Nach Europa

Forse hai persino ragione: l’Europa

unita non è che un disordine di desideri.

E quindi? Ti sembra davvero abbastanza

per mostrare i tuoi denti bianchi, ridere,

ripetere il sermone del modello svizzero?

Dimenticando di dirci chi sei e da dove vieni

veramente. Dimenticando quello che dà vita

alla vita: l’incerto, l’impuro, l’impossibile.

Se questa è sul serio la tua terra promessa,

puoi tenerla per te. Coltivaci i tuoi sassi.

Nel frattempo, con l’orizzonte in ombra,

tutto il resto nel buio, continuo a credere

che senza un grano di sale e di senape

non siamo nulla.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B veröffentlichte seit dem 28.7. täglich einen der Texte. Das Gedicht von Yari Bernasconi heute macht den Abschluss. Erschienen sind «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber, «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich, «als ich in europa war» von Katja Brunner, «Ewiges Europa» von Georg Kreis, «Europapa» von Donat Blum, «Nach Europa» von Franz Hohler, «abgesang europa» von Raphael Urweider und «Je suis un populiste» von Daniel de Roulet. Sämtliche Texte können auch auf der Website www.marignano.ch nachgelesen werden.

Je suis un populiste

von Daniel de Roulet 5. August 2016

Je me méfie de ceux qui veulent donner à l’Europe une feuille de route qui débute par le renforcement de la police (Europol, Eurojust). Commencer l’Europe par une monnaie était une erreur, la commencer par la police est un appel à la guerre. Feuille de route, feuille de déroute. L’Europe est d’abord un espace culturel, c’est pourquoi j’ai confiance dans l’Europe. Pas celle de la commission de Bruxelles, mais celle de la multitude et du mélange des peuples. Je conspue la feuille de route qui veut des camps aux frontières de l’Europe, loin des yeux, loin du cœur, loin des peuples.

Suis-je un populiste?

Je me méfie de l’État-Nation qui en Europe entre 1914 et 1945 nous a valu 72 millions de morts, comme le dit George Steiner. Mais je me méfie encore davantage d’un État-Europe qui provoque des guerres et des massacres à ses frontières, en Bosnie, en Libye, en Syrie. J’ai la méfiance populiste, mais j’ai confiance dans les No Borders, les autonomes et même les anarchistes qui sont sur le terrain et prêtent main forte contre l’encampement du monde.

Je me moque gentiment de celles et de ceux qui se disent progressistes et emploient au noir une femme de ménage africaine. Mais je les respecte s’ils sont allés à Calais, à Lampedusa, à Lesbos pour accueillir les migrants.

Je désapprouve l’introduction forcée de l’anglais dans les écoles du canton de Thurgovie comme dans les lycées de France et de Navarre. J’approuve les échanges linguistiques avec les Arabes, les Chinois, les Suisses allemands et autres peuples.

Suis-je un populiste?

Je rigole des planqués de Davos qui cherchent à faire payer à 99% de la population mondiale la rente des nantis à vie. J’ai le rire facile, le rire du populiste.

Je déteste les campagnes électorales qui puent la haine et le fric. La démocratie ce n’est pas le vote et le revote, mais des palabres, des échanges et, pourquoi pas, un consensus pacifique et populaire. Je désapprouve la haine des affiches nationalistes et le fric des groupes de presse qui se paient l’opinion. Je préfère les flyers, les fanzines et les romans populaires.

Quand vient le premier août, je chante les paroles de notre hymne national: «Respectons nos diversités, à chacun sa liberté.»

Je suis un populiste.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B veröffentlicht täglich einen der Texte, noch bis am 6. August. Erschienen sind bereits «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber, «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich, «als ich in europa war» von Katja Brunner, «Ewiges Europa» von Georg Kreis, «Europapa» von Donat Blum, «Nach Europa» von Franz Hohler und «abgesang europa» von Raphael Urweider. Sämtliche Texte können auch auf der Website www.marignano.ch nachgelesen werden.

abgesang europa

von Raphael Urweider 4. August 2016

tiere ziehen wieder durch die städte, menschen

liegen auf den plätzen ausgestreckt mit wunden, eitrig

heute sonderangebot, die marder, füchse und die

katzen voller flöhe wären ja wohl blöd, würden sie nicht

zugreifen, zubeissen, die tiere sind nicht schuld, tiere

sind nie schuld, sie sind ohne moral. da wird etwas verladen

in eine ambulanz, die schon fast alle farbe verloren, athen,

zweitausendscheißdrauf, europa zieht sich nun, nach

wirtschaftsfreudiger expansion in sich zusammen, wie

eine mit ameisensäure übergossene wegschnecke, noch

etwas zäher schaum an ihren rändern, in dem die

ausgegrenzten kleben, von kameras verfolgt, von

interessierten, unbezahlten journalisten die insektenforschern

gleich statistik machen – fickt euch südländer, und du, geh

doch nach russland, osteuropa, was wir seit millenien

zusammengerafft wollten wir niemals teilen, was habt ihr

euch gedacht? eine mutter sucht im müll nach ihren

kindern, die auch nichts brauchbares gefunden außer

vielleicht den tod denkt sie und schmiert sich eine droge

oder ist es leim ins zahnfleisch. was habt ihr euch gedacht?

