten nicht finden. Viele spielen Quidditch deshalb auch, weil sie sich in dieser Community sehr wohl fühlen. «Dann gibt es noch die Harry Potter Fans, die meinen, wir wären ein blosser Fansport», fügt Alain hinzu, «die bleiben meistens am wenigsten lange. Und dann gibt es die, die den Sport an sich einfach toll finden.» – «So wie wir», ergänzt Vincent. Die Berner Boggarts unterscheiden sich von den anderen Schweizer Teams wohl am meisten dadurch, dass bei ihnen mehr der Sport als die Community im Zentrum steht.
Herausfordernd und zunehmend professionell
In der Schweiz ist Quidditch bisher eine Randsportart, die vor allem in kleinen Vereinen betrieben wird. International professionalisiert sich der Sport aber langsam, vor allem in den USA, woher man schon Gerüchte darüber hört, dass erste Spieler*innen Stipendien an amerikanischen Universitäten erhalten könnten. Von bezahlten Spieler*innen spricht zwar noch niemand, aber offiziell wurde der Name schon von «Quidditch» zu «Quadball» geändert. Das Problem mit «Quidditch» war nämlich, dass es eine von Warner Bros geschützte Bezeichnung ist. Werbung konnte damit dementsprechend nur schwer gemacht werden.
Es geht gegen neun Uhr zu, wir setzen zum letzten Angriff an. Das Besenproblem habe ich zwar noch nicht gelöst, auch mit den verschiedenen Bällen bin ich noch immer etwas überfordert. Immerhin habe ich zumindest begriffen, wie das Spiel als Chaser funktioniert. Und ich muss zugeben: Langsam, aber sicher beginnt es mir Spass zu machen.
Zwei Jungs, die gekommen sind, um mit ihren Footbags zu jonglieren, stehen am Spielrand und schauen uns ungläubig zu, wie wir mit den Besen übers Spielfeld rennen. «Spielt doch auch mit!», ruft ihnen Ben zu, einer der Chaser aus meinem Team. «Wir werden oft belächelt», bestätigt Alain nach dem Training, als wir uns alle mit einem Eis der Gelateria di Berna abkühlen, «Die Leute machen sich lustig. Bis sie dann mal mitspielen und merken, wie komplex und herausfordernd der Sport ist.»
Eine Entwicklung ist klar erkennbar: Quidditch etabliert sich zunehmend als eine Sportart unter vielen. Vielleicht werden bald einmal Spieler*innen bezahlt werden, um den Quaffel durch die Ringe zu kriegen. Vielleicht wird einmal Irland in der echten Welt gegen Bulgarien spielen und gewinnen. Vielleicht wird irgendwann in ferner Zukunft in Vergessenheit geraten sein, dass es «Harry Potter» gab. Vielleicht wird dann nur noch das Spiel mit dem seltsamen Namen übrigbleiben. Vielleicht. Eines aber ist sicher: Ich werde morgen Muskelkater haben.