«In der Erinnerung vermischen sich Bilder der eingeschlagenen Routen und man weiss nicht mehr, welche Provinzen diese durchquert haben.» – Patrick Modiano [1]
Kahli Belkheir betreibt die schönste Bar des 19. Arrondissements und damit von ganz Paris. Obschon gemäss ihm das Neunzehnte eben das Neunzehnte ist und mit Paris gar nichts am Hut hat. Jedenfalls dauert mein Abendspaziergang bis zum «Ô Poêle» (zum Ofen) maximale 4 Minuten bei gemächlicher Gangart. Der Heimweg dauert dann jeweils etwas länger.
Bevor man zum aussen dunkelblau bemalten Lokal kommt, geht’s rechts ab von der Avenue Jean Jaurès in die Passage de Melun. Dieses Strässchen ist von imposanten Backsteingebäuden im typischen Pariser Jugendstil gesäumt. Die Gebäude der «Moderne» prägen ganze Quartierteile. Sie markieren die Epoche des Aufschwungs, der Eroberung der früheren Vorortdörfer durch die Stadt und die Erstellung qualitativ guten Wohnraums für Familien des Mittelstands.
Hier bauten anfangs des 20. Jahrhunderts die Stadt Paris selbst und verschiedene soziale Wohnbauträger. Linkerhand informieren an den mit grünen Mosaiksteinen verzierten Fassaden angebrachte Tafeln, dass hier nicht etwa der Staat sondern die private «Société Philanthropique» (gegründet 1780)[2] mit Sinn für die gebeutelten Bürgerinnen und Bürger gebaut hat. Die bei der Gründung dem Königshaus nahestehende Organisation konnte zwar die französische Revolution auch nicht mehr abwenden – sie betreibt aber zum Glück bis heute eine grosse Anzahl von sozialen Institutionen, günstigen Mietwohnungen, Altersheimen, usw. So auch den grossen, 8-stöckigen Komplex in der Passage de Melun, wo man sich 150 Meter rechterhand im Erdgeschoss im Poêle einfindet.
Hier sind jeweils ab 18 Uhr die Bewohner dieser Häuser und des Quartiers anzutreffen, hier genehmigt man sich im Verlaufe des Abends je nachdem einen Apéro, das kleine Essen («une planche»), den Gutenachttrunk; manchmal gibt’s noch eine kleine Feier, die bis 2 Uhr morgens andauert. Bei Kahli Belhkeir, der alle kennt und der die Leute auch nach Corona mit fröhlichem Handschlag begrüsst, scheint es immer etwas zu feiern zu geben. Jedenfalls hat der Mann fast durchgehend Hochbetrieb. Was ihn nicht hindert, in der Vorabendzeit auch mal den Kindern («mes meilleures clients») ringsum einen erfrischenden Minzensirup auszugeben. Vor allem aber gibt es hier zum Getränk immer die kleine Schale pikant gewürzter und gezwiebelter Kartoffeln direkt aus der Bratpfanne. Man pickt «les patates» lässig mit Zahnstochern, weiss dabei «das sind die besten Kartoffeln der Welt» und geniesst den heissen Sound aus Kahlis unerschöpflicher Latin-Musiksammlung: Wenn aus dem Lautsprecher die kubanischen Klavierpassagen von Ruben Gonzalez perlen, gehört das ab jetzt auf ewig zu diesem kleinen Brennpunkt im Pariser Norden.
Kahli ist seit über dreissig Jahren in der Stadt und über viele Jahre der Betreiber des Lokals. Der weltgewandte Kubaner ist mit seiner Jugend- und Studienzeit in Barcelona sowie den frühen Wanderjahren im Nahen Osten sowie in Los Angeles die Verkörperung des multikulturellen und gleichzeitig waschechten Parisers. Einer von den vielen, den nichts als die Liebe nach Paris gebracht hat. Das Quartier und seine Bewohner kennt er wie seinen eigenen Hosensack. Aber er macht sich heute Sorgen um die Entwicklungen. «Paris war früher überall offen und lebendig.