in griechenland wuchs einst die hehre idee demokratie

auf dem buckel von sklaven und missbrauchten sklavinnen,

eine elite, nicht mal zwanzig prozent einer bevölkerung,

eine bequeme männerrunde, für die das unten unsichtbar

und an universelle  macht glaubte sowie an ideen. europa,

ein apartheidsgedanke und heute bezahlen wir die rechnung

kameraden,schnallt euch an für einen nächsten höllenritt,

zum glück gibt es all die tollen erfindungen: schießpulver,

stacheldraht, die verschiedenen folterinstrumente, stahl, 

gut erprobt in all den kolonien. vielleicht war ja europa nie

was anderes als blutrünstige mächte, die sich ferne welten

unterworfen, um dann noch zweitausendscheißdrauf weit

entfernte sklavereien aufrecht zu erhalten. das ging ja gut,

bis dann die sklaven beine kriegten, digitales wissen,

und sich dachten, ja, europa ist nicht nur ein wort nicht nur

gedanke, nein man kann da hin und auch sein glück versuchen

doch ist europa alt, das glück fast aufgebraucht und längst

verteilt. luxusprobleme häufen sich und katastrophen

versteckten sich gut unter streicheleinheiten unsrerer

gadgets. geschichte nunmehr hinter glas, geschmeidig

animiert: verdun in 3d., touchscreen theresienstadt, gulags

als kulissen für ego shooter, als wäre die vergangenheit

nunmehr ein streichelzoo, und kein weg führte je wieder zurück.

am abend schießen sie, am morgen gibt es jetzt kein wasser

mehr, an nachmittagen fliegen drohnen über felder, wo die

toten kühe liegen, was wir als zivilisation begriffen, wurde

aus langeweile angezweifelt und dann auf dem scheiterhaufen

mit anderen ideen abgefackelt, eiterte, und die dünne haut

platzte auf. jetzt leben wir in narben die nicht heilen wollen.

 

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Nach Europa

von Franz Hohler 3. August 2016

Du musst ein Stück der Passstrasse nach, und dann bei der Waldhütte rechts abbiegen, sagt dir der bärtige Mann mit dem Hund an der Endstation des Postautos, nachdem du gefragt hast, wo es hier zum Bergsee geht. Du tust, wie er dich geheissen hat, steigst dann einen Fahrweg zu einem Maiensäss hinauf, der einmal durch einen alten Tunnel führt, nach dem Maiensäss wird der Pfad schmaler, ein Wanderweg, der über ein Band am Fuss einer schier endlosen Felswand führt, mit grandiosen Ausblicken in die Tiefe des Bergtals, aus dem du gekommen bist, oft fällt auch unter dem Pfad eine Felswand ab, und du hältst dich, mit Schwindel kämpfend, mit der linken Hand an einem fixen Seil, siehst vor dir eine Bergkette, über die nun langsam Gewölk aufzieht, gelangst endlich zum Ende der Felswand und steigst nun eine Schneise hoch mit uralten hohen Fichten, deren Wurzeln und Stämme mit Moos und Flechten überzogen sind, dazwischen wächst üppiges Gras, und du hörst auf einmal Glocken bimmeln, da muss also eine Alp in der Nähe sein, und einzelne Waldkühe drehen ihre Köpfe nach dir um, du blickst auf die Uhr und siehst, dass du vor bloss vier Stunden noch in der Stadt warst, im Morgengewühl eines Hauptbahnhofs, wirst dir auch bewusst, dass du seit dem bärtigen Mann mit dem Hund niemanden mehr gesehen hast, und denkst mit einem plötzlichen Glücksgefühl, das ist die Schweiz, das ist die Schweiz, steigst höher und höher, ohne die Alp zu erblicken, zu der die weidenden Kühe gehören, und stehst schliesslich am einsamen Bergsee, über dem ein Nebel liegt, der das andere Ufer verhüllt, in Erwartung der Stille, die dir als Lohn für deine Wanderung zusteht, doch die wird gestört vom Knattern eines Motors und von wirren Rufen, und langsam taucht ein Schlauchboot auf, übervoll mit dunkelhäutigen Menschen, die dich ungläubig und hilfesuchend anschauen und mit den Händen fuchteln, von Strapazen gezeichnet, am Bug steht ein Mann in einem langen, weissen Gewand, wirft dir, als das Gefährt näherkommt, ein Seil zu, und du kannst nicht anders als es mit beiden Händen zu packen, und du ziehst das schwer beladene Boot an Land, an dein Land, das mitten in Europa liegt.


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Europapa

von Donat Blum 2. August 2016

Ein Kindervers zu Propaganda- und Unterhaltungszwecken
Ein Kindervers zu unterhaltenden Propagandazwecken.
Ein Kindervers zur Unterhaltung von Propagandazwecken.

Dies ist ein Reigen. Er wird idealerweise von einer Kinderschar vorgetragen. Für jede der Strophen tritt ein anderes Kind (idealerweise männlich) aus den Reihen hervor und rezitiert seinen Vers so entschieden und deutlich wie möglich. Den Refrain und den Abschluss spricht der Chor.

CHOR:       Europapa, wir sind nicht Teil von Europapa.

KIND 1:     Wir sind Berge, wir sind Volk.
                    Wir sind alles, aber keine Zwerge.
                    Wir sind Bauern. Wir sind fleissig.
                    Wir haben unser Geld verdient.

                    Wir sind bilateral.
                    Wir sind Personen.
                    – Freizügig.
                    Wir setzen Grenzen.

                    Wir sind Traditionalisten.
                    Wir sind traditionelle Humanisten.
                    Wir sind EeTeHa. Wir sind das Rote Kreuz.
                    Wir sind alles, nur keine Egoisten.

