Lockdown – 1986 und 2020

von Rita Jost 28. April 2020

Der erste Regen seit Wochen. Welche Wohltat! Und gleichzeitig eine Erinnerung. An den April 1986. Als uns die radioaktive Wolke nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auch in die Häuser zwang.

Die Magnolien blühten. Die Erdbeerstauden versprachen süsse Früchte. Der Wald lockte zartgrün. Und in diese Idylle drang dieses Wort, das für immer Sinnbild für hilflose Angst und zerstörte Umwelt werden sollte: Tschernobyl.

Ich erinnere mich an meinen ersten Gedanken, als ich hörte, das Unglück habe sich in der Ukraine ereignet. Ich hatte keine Ahnung, wo die Ukraine liegt (es war ja noch einfach ein Teil der riesigen Sowjetunion). Ich erinnere mich, dass mir als erstes das Chanson «Natalie» von Gilbert Bécaud in den Sinn kam. Dort werden die «plaines d Ukraine» besungen. Ein weites, ebenes Land, eine Kornkammer. Sie musste ziemlich weit im Osten liegen. Aber: weit genug, damit die radioaktive Wolke nicht bis zu uns drang?

Dann kam der Regen und mit ihm der Fallout und die Empfehlung, Kinder nicht mehr draussen spielen zu lassen, keinen Salat mehr zu essen, frische Milch zu meiden, Erdbeeren ebenfalls… Der Spielplatz, der Sandkasten, der Wald … sie wurden Tabubereiche für die Kinder. Niemand konnte genau sagen, wie gefährlich Draussensein war. Aber die Hilflosigkeit war gross: Wie sollte Eltern ihren Kindern erklären, dass der blaue Himmel, die Wolken und die Regentropfen krank machen können. Wie sollte man ihnen sagen, warum wir bei schönem Wetter drinnen spielen sollten?

Niemand hat diese paradoxen Frühlingsgefühle so greifbar beschrieben wie Kurt Marti in seinem Vierzeiler «früelig» 1986:

hahnefuess und ankeballe
früehlig trybt scho schtyf
liechti rägetröpfli falle
radioaktiv.

Ja, die Folgen von Corona sind schlimm. Menschen sterben, die Wirtschaft krankt, unser Umgang mit Mitmenschen wird gerade nachhaltig verändert. Ein Trost aber bleibt uns: Kinder werden vom Virus offenbar verschont. Wenigstens das!