Bern ist überall

Auf der Münsterplattform strahlt und lächelt mich ein ganz kleiner Bub an. Er hat einen Daumen im Mund und wie das kleine Mädchen im Kinderwagen hinter ihm, hat er ganz grosse Augen, die jede meiner Bewegungen genau beobachten. Kinder sehen alles, denke ich und weil ich gerade zurück bin aus Spanien, wo ich auch in diesem Jahr meinen Gemüsegarten angelegt habe, sehe ich vor allem das üppige Grün der Kastanienbäume und staune über die Aare, die kräftig über die Schwellen rauscht.

Was für ein Segen!

Natürlich wurde ich seit meiner Rückkunft schon wiederholt gefragt, ob es in Spanien wirklich so heiss sei, wie behauptet werde.

Ja, es ist für die Jahreszeit tatsächlich ungewöhnlich warm. Es werden Höchstwerte gemessen und das Wasser wird entsprechend knapp. Auch wenn es jetzt regnen würde, wäre das Wintergetreide nicht mehr zu retten. Es ist grösstenteils tot. Dort wo es sich eine Hand breit oder sogar kniehoch aus dem Boden wagte, gehen die Schafe darüber oder es wird abgemäht wie Futtergras. Wenn man auf einem dieser Felder steht und die grünen Stoppel mit den noch zarten Ären sieht, aus denen nichts werden wird, kann man schon ins Grübeln kommen.

Dort wo die Äcker noch bewässerbar sind, hat man den Mais durch weniger durstiges Sommergetreide wie Sonnenblumen ersetzt. In Katalonien geht man derweil schon hinter das Grundwasser, verbietet das Giessen von Blumen und am Strand wurde das Duschen eingeschränkt. Wie bei jeder Dürre steigen natürlich die Lebenskosten und ganz schlimm: Es steigt auch die Waldbrandgefahr. So oft wie in diesem Frühjahr hat es noch nie gebrannt. Kein Wunder sind auch in Katalonien Wetter und Klima Thema Nummer eins. Noch dringender als die Unabhängigkeit von Spanien möchte man jetzt vor allem Wasser.

Das haben wir nun von dem schönen Wetter! sagte noch vor ein paar Tagen ein Nachbar. Ein anderer sagte, wenn es nicht bald richtig regnet, wird man uns im August das Trinkwasser mit dem Tankwagen bringen und das Bewässern der Gemüsegärten können wir vergessen. Keine schöne Aussicht.

Ganz besonders nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, woher der Tankwagen das Wasser bringen soll, wenn es doch überall fehlt. Deshalb habe ich beim Setzen meiner Kartoffeln auch wiederholt an Luther gedacht. Er soll bekanntlich gesagt haben, auch wenn morgen die Welt unterginge, würde er heute einen Baum setzen.

Jedenfalls ist es ein besonderes Gefühl, so viel Zeit beim Pflanzen zu verbringen, ohne zu wissen, ob die Ernte aufgehen wird.

Aber noch ist Spanien nicht untergegangen und auch wenn das Land eine absolut katastrophale Dürre erlebt, die erste ist es nicht. Spanien ist Spanien. Das heisst: Trockenheit und Hitze haben dieses Land schon immer geprägt. Hier im Dorf geht sogar die Legende um, dass einst nur noch eine einzige abgelegene Quelle etwas Wasser hergab und dass die ganze Vegetation, jeder Grashalm und jedes Blatt braun und verdorrt gewesen sei. Nur eine einzige, uralte Steineiche habe noch ein paar grüne Äste gehabt. Zahlreich sind auch die Kapellen, die heute wie verloren in der Weite der Landschaft Spaniens stehen, die aber einst Wunder wirken sollten. Über die Jahrhunderte wurden sie errichtet, weil man sich gerade von dieser Anhöhe oder von diesem einen Hügelzug her gutes Wetter, das heisst Niederschläge erhofft hatte.

Ich kann mich auch erinnern, wie argwöhnisch Nachbarinnen und Nachbarn beobachteten, wer wie viel Wasser in die Blumen goss, weil das Bewässern der Gemüsegärten als vorrangig betrachtet wurde, aber schon schwierig geworden war.

Und was hat Gustav Doré damit zu tun?

Davon, dass Trockenheit und die Verteilung des kostbaren Wassers in Spanien schon immer ein Thema war, zeugt auch das Wassergericht von Valencia. El tribunal de las Aguas existiert als Institution angeblich seit mehr als tausend Jahren, und soll deshalb das am längsten ununterbrochen tagende Gericht der Welt sein. Ziemlich ausserordentlich, darf man da sagen, und weil der unermüdliche Gustav Doré in seinem gigantischen Werk alles Ausserordentliche erfasst hat, gibt es von ihm auch eine Darstellung des Wassergerichts in Valencia.