CHOR:       Europapa, wir sind nicht Teil von Europapa.

KIND 2:     Europapa, ich habe einmal die Euromaus getreten.
                     Ich war sechzehn. Ich wurde hinausgeworfen
                     – aus dem Freizeitpark.

CHOR:       Europapa, wir sind nicht Teil von Europapa.

KIND 3:     Europapa, Vater Staat sagt, du seist nicht mein
                     Vater?
                     Was sagt Mutter Erde dazu?
                     Habt ihr wirklich nie miteinander geschlafen?

CHOR:       Europapa, wir sind nicht Teil von Europapa.

KIND 4:     Europapa, du bist nicht mein Vater!

                     Ein Kuckuckskind
                     – Untergejubelt,
                     von Mutter Erde.

                     Ein Findelkind,
                     – in einem Korb gefunden,
                     auf dem Rhein.

KIND 5:     Europapa, wir teilen keine Gene.

CHOR:       Wir sind Kinder.
                     Wir sind Schnecken.
                     Wir sind selbst befruchtet.

                     Wir sind Tell.
                     Wir sind Apfel.
                     Wir sind eingeschossen:

KIND 6:     Wir sind Eidgenossen!

Die Kinder recken die Sturmgewehre (idealerweise ihrer wehrpflichtigen Väter) gen’ Himmel – strahlend, überzeugt und glücklich.

Abgang.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B veröffentlicht täglich einen der Texte, noch bis am 6. August. Erschienen sind bereits «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber, «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich, «als ich in europa war» von Katja Brunner und «Ewiges Europa» von Georg Kreis. Sämtliche Texte können auf der Website www.marignano.ch nachgelesen werden.

Ewiges Europa

von Georg Kreis 1. August 2016

Um 1955 hat meine Mutter, von einem an der Wohnungstür klingelnden Verlagsvertreter heimgesucht, ein dreibändiges Werk von über 1500 Seiten gekauft: grüne Leine mit Goldprägung und mit dem klassischen Titel «Europa Æterna» – ewiges Europa. Sie hat darin wohl kaum längere Zeit gelesen. Der Dreibänder stand aber standhaft und grossformatig neben vielen kleinen Büchlein (Reclams und Insel) und natürlich einer Schweizergeschichte (Büchergilde) im einzigen Bücherregal. Warum hat sie, die eher knapp bei Kasse war, ihn erworben? Und warum hat der Verlag – offenbar zu Recht – darauf gesetzt, mit einem solchen Produkt nicht nur bei meiner Mutter einen kommerziellen Erfolg zu landen?

Das war eben in den 1950er Jahren. Das heisst, kurz nach dem Krieg, als Europa überhaupt nicht «æterna», sondern ziemlich kaputt war – dies auch noch Jahre nach 1945. Da war Europa das westeuropäische Abendland, das vor einer roten Zukunft bewahrt werden sollte. Doch das ist lange her. Inzwischen hat sich – im «ewigen» Europa – vieles verändert.

Europa hat vorwärts gemacht, viele Absichten verwirklicht, viele Versprechen eingehalten. Inzwischen gibt es ein Europäisches Parlament, das diesen Namen verdient. Inzwischen gibt es den burgunderroten Europäischen Pass, eine gemeinsame Unionsbürgerschaft, wenn auch nicht Staatsbürgerschaft. Inzwischen gibt es den 2007 in Lissabon unterzeichneten Europäischen Vertrag. Und vieles mehr.

Gibt es inzwischen auch zu viel Europa? Das sei nicht ausgeschlossen. Einzelne Übertreibungen sind sattsam bekannt. Vor allem die längst wieder aufgehobene Vorschrift zur Gurkenkrümmung. Alles in allem funktioniert die EU zur vollen Zufriedenheit, aber weitgehend unbeachtet und als selbstverständlich hingenommen. Gewiss gibt es auch ein paar grössere und durchaus ernsthafte Probleme, insbesondere die Verschuldungsvorschrift und die fehlende Solidarität in der Flüchtlingspolitik. Diese sind fast willkommene Angriffspunkte zur Artikulation einer diffusen und doch markanten Ungehaltenheit.

Inzwischen haben sich nämlich die vorherrschenden Haltungen Europa gegenüber stark verändert. Regale mit «Europa Aeterna» dürfte es kaum mehr geben. Das liegt nicht an der EU, es wird kein Brockhaus-Lexikon mehr aufgestellt, und an Stelle von «Europa Aeterna» stehen jetzt eher Reise- und Kochbücher und Lifestyle-Magazine auf den Regalen. Vor allem geht man jetzt ins WWW-Netz, findet dort aber nur, was man sucht. Europa wird da nicht gesucht, und es gibt keine Hausierer, die mit einer Akquisitionsmappe für Europa unter dem Arm an unseren Türen stehen.

Nach der ersten Aufbruchsstimmung der Bürger und Bürgerinnen gleich nach dem Krieg ist die Europäische Gemeinschaft als Regierungsprojekt ohne Basisbezug kontinuierlich auf- und ausgebaut worden. Das war der Basis mehr oder weniger recht, jedenfalls hatte sie nichts dagegen. Ins Gewicht fallende Opposition gegen die EU gibt es erst in jüngster Zeit. Zur Opposition grundsätzlicher Art gesellte sich Opposition gegen konkrete Handhabung. Dabei überwiegt das Grundsätzliche das Konkrete; und dabei hat ein negativer Diskurs den vormals positiven überlagert.

