Konfitüre in Buchstabenform

von Gerhard Meister 15. Juni 2016

Liebe NZZ-Leserin, lieber NZZ-Leser

Wonach steht Ihnen heute der Sinn? Wie immer haben wir in unserem Angebot für alle etwas. Da wäre zum Beispiel die englische Küstenseeschwalbe, die mit ihrem Flug von den Farne-Inseln in Nordostengland runter nach Antarktika und zurück den längsten je registrierten Vogelzug absolviert hat – 96 000 Kilometer in zehn Monaten ist Weltrekord.

Oder Lisa Pathfinder, die eine noch etwas grössere Distanz zurücklegt als die englische Seeschwalbe. Der Satellit mit dem klingenden Namen «Lisa Pathfinder», der seit vergangenem Jahr unterwegs und 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt ist, steht im Dienst von Physikern, die im All nach Gravitationswellen jagen und jetzt einen bedeutsamen Zwischenerfolg feiern.

Wer sich lieber wieder einmal mit der Frage beschäftigen möchte, was denn nun Kunst sei und was allenfalls nicht, und sich damit an ganz persönliche Grenzen zu wagen traut, der kommt auf die Rechnung mit unserem Blick in die neunte Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst. Diese wolle, so schreibt Samuel Herzog, zeigen, was es morgen bedeutet, Mensch zu sein.

Soweit der NZZ-Newsletter vom 8. Juni, den ich als registrierter Nutzer der NZZ-online jeden Tag zugeschickt bekomme.

Die zeitgenössische Kunst will uns – so die NZZ – zeigen, was es morgen bedeutet, Mensch zu sein. Was aber heisst es, heute Zeitungsleser zu sein?

Die stellvertretende Chefredaktorin der NZZ hatte vielleicht einen schlechten Tag, als sie obige Zeilen schrieb. Denn zu suggerieren, eine Zeitung sei eine Ansammlung von Texten, aus denen jeder nach spontaner Lust und Laune sich zwei, drei heraussuchen kann, um sich damit auf hübsche Weise seine Zeit zu vertreiben, das hatte sie wohl kaum im Sinn.

Zeitungslektüre als Vergnügen und Zeitvertreib, sozusagen die Konfitüre in Buchstabenform auf dem Frühstückstisch, dem widerspricht der NZZ-Newsletter gleich selber. Zu diesem gehört nämlich jedes Mal ein Zwischentitel und der lautet: Was heute wichtig ist. Und darunter aufgelistet, die wichtigen Themen des Tages. Und dieses Wichtig misst sich dann eben nicht an den wechselhaften Launen und Unterhaltungsbedürfnissen eines einzelnen Lesers, sondern an der politischen und gesellschaftlichen Relevanz eines Themas. Und genau dies ist die Aufgabe einer Zeitung: den Leser darüber informieren, was wichtig ist, ihm zu einer eigenen, informierten Meinung verhelfen und so als vierte Gewalt im Land dazu beitragen, dass die Demokratie lebendig bleibt.

Jeder weiss, wie die Zwänge des Anzeigenmarktes es den Zeitungen schwer machen, diese ihre, wie jeder zu Feierstunden der Demokratie billig bestätigen wird, wichtige und richtige Aufgabe zu erfüllen. Noch schlimmer natürlich, wenn Verleger – Guy Krneta hat vor kurzem an dieser Stelle darüber berichtet – soweit pervertiert sind, dass sie sich gegen diese Zwänge nicht mehr zur Wehr setzen und wie der Rest der Wirtschaft zu blinden Vollstreckern des einen allmächtigen Willens werden, der vom Aktienmarkt ausgeht.

Die Zeitung  als Konfitüre in Buchstabenform, das würde den Mächtigen so passen, könnte man in guter linker Tradition sagen, aber ich stelle an mir selber fest, eine Zeitung, die nicht auch als Konfitüre daherkommt, eine Zeitung also, die keine Unterhaltung im Angebot hat, nichts, was die reine Neugierde befriedigt, die Lust, irgendwas Nutzloses zu lesen, wie zum Beispiel, dass zehnmal mehr Menschen von herunterfallenden Kokosnüssen getötet werden als von Haien, eine Zeitung also, die Morgen für Morgen nichts zu bieten hätte als das, was wichtig ist, niemand würde sie lesen.

Dies schon nur deshalb, weil dann jeden Tag auf der ersten Seite die gleiche Schlagzeile zu lesen wäre, denn nichts ist wichtiger: Zehntausende von Menschen sind gestern verhungert. Und dann die Berichte aus den Katastrophengebieten, die Kommentare zum politischen Skandal, den der Hungertod in einer Welt des Überflusses bedeutet.

Der NZZ-Newsletter mit der Versicherung, dass man für jeden Geschmack etwas im Angebot habe und der gleichzeitig jenseits von allen Geschmacksfragen erklärt, was heute wichtig ist, bringt, wenn auch ungewollt, zum Ausdruck, dass eine Zeitung immer ein Kompromiss ist zwischen Unterhaltung und Information.

Je nach Gemütslage mehr oder weniger stark neige ich allerdings zur Ansicht, dass eine Zeitung schon nur dadurch, dass sie eine Zeitung ist mit festgelegten Buchstabengrössen und Artikellängen sowie einer täglich gleichen Abfolge ihrer Teile und Themen vom Ausland bis zum Wetter und zuverlässig immer an den gleichen Ort platzierten Kolumnen und Rubriken – dass eine Zeitung also schon rein durch die Ordnung, die sie als Zeitung herstellt, das Chaos der Welt und damit die Wirklichkeit verleugnet.