Es ist übrigens, um hier noch einen Bernbezug einzufügen, Gustave Doré gewesen, der Ferdinand Hodler die Vorlage für das riesige Wandgemälde «Aufstieg und Absturz»  lieferte. Gezeigt wurde es ursprünglich an der Weltausstellung in Antwerpen und heute hängt es in einzelne Bilder zerstückelt im Alpinen Museum.  Gustave Doré seinerseits hatte sich von der Erstbesteigung des Matterhorns inspirieren lassen.

Der Frühling meldet sich, aber noch sieht man auf der Münsterplattform Gestalten in dicken Mänteln als wären sie gerade am Aufbrechen irgendwohin ins nicht mehr so ewige Eis. Aber während die einen aussehen wie für eine Polarexpedition gerüstet, kommen andere Damen unter ihren geöffneten Jacken schon bauchfrei daher und man wird daran erinnert, dass die Menschen unterschiedlicher eben doch nicht sein könnten und auch daran, dass alle immer alles ganz anders sehen.

Wenn dann aber in einem trottoirbreiten Kinderwagen, dem ich an der Kreuzgasse ausweiche, keine Drillinge, auch keine Zwillinge liegen, sondern zwei Hunde sitzen, dann ist es zum Surrealismus nicht mehr weit. Gut, in den paar wenigen kalten Tagen dieses Winters hatte die mittlerweile aufgekommene Mode, Hunde einzukleiden, manchmal auch schon leicht schräge, sagen wir etwas unwirkliche Dimensionen angenommen, denn während ein Kälteschutz für Hunde mit einem dünnen, glatten Fell durchaus Sinn machen kann, ist irgendwie nicht ganz klar, was das soll mit den Käppchen und Hütchen. Gut, das kann lustig, sein, gibt es doch so viele süsse Hunde.

Aber um definitiv zum Surrealismus zurückzukommen: Ordentlich gestaunt habe ich, als ich anlässlich der Sportwoche in der Wengernalpbahn zum ersten Mal einen Hund mit Sonnenbrille gesehen habe. Nein, nicht in einem Comic oder in einer witzigen Werbung. Der Hund sass artig und real in einem Abteil weiter vorne und trug eine rosarote Plastikbrille, ähnlich wie die kleiner Kinder. Gut möglich, dass es dafür medizinische Gründe gab, aber fortan bin ich diesbezüglich auf alles gefasst.

Berichten muss ich aber hier auch noch, dass ich heute auf der Münsterplattform Zeuge wurde, wie ein frecher Spatz unter meinem Tisch durchflog. Und zwar gerade nachdem ich bemerkt hatte, dass sich die Flagge der Ukraine auf dem Erlacherhof leicht im Wind aufbauschte, während ich im Cafè den süssen Schaum mit dem schönen Herz von meiner Schale löffelte. Schön banal könnte man hier einwenden, aber wir erlernen gerade den Umgang mit künstlicher Intelligenz, deren grenzenlose Möglichkeiten sich uns schwindelerregend schnell eröffnen. Die künstliche Intelligenz könnte hier schon problemlos darauf verweisen, wie absurd und wie surrealistisch es eigentlich ist, dass ausgerechnet Putin die Dekarbonisierung beschleunigt wie ein Weltmeister oder auch darauf, dass in Venedig die Gondeln im Trockenen liegen, nachdem wie doch immer gelesen haben, dass die Stadt schon bald in ihrer  Lagune versinke. Aber, um darüber berichten zu können, dass heute auf der Münsterplattform ein Spatz unter meinem Tisch durchgeflogen ist, wird die künstliche Intelligenz noch mindestens ein paar Jahre brauchen. Ich kann es aber heute schon und das ist auch etwas.

Was hat Albert Anker damit zu tun?

Wenn sich Gewissheiten in Luft auflösen und man sich immer wieder fragen muss, wo jetzt eigentlich oben und wo unten ist, hilft es, etwas Handfestes wie ein Bild von Anker anzuschauen. Dass «Mässigkeit» ein schönes Bild ist, bei dem es wenig zu bemäkeln gibt und das einen Bezug zu unabänderlichen Gegebenheiten unserer Existenz herstellt, dürften nur wenige bezweifeln.

Auch habe ich mich immer gewundert, wenn in einem Gespräch abfällige Bemerkungen über Albert Anker fielen. Wenn ich noch verstehen konnte, dass es Leute gibt, die in Ankers bekanntesten Bildern eine Verklärungen des bäuerlichen Alltags zu erkennen meinen, war es mir immer unerklärlich, wie man nicht wenigstens in den Stillleben den ganz grossen Meister erkannte. Ich dachte, wer kein Auge für deren farbliche Ausgewogenheit hat, auch von deren leuchtender Eleganz unberührt bleibt, könnte auch dem schönsten Sonnenuntergang nichts abgewinnen. Umso mehr freute ich mich, dass ein offenbar sehr sehenswerter Film in die Kinos kam. Ärgerlich ist allerdings, dass ich ihn noch nicht sehen konnte. Vielleicht klappt es aber an diesem Wochenende.