Diskurs? Zur Rechtfertigung der EU wird gerne darauf hingewiesen, dass sie die nationalen Kriege in Europa überwunden habe und ein ausserordentlich erfolgreiches Friedensprojekt sei. Das hat man auch 2012 wiederholt, als die angeschlagene EU mit dem Friedensnobelpreis ausgestattet wurde.

Mit dieser Erzählung, die übrigens auch ihre Fragwürdigkeit hat, erreicht man heutzutage die Menschen in Europa kaum noch. Und weil man meint, dass es wegleitende Stories sind, mit denen man die Menschen besser erreichen könne, ertönt der Ruf nach einer neuen Erzählung. Ein anderes Narrativ muss her.

Zur EU gäbe es zwar viel Gutes zu erzählen: über den Einsatz für Rechtsgleichheit, über den Kampf gegen Kartelle, über Konsumentenschutz, Transportkontrollen, Prävention gegen Epidemien, Disziplinierung der Banken, Schliessung von Steuerschlupflöchern etc. etc. etc. Auch das Problem der immer häufiger abgeschlossenen bi-nationalen Ehen – und wiederum ihrer Scheidungen.

Das ist nicht mehr Abendland. Das meiste ist nicht im erwünschten Mass heroisch. Vieles funktioniert still, ohne angemessene Anerkennung. Alles in allem ist die jetzige EU im Vergleich zur früheren EG, als ihre Völker «Europa Aeterna» auf ihre Regale stellten, überhaupt nicht schlechter geworden. Ganz im Gegenteil.

Die aufgezählten Leistungen gehörten traditionellerweise in die Pflichtenhefte der Nationalstaaten. Heute aber können viele vormals nationale Aufgaben nur auf der supranationalen Ebene geregelt und überwacht werden. Dies wird – bei einiger Reflexion – theoretisch auch anerkannt. Wie aber steht es um das erhabene Gefühl, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden? Da gibt es keinen entsprechenden Transfer «nach oben». Muss das Wir-Gefühl auf die nationalen Nester beschränkt bleiben und gar gegen Europa eingesetzt, muss Europa vor allem als Deponie für Ängste und blossen Missmut benutzt werden?

Das «ewige» Europa ist in hohem Mass vom Wechselwetter abhängig, es ist paradoxerweise ein Schönwetterprogramm, obwohl Europa gerade bei schlechtem Wetter besonders benötigt würde. Es offenbart sich jetzt, zum Beispiel gestützt auf das halbe Brexit-Votum, die schnelle Bereitschaft, gegen die EU ausfällig zu werden, als ob man sehnlichst darauf gewartet hätte, das Vergemeinschaftungsprojekt schlechtreden zu können.

Eine besondere Variante, gegen Europa zu sein, besteht darin, sich auf Europa zu berufen. Zum einen wird gerne darauf hingewiesen, dass der Verbund von 27 oder noch 28 Staaten ja nicht das ganze Europa sei, weil da ein paar wenige – etwa Island und die Schweiz – noch nicht dabei sind. Oder es wird gesagt, dass ein teilweise zusammengeführtes Europa mit dem eigentlichen und «ewigen» Vielstaaten-Europa unvereinbar sei. Hier müssten wir bei der in der Schweiz eigentlich bekannten Einsicht ankommen, dass die Existenz eines Bundes mit dem Weiterbestehen von kantonalen Bundesgliedern (Kantonen) nicht unvereinbar sei.

Gutmeinende, aber in unverbindlicher Weise besserwisserische Kommentare erklären, dass man Europa nun neu erfinden müsse. Dies lässt sich umso leichter empfehlen, als man das bestehende Europa kaum kennt. Ob «ewig», ob neu oder alt, ob reformbedürftig – ein gemeinsames Europa kann nicht besser sein, als es seine nationalstaatlichen Mitglieder und ihre Bürger und Bürgerinnen sind. Das jedenfalls ist gleich geblieben.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Bereits erschienen sind «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber, «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich und «als ich in europa war» von Katja Brunner. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch

als ich in europa war

von Katja Brunner 31. Juli 2016

eine unvollständige Rückschau – eine Mutmassung – ein Kaleidoskop

Aber, das mit diesem Europa, das war doch – war das nicht, das mit diesem Europa, war das nicht die Geschichte vieler Stämme, die in Eintracht und Treue leben würden bis an ihr Lebensend? Und darüber hinaus?

Viele Stämme von ehemaligen Pfahlbauern über MazedonierInnen bis hin zu Hamstern? Aber wo kommen die Zuchtanfänge der mitteleuropäischen Hamster nochmal her – aus Syrien, oder nöd? Aber, das mit diesem Europa, das war doch diese Idee, dann irgendwann einmal, dass man sich zusammenschliesse, in Handel und Frieden so weit geeinigt? In Wirtschaft, die käme, den Frieden zu stiften? Aber hat dann die Wirtschaft den Stift verloren und nicht mehr so mitgeschrieben, dass es alle sehen könnten, die sich da angeschlossen hatten? Aber, das mit diesem Europa, was ist damit passiert? Es runzeln einige die Stirn und wundern sich, dass man der Idee noch nachweint.