Heute sind da Aggressionen und eine Abwehr des Fremden. Das widerspricht dieser Stadt und macht vieles kaputt», befürchtet er und spürt – gerade nach der neusten Krise – Rassismus und Nationalismus am eigenen Leib. Deshalb ist er froh, wenigstens in diesem Quartier zu sein und den ganzen Tourismus- und Massenrummel nicht um die Ohren zu haben. «Ich bin glücklich. Ich kenne alle, alle kennen mich. Mehr braucht es im Leben nicht», lautet seine lapidare Formel und gleichzeitig sein Erfolgsrezept als gewiefter Barkeeper, der auf diese Art mit seiner Familie überleben kann. Man nimmt dem Kahli mit seinen vergnügt blitzenden Augen die Lebenslust einfach ab, wenn er wie ein routinierter Tänzer hinter seiner Theke gleichzeitig südamerikanische Drinks mixt, mit Kunden schäkert, Musikstücke auswählt, Bier ausschenkt, abkassiert und die Melodien mitsummt.
Kein Wunder ist Kahli ein leidenschaftlicher Erzähler, Kino- und Theatermensch. Er spielt immer sich selbst: Als begabter Laienschauspieler hat er in Filmen mitgespielt und kürzlich auch in einer französischen TV-Serie. Stolz ist er auf seinen Othello nach Shakespeare, den er in seiner frühen Pariserzeit parallel in Französisch und auf Spanisch auf einer Pariser Kleinbühne dargestellt hat und gleichzeitig in den Räumen der spanischen Botschaft. Er hat dabei nie die grossen Kisten gesucht, sondern einfach Freude am Theater gehabt. «C’était une aventure à vivre», das musste er einfach erlebt haben.
Erlebt hat er auch, wie er eines Nachts in einem Pariser Nachtlokal bis in den frühen Morgen hinein mit einem dicklichen Amerikaner zu bechern, der ihn irgendwie an jemanden erinnerte – nur an wen? Als er diesen dann endlich in dessen Hotel untergebracht hatte, meinte der Nachtportier zu ihm: «Wissen Sie, dass Sie den Abend mit Marlon Brando[3] verbracht haben?». Der überraschte Kahli erzählte die Geschichte darauf stolz seiner Grossmutter. Die dann ganz trocken fragte: «… und wer ist Marlon Brando?».
Die geliebte Grossmutter bleibt bis heute in Kahlis Herzen. Ô Poêle heisst so, weil die Grossmutter zu Hause einen dieser alten Holzöfen hatte, an dem er sich als Bub jeweils wärmen konnte. Daran dachte er, als er sein Lokal vor Jahren kaufte und stellte mitten hinein einen rauchenden Kanonenofen. «Jedesmal wenn ich an kühlen Abenden einheize, denke ich an meine Grossmutter. So ist sie ist immer da,» erzählt Kahli gerührt.
Kahlis Geschichte mit Marlon Brando ist so gut, dass sie der französische Filmemacher Thomas Deflandre vor wenigen Monaten zu einem witzigen Kurzfilm des schwarzen Humors gemacht hat: Hauptdarsteller Kahli Belkheir, Ort der Handlung «Ô Poêle». Während Kahli nebenher zwei lästige Kerle kaltmacht, erzählt er seine Geschichte vom Treffen mit dem nicht erkannten Superstar Marlon Brando. Fast genauso, wie er sie vorher auch im Gespräch zum Besten gab. Der achtminütige Film wird demnächst öffentlich. Als Beweis zeigt Kahli eine noch nicht endgültig bearbeitete Version.
Was ist im realen Leben Wahrheit und was Fiktion? War die Geschichte mit Marlon Brando nun so oder ist das nur eine schön ausgedachte Filmanekdote? Kahli lacht und sagt, diese Geschichte habe er «sans blague» am eigenen Leib erlebt. Betrachtet man ihn dabei, kann es gar nicht anders gewesen sein. Er ist der Erzähler, den das Leben prägt, aber auch der Abenteurer, der einmal weiterzieht. «Paris ist eine wunderschöne Stadt – und doch ist einmal alles zu Ende. Ich verachte Menschen, die nicht wissen, wann es Zeit ist», erzählt er etwas melancholisch. «J’ aime les aventures mais une fois pour toutes, c’est fini».