Die drei tumben Tauben auf der Balustrade der Münsterplattform überlegen sich lange, ob sie auffliegen wollen. Erst als ich sie fast berühren kann, erinnern sie sich daran, dass sie Tauben sind und fliegen auf oder «tuben», wie man auf Berndeutsch sagt. Weiter vorne auf der Balustrade leuchtet derweil in zwei schmalen Kelchen goldener Sekt. Eine Schale mit Nüsschen steht auch dort. Ein kleiner Privatempfang wird zelebriert. Vielleicht ist es auch eine kleine Neujahrsfeier. Sicher ist, die Flasche muss nicht kalt gestellt werden. Der Winter ist zurück.

Endlich, könnte man sagen. Denn wenn es in südlichen Ländern, zum Beispiel in Spanien, die warme, helle Sonne ist, die auch öden oder gar verwahrlosten Städten jederzeit etwas Glanz und einen Schimmer Hoffnung verleihen kann, tut dies bei uns der schöne Schnee. Schon wenn er vom Himmel herunter antanzt, schwebend und aufgeflockt, hebt sich allgemein die Stimmung. Der schöne Schnee verziert dann Bäume und Wälder, verzaubert uns die Hügel, kaum legt er sich auf die dunkeln Dächer und überzieht den Gurten mit seiner weissen Decke, geht es doch gleich viel zuversichtlicher in das neue Jahr hinein, ganz besonders, wenn auch noch wie heute die Sonne scheint.

Allerdings gab es in diesem Jahr hier auf der altehrbaren Plattform des Münsters schon einmal eine sehr willkommene Aufhellung. Vor ein paar Tagen war unter schweren, grauen Wolken hindurch plötzlich ein leuchtender Fetzen blauer Himmel sichtbar geworden und gerade während die Glocken zu läuten begonnen hatten und ich mit einem Bekannten aus der Altstadt freundliche Neujahrswünsche tauschte, war ein kleiner Bub mit einer roten Zipfelmütze auf dem Kopf und mit einem Schnuller im Mund aufgetaucht. Der kleine Bub vergnügte sich unter der diskreten Obhut seiner etwas abseits stehenden Mutter mit einem Spielzeugkinderwagen. Voller unbändiger Lust und Wonne rannte er dieses Wägelchen vor sich her stossend durch all die Pfützen, die der zum Jahresanfang gefallene Regen hier im Kies zurückgelassen hatte. Der kleine Bub mit der roten Zipfelmütze konnte einfach nicht genug kriegen. Jede der grossen Glunggen zwischen den Parkbänken und den kahlen Kastanienbäumen musste er auskosten. Es spritzte in alle Richtungen und der Bub lachte und kreischte und schon nahm er Kurs auf die nächste Glungge. Er war ganz bei der Sache, ging auf in seinem riesigen Freudentaumel, der bei mir und meinem Nachbar ein hoffentlich noch lange ins neue Jahr hinein anhaltendes Glücksgefühl auslöste.

Und was hat Adolf Dietrich damit zu tun?

Der gefallene Schnee ermöglicht es mir, wieder mal auf einen grossen und auch sehr schweizerischen Schweizer Künstler zu verweisen. Adolf Dietrich malte ziemlich unberührt von den Entwicklungen der Moderne aus seiner thurgauischen Bauernwelt heraus, aber es gelang ihm, diese so unmittelbar bis in ihre Wurzeln hinein zu fassen, dass der magische Charme seiner Bilder kaum jemanden unberührt lässt. Als Kleinbauer hatte er auch ein Gefühl für die Jahreszeiten, von welchen er den Winter, von dem wir uns vielleicht langsam verabschieden müssen, besonders oft und facettenreich malte. Adolf Dietrich hat zeitweise auch als Tierpräparator gearbeitet, was vielleicht erklärt, warum er auch der Urheber der anrührendsten Hundebilder ist, die man sich vorstellen kann.

Dieser Blog kommt noch aus Spanien. Sein Bernbezug ist nicht offensichtlich, aber es gibt den berühmten Flügelschlag des Schmetterlings in China, der uns lehrt, dass alles mit allem zu tun hat. Es geht um ein Land in einem Land. Es geht um das sogenannte «Leere Spanien», in welchem ich wieder einen langen Sommer verbracht habe.

Von meinem Stehpult aus, sehe ich oben auf einem Felsrücken ein kleines helles Gebäude, das die aufgehende Sonne bei schönem Wetter vor dem blauen Himmel zum Leuchten bringt. Daneben sehe ich das Dach eines Gehöfts, auch die Silhouette von ein paar Steineichen und die Krone eines grossen Baumes. Weil ich schon oft dort gewesen bin, weiss ich, dass der grosse Baum abgestorben ist, aber von kräftigem Efeu umrankt und ganzjährlich begrünt wird. Ich weiss auch, dass es sich bei  dem kleine Gebäude um eine Kapelle handelt und dass das Gehöft schon vor mehr als 40 Jahren verlassen worden ist. Als ich auf einer Wanderung zum ersten Mal dort vorbei kam, waren die brachliegenden Äcker