Als ich in Europa war, war ich in der deutschen Einheit und ich war ein Stern auf einer Odessiter Mütze. Ich war in einem Prager Waisenhaus und habe Deutsch gesprochen. Als ich in Europa war, habe ich ein Murmeltier gehäutet und ich habe eine Führung durch den Vatikan gemacht, da habe ich einiges über die symbolische Trächtigkeit von Bienen und über alte nachlässige Herren gelernt. Ich habe Krypten angeschaut und mir sind Tränen und Tagträume die Beine runtergelaufen. Als ich in Europa war, stand ich an den Toren von Auschwitz und schwitzte nichts aus. Als ich in Europa war, stand ich am Tor von Auschwitz und wartete auf eine körperliche Reaktion. Die Blockhäuser waren von der Sonne hell beschienen und ich hatte die Ahnung einer Gänsehaut und Staccatoatem. Als ich in Europa war, stand ich an der Mosel und sah Denkmäler untergehen. Als ich in Europa war, sah ich kriegssystematische Vergewaltigungen an Frauen, ich sah, dass Affen Frauen zerfetzten, als ich in Europa war, sah ich müde Augen, die volle Einkaufstaschen trugen. Ich sah Kinder aus systematischen Kriegsverbrechen entstehen und aufwachsen. Als ich in Europa war, sah ich religiöse Bauten zusammenstürzen, ich sah kleine Kinder weinen, weil ihnen Eisbecher aus der Hand fielen. Ich sah in der Folge Hunde Eislachen auflecken. Ich sah grossartige Bauten einstürzen, weil sie’s müde waren. Sie waren es müde geworden tagein, tagaus als Menschenbeherbergungszentren zu funktionieren. Ich sah Landschaften ausbluten. Ich sah Landschaften einknicken, weil in ihnen das Erdöl implodierte. Ich sah Hamstermütter, die ihren Nachwuchs auffrassen, so der Nachwuchs an einem Herzfehler litt. Ich sah, dass einige Existenzen bedroht waren und andere nicht. Ich sah bedrohte und zeitweilig bedrohliche Existenzen, deren Urin in den Asphaltritzen versickerte. Ich sah Zeiten und Gewese. Als ich in Europa war, sah ich breite Nasen und spitze Gesichter, ich sah Ecken in Wangen, ich sah Schwielen in Händen, ich sah Nasen als Triefgeräte und ich sah Tiefseetauchende, die Suizid durch platzende Lungen begingen. Als ich in Europa war, sah ich Lüstlinge, die sich ukrainische Frauen bestellten und Zärtlichkeit gegen Aufenthaltsbewilligung austauschten, ich sah Schmetterlinge, die am Rheinfall in den Tod stürzten. Als ich in Europa war, sah ich Alte in Altersinstitutionen an Atmungsgeräten geistig verwesen, ich sah Alte, die von ihren Enkelkindern beklettert wurden wie von der Sonne erwärmte Berge. Ich sah Menschen, die auf Teppichen beteten. Ich sah andere, die gar nicht beteten. Ich sah wieder andere, die knieten aufrechten Oberkörpers, um ihrer Glaubensinstanz freundliche Worte zu zumurmeln. Ich sah die neuen Krater von Aleppo und Glücksblüten in den Gesichtern von FPÖ/ SVP / AfD-Wählern, ich antizipierte den baldigen Untergang des weissen Mannes, der aber blieb hartnäckig. Ich las minutiös recherchierte Artikel über das Leiden und Geradenochexistieren diverser moderner Sklaven und schlief deswegen in Schieflage. Ich sah Menschen, die wegen der Abwesenheit von Kapital kapitulierten und sich in der Folge trotzdem nicht vor Züge warfen, ich sah in Mitteleuropa aufgewachsene Menschen, die darüber berieten mit welcher Strategie man denn nun am erfolgreichsten Diätpopcorn unter junge Erwachsene bringe. Als ich in Europa war, sah ich Menschen, die Zutritt wollten zu eben jenem Europa und dafür in Tierlastern erstickten. Die dafür bezahlten, um auf ihrem Weg in eine Vermeintlichkeit zu erfrieren, zu ertrinken, zu ersticken. Als ich in Europa war, sah ich Kleinkinder an Stränden in atmungsaktiven Sonnenschutzanzügen genau so wie ich Säuglinge sah, von der damals falschen Seite angespült, keine Atmung mehr zu vermerken. Ich sah brennende Zentren, ich sah zerdrückten unteren Mittelstand. Ich sah die Traurigkeit der Klopfkäfer.

All das sah ich, während ich nichts tat. Nach Europa.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Bereits erschienen sind «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber und «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch

Ich bin Europäerin. Würde ich tot in den USA an Land gespült, würde man mich dort als Caucasian Female. Late Forties einordnen. Aufgrund der Titanschraube in meinem Knie würde ich schliesslich identifiziert. Deutsche. Schweizerin durch Einbürgerung.

Where do you come from? Europe! Continent or concept?

Ich bin Europäerin. Vor ein paar Tagen stand ich in Oxford vor Sapphos Gedichtfragmenten, der Magna Carta, der Handschrift von Kafkas Verwandlung, der Chanson de Rolande, vor Dorothy Hodgkins Arbeit über das Penizillin. Die Schätze der Bodleian Library. Alles aus Europa.

Europa. Das bedeutet: Die mit der weiten Sicht. European Union: ein Euphemismus.

Ich bin Europäerin. Vor zwei Wochen stand ich im Londoner Dockland-Museum vor dem Tisch von Thomas Fowell Buxton, der vor knapp 200 Jahren im House of Commons die Abschaffung der Sklaverei gefordert hat. Kolonialismus. Sklaverei. Ausbeutung, Massenmord. Alles aus Europa.