Nun verkauft er sein Lokal und zieht schon im Herbst dieses Jahres nach Andalusien an einen neuen Ort, in eine neue Bar. Diese wird sicher wieder wunderbar gemütlich sein und – ein Vorteil wie Kahli betont – dort scheint die Sonne immer. Dem manchmal kalt-regnerischen Paris und seinem 19. Arrondissement aber wird mit seinem Weggang viel fehlen. Sicherlich aber der warme Ofen und der «grand esprit». Diese Tristesse kann dann auch die ehrenwerte Philanthropische Gesellschaft nicht wegbringen.
Nun, was hat das alles mit Bern zu tun?[4] Nichts und doch einiges: Als ich vor vielen Jahren in der Berner Altstadt einen Kaffee trank, kam eine langbeinige, blonde Frau ins Lokal. Sie glich haargenau der Ursula Andress, unserem Schweizer Bond-Girl[5]. Schüchtern wagte ich nicht, sie anzusprechen, staunte mit offenem Mund und sah voller Neid zu, wie sie in elegantester Art und Weise mit dem sie begleitenden Mann «causierte». Als ich zu Hause stolz von meinem Treffen mit «Ursi-National» auftrumpfte, lachte meine Grossmutter nur und meinte: «Ach was, das war ihre Schwester. Diese gleicht ihr, sie hätte auch beim Film landen können. Doch sie blieb in Ostermundigen. Die ist doch wenigstens vernünftig – oder?».
Dies geht mir durch den Kopf, nach Hause gehend, um die Ecke biegend von der ruhigen Passage de Melun hinein in die belebte Avenue Jean Jaurès. Noch ist es erstaunlich hell am späten Juliabend im 19. Arrondissement.
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Der Song zum Text: Erik Satie, «Cinema», Entreacte aus dem Ballett Relâche, Filmmusik zum Stummfilm von René Clair, 1924. Aufnahme mit dem Ensemble Ars Nova, 1981.
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Der Berner Michael Kaufmann war als Direktor der Hochschule Luzern-Musik von 2011 bis 2019 in Luzern. Bevor er im Juli 2020 als Heimwehberner in die wichtigste Hauptstadt der Welt zurückkehrt, hat er sich für einige Monate Paris entschieden. Er versuchte, mit ungewollten Unterbrüchen, im 19. Arrondissement der Metropole zu wohnen. Ein Umweg mit vielen ungewohnten Paris-Spaziergängen. Das lohnte sich – gerade auch in Krisenzeiten.
[1] Patrick Modiano, letzter Satz aus «Souvenirs dormants», Gallimard 2017 («Dans vos souvenirs se mêlent des images de routes que vous avez prises et dont vous ne savez plus quelles provinces elles traversaient» (übrs. mk)
[2] Die Gesellschaften der Menschenfreunde, philanthropische Gesellschaften, sind ab Ende des 18. Jahrhunderts überall in ganz Europa und England entstanden. So auch in der Schweiz. Die bürgerlich orientierten Institutionen – heute meist Stiftungen – wollten unter Einsatz privater Mittel menschliches Leid lindern und Gutes tun. Dies immer innerhalb der jeweils herrschenden Gesellschaftsordnung und mit dem politischen Nebeneffekt, damit radikalere Bewegungen, Umsturz oder gar Revolution abzufedern.
[3] Marlon Brando (1924 -2004): Einer der grossen US-Schauspieler der Nachkriegszeit mit Grosserfolgen des literarischen Kinos wie «Endstation Sehnsucht», «Meuterei auf Bounty», «Der Pate», «Apokalypse Now». Das grosse europäische Kino prägte er vor allem mit dem Aufsehen erregenden «Last Tango in Paris» (1972) von Bernardo Bertolucci.
[4] Die Journal-B-Redaktion betonte mit ihrer Bereitschaft diese «Spaziergänge von Hauptstadt zu Hauptstadt» zu publizieren, dass immer auch ein Bern-Bezug sein müsse. Was hiermit geschieht.
[5] Mit dem ersten Bond-Film, «007 jagt Dr. No» (1962) wird die Bernerin Ursula Andress weltberühmt. Scheinbar hatte ihr ein gewisser Marlon Brando geraten, Schauspielerin zu werden. Und hier noch ein weiterer Bern-Paris-Bezug: Andress lebte in den 1960ern einige Jahre lang mit dem französischen Schauspieler Jean-Paul Belmondo zusammen. Natürlich in Paris – und nicht in Ostermundigen.