There is no such thing as Splendid Isolation. Es gibt sie nicht, die Insel der Seligen.

Ich bin Europäerin. Und EU-Bürgerin. Ich habe am Tag des Referendum in London einen «I’m in»-Button getragen. Und auch noch am Tag danach. Ich bin drin. «Me too!», haben die Leute in der Tube zu mir gesagt, «Me too!» Oder «I wish you still were.» Sie haben mich für eine Britin gehalten.

Das einzige Land, in dem der Europatag ein gesetzlicher Feiertag ist, ist der Kosovo.

Ich bin Europäerin. Wer wäre ich ohne Nationalität (ich meine nicht ohne Papiere, Sans-Papiers)? Ohne Nationalität zu sein, stelle ich mir entlastend vor. Nicht bloss, weil ich als Deutsche geboren worden bin.

In Oxford ist auch das Typoskript der proeuropäischen Rede von Sir Geoffrey Howe ausgestellt. Es heisst, diese Rede habe 1990 Maggie Thatcher zu Fall gebracht.

Ich bin Europäerin. Und EU-Bürgerin. Sowohl in England nach dem Brexit als auch in der Schweiz nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative haben sich Menschen bei mir entschuldigt, für die andere, die grössere, die erfolgreiche Hälfte.

11% der LondonerInnen haben sich Anfang Juli in einer Umfrage des Guardian für ein unabhängiges London in der EU ausgesprochen. 60% der befragten SchweizerInnen stimmten im Frühling 2016 der Aussage zu, dass die EU für Frieden sorge.

Ich bin Europäerin. In den 90ern war ich Leiterin bei Internationalen Jugendbegegnungen. Mit Jugendlichen aus Estland, Israel, Palästina, Malta, Polen, Deutschland, Italien usw. Ich habe immer geglaubt, dass es hilft, sich kennen zu lernen. Dass nichts so sehr das Interesse an einem anderen Land weckt, nichts so sehr die Offenheit fördert, wie persönliche Kontakte. Die meisten haben sich natürlich verliebt.

Die Schlange beim Einreiseschalter für EU und Schweiz am Flughafen ist oft länger als die für alle anderen. Der Club ist nicht mehr so exklusiv wie auch schon. Aber es gibt noch genug Länder, die sich seit Jahren um einen Beitritt bemühen. Die nicht freiwillig draussen sind.

Ich bin Europäerin. Generation Nato-Doppelbeschluss. Generation Ostermärsche. Als ein US-Reiseunternehmen mit dem Slogan Besuchen Sie Europa, solange es noch steht geworben hat. Als wir dachten, die Gefahr würde von aussen kommen. Dabei hätten wir (in Deutschland) es doch besser wissen müssen.

2015 starben allein auf dem Mittelmeer über 3 600 Menschen bei dem Versuch, in die EU zu gelangen.

Ich bin Europäerin. Ich glaube an die Europäische Menschenrechtskonvention. Daran, dass es gut ist, wenn die Nation nicht das Non plus Ultra ist. Ich glaube, dass Europa sich nach 1945 auf wichtige gemeinsame Werte verständigt hat. Ich glaube nicht, dass Abschottung dazugehört. Kapitalismus auch nicht.

Zwischen 1959 und 2015 wurde die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof 97mal wegen eines Verstosses gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt. Italien 1781mal, Frankreich 708mal, Österreich 250mal, Deutschland 182mal, um nur die Nachbarn zu nennen.

Ich bin Mensch. Aus der Generation Click-for-Change. Und auch wenn das bloss ein Engagement mit beschränkter Risikobereitschaft ist, begeistert es mich, wenn ich sehe, dass ich eine Online-Petition unmittelbar nach einer Mongolin, einem Finnen, vor einem Nigerianer und einer Peruanerin unterschrieben habe. Und nicht nur beim Einsatz für Wale und Elefanten, sondern auch für Indigenenrechte, gleichgeschlechtliche Ehe, Abschaffung der Todesstrafe.

Die mitochondriale Eva, gemeinsame Vorfahrin aller heute lebenden Menschen, hat mit grosser Wahrscheinlichkeit in Afrika gelebt.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Bereits erschienen sind «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter und «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch

Ich sah Kinder Drachen basteln aus alten Zelten, die Drachen flogen nicht, ein Gewitter flog über das Feld, Hagel auf Zelte, in einem der Zelte lag ein drei Tage altes Kind.

Und Mesut erzählte mir seine Geschichte der Flucht, vom Fahren über das Meer, vom Gehen bis zu dieser Grenze, vom Ankommen, einen Tag zu spät, die Grenze dicht. Wir würden gerne in die Schweiz, sagte er und seine Schwester Selma stand vor der grünen Landschaft in ihrem schwarz gelb gepunkteten Kleid, vor der Aussicht nach Mazedonien, vor dem dunkelgelben Sonnenlicht. Mach ein Foto, sagte sie zu ihrem kleinen Bruder. Abi, für die Familie, als Erinnerung für mich.

Ich sah Menschen aus Holland Suppe kochen in Töpfen gross wie Kirchenglocken. Sie hörten dabei Musik, tanzten zu Beyonce, drehten die Kellen in den Töpfen, verjagten Hühner und Hunde vom Hof. Sie schälten Tomaten, zerhackten Kräuter, legten sich zwischendurch hin. Im Schatten schliefen Hunde und Menschen, einer setzte sich zum Topf Putzen in den Topf, den er putzte, hinein. Ich sah syrische Frauen aus dem Camp in dieses Haus am Stadtrand kommen, um zu zeigen, wie man in ihrer Heimat kocht.

Von dem, sagten sie.


Von dem, und das muss hinein.

Ich sah eine schwarz gekleidete schwerhörige Griechin, sie schrie die syrischen Frauen an. Calimera, schrie sie.

Syria, schrien die Frauen zurück.

Ich sah wie die Suppe in Busse geladen wurde, sah hunderte Menschen warten, auf die Suppe, Wasser, am Waldrand. Ich sah links die Frauen, rechts die Männer stehen und Kinder zwischendrin. Ich sah Spanierinnen Suppe schöpfen stundenlang.

Ich sah Belgier im Warehouse stehen, einer Lagerhalle ausserhalb der Stadt Polykastro. Ich sah sie Kleider sortieren. Ein Franzose war bleich zwischen den hundert Kisten, versuchte die Kisten zu ordnen und als er eine Ordnung hatte, kam aus Italien ein Lastwagen mit neuer Ware an. Es roch nach Schweiss, nach Staub, es roch nach Hund, es roch nach dem, was Europa auch noch sein kann.

Ich sah die Grenze in Idomeni, dahinter Mazedonien, sein Militär, davor ein Tümpel, 9930 Menschen, ein Mädchen in einem Kleid, auf dem stand: girl from paradise.

Ich sah das Gewitter in Mazedonien stehen, der Wind riss an den Zelten und einem britischen Zauberer mit grosser Nase verschwand ein Tuch in der Hand. Er stand sehr gerade, der Zauberer, jeden Tag stand er da mit seiner Trompete im Staub und wartete auf die Kinder, ich schaute ihn gerne an. Er lachte und lachte und dann später beim Verlassen des Camps, nahm er sich selbst in den Arm.

Ich sah einen Popstar mit Botoxgesicht aus seinem silbernen Wagen steigen, sah ihn zwanzig Wasserflaschen in die Menge werfen, dann stieg er ein, fuhr davon. Hinter dem Wagen ging ein Junge, er fragte, ob der Mann die Grenze öffnen kann.

Ich sah wie Decken verteilt wurden und nie waren es Decken genug. Ich sah Victor in einem kleinen Auto hin und her und hin und her fahren, von Polykastro nach Idomeni, brachte Kiste um Kiste zu den Menschen hin. Ich bin ganz hyperaktiv, sagte Viktor, schaute mich mit seinen wilden Augen an, früher war das ein Problem, aber hier ist klar, was ich damit ausrichten kann.

Ich sah die Sonne in Idomeni und es gab keinen Wind. Es gab die Gleise Richtung Norden, das Feuer zwischen den Gleisen, die Wäsche an den Wäscheleinen zwischen Strommasten gespannt, und in einem Zelt das nun bereits sechs Tage alte Kind. Ich sah Kinder älter werden, viel zu schnell und  zu viele Kinder sah ich krank. Es flogen Flugblätter der Polizei als Flugzeuge am Himmel, auf den Blättern stand geschrieben, wo man in Griechenland besser leben kann. Niemand traute den Blättern, sie flogen in der Luft und über ihnen der Helikopter der Polizei.

Ich sah den Protest gegen das Vergessen von Menschen. Ich sah die Hilfe als Protest gegen das Vergessen, das Putzen als Protest gegen das Vergessen, die Banane als Protest, die Suppe, das Gemüse, die Kleider, das Pflegen, das Verarzten, das Basteln von Drachen als Protest, das Reden, das Erzählen, das Zuhören, das Falten von Kleidern. Ein Zaubern als Protest gegen das Vergessen der Menschen, deren Probleme nicht unsere sind.

Und dann ging ich zurück in die Schweiz und Idomeni verschwand, aus meinen Augen und wurde ein paar Tage später geräumt. Ich schrieb Mesut und fragte ihn, wie es ihm geht. Und Mesut spricht noch immer Deutsch, kein Griechisch, sitzt in Griechenland, spricht vom schönen Griechenland, den Menschen, die selbst wenig haben, hält seinen kleinen Bruder im Arm.


Abi, sagte er damals.


Abi, es gibt vielleicht eine Zukunft für dich.


Und der Bruder geht noch immer nicht zur Schule, liegt in der Sonne, duscht sich aus Petflaschen, liegt am Abend in Mesuts Arm. Und Mesut kann noch immer nicht schlafen, weil er nicht weiss, ob es für seinen Abi eine Zukunft geben kann. Und Selma ist noch immer die schönste Schwester in Griechenland, in ihrem gelb schwarz gepunkteten Kleid.

Selma nahm mir Haare vom Pullover.

Du musst dich kämmen, sagte sie zu mir, mindestens einmal am Tag. Das musst du für deine Schönheit tun.


Und Selma kämmt sich noch immer die Haare, einmal am Tag, vielleicht, weil sie hoffentlich immer noch an eine Zukunft glauben kann.

Ich habe lange nichts gehört von Mesut und sein Abi ist vielleicht in Griechenland, geht vielleicht zur Schule, hat vielleicht eine Zukunft, sieht vielleicht den Zauberer mit seiner Trompete, vielleicht isst er Aubergine mit Ei, vielleicht ist er in der Türkei, vielleicht hat er Angst, vielleicht nicht, vielleicht sieht er heute ein Feuerwerk, vielleicht liegt er in Mesuts Arm, vielleicht duscht er, vielleicht bekommt er Suppe, vielleicht ist Selma noch immer schön.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Bereits erschienen ist «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch

Der Trost, der bleibt

von Jürg Halter 28. Juli 2016

Jedesmal wenn ein hochbezahlter Sicherheitsexperte bemüht nüchtern erklärt, dass das Risiko bei einem Autounfall umzukommen weitaus grösser sei, als bei einem islamistischen Anschlag in Europa getötet zu werden, fällt in China eine Beruhigungspille von einem Fabriklaufband,

während in einem Hobbykeller irgendwo vor Dresden ein Nazi einen Brandsatz präpariert, um Recht und Ordnung wiederherzustellen,

während im Gebetstraum einer von Saudi Arabien finanzierten Moschee in Europa auf das Ende des Abendlands und den Tod der Ungläubigen angestossen wird,

während in Bern in einem Starbucks ein Mädchen dem anderen klagt, dass einfach nichts los sei in dieser Stadt,

während im Mittelmeer im Rücken von mit Maschinengewehren beschützten Schnäppchentouristen ein volles Flüchtlingsschiff untergeht,

während vor den neusten Verkaufszahlen auf dem Bildschirm weltweit kleine Freudentränen in die Äugelein von Waffenindustriellen treten,

während sich in Berlin Neukölln in einem Concept Store jemand nicht zwischen Laktose- und Glutenfrei entscheiden kann,

während im türkischen Kulturverein nebendran Männer stolz einer Lobrede Erdogans auf Putin in Erdogans Staatsfernsehen lauschen,

während in einem Pariser Vorort ein paar Jugendliche, die Baseballmützen tief im Gesicht, einen Appel-Kopfhörer im Ohr, einem jungen Mann mit runder Brille und Jutebeutel «Scheissjude» nachrufen,

während eine Wissenschaftlerin in Zürich kopfschüttelnd vor einer Wandtafel, auf der die Begriffe «Geschlechtergleichstellung» und «Religionsfreiheit» geschrieben sind, steht,

während ein polnischer Leiharbeiter in einer Kantine in Manchester davon träumt, sich in einen Roboter zu verwandeln, um nicht von einem solchen ersetzt zu werden,

während in Stockholm eine Frau, ihr schlafendes Baby auf dem Arm, einen negativen Asylbescheid erhält,

während in einem Hochhaus in Frankfurt ein Journalist mit geweiteten Pupillen vor einem anderen den Neoliberalismus mit den Worten «noch nie ging es uns so gut wie heute» verteidigt,

während fünf Hochhäuser weiter ein paar mit Millionenboni ausgestattete Banker gemeinsam mit einer renommierten Agentur die nächste Kampagne zur Bankrettung auf Kosten der Steuerzahler aushecken,

während in Warschau ein alte Frau einem Pokémon-Go-Spieler über die Strasse hilft, da es diesem nicht mehr möglich ist, vom Display aufzusehen,

während in einem Landgasthof im Thurgau der Milliardär Christoph Blocher vor fünfhundert Menschen tritt und «wir sind das Volk» sagt,

während in einer Yogaklasse in Rom ein Staubkörnchen ins Auge der Kursleiterin fliegt,

während zwei Kinder in einem Park in Brüssel auf einer Bank sitzend über ihre Lieblingsfussballer fachsimpeln,

während in New York Trumps Assistentin aus dem Internet die Präsidentschafts-Antrittsrede für ihren Chef abschreibt,

während in einem Hinterzimmer in Genf China und Katar den Bau einer neuen Öl-Pipeline, weg von Europa, beschliessen,

während in einer Airbnb-Wohnung in Rio de Janeiro ein Selbstmordanschlag auf die Schlussfeier der Olympischen geplant wird,

während in Südsudan in einem Lager abseits der hysterisierten Weltöffentlichkeit ein hungriges Kind seine letzten Atemzüge macht,

während in einem Flüchtlingslager in Griechenland ein Politiker ein Baby in die Kameras hält, bevor er zurück in die Lobby eines Fünfstern-Hotel gefahren wird, wo er während eines Interviews ohne Scham zehnmal das Wort «Empathie» in den Mund nimmt,

während in der Schweiz ein Schriftsteller in einem Strassencafé, ein Caffè freddo in der Hand, über die gewaltige Unschärfe des Begriffs «Wir» nachdenkt und sich doch vorstellt, dass es eigentlich genau jetzt an der Zeit wäre eine wirkliche, eine demokratische, eine solidarische, eine starke Europäische Union zu gründen, und seine Notizen mit den Worten «Tote Utopie!» durchstreicht.

Er fächert sich mit einer Zeitung frische Luft zu, während er in sein Notizbüchlein schreibt: «Und so geht das Gewurstel weiter, bis es nicht mehr geht. Die Menschheit, das erfolgreichste gescheiterte Projekt aller Zeiten.»

Eine Tram biegt um die Kurve, ein paar Kinder spritzen sich lachend mit Wasserpistolen an und der Schriftsteller lässt, geistesabwesend, einen Eiswürfel in seiner Hand schmelzen.

Er beobachtet wie das Wasser auf seiner Hose trocknet und fragt sich, ob das der Trost ist, der bleibt, während im Himmel über ihm ein Passagierflugzeug nach Europa fliegt.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Den Anfang machen wir mit Jürg Halter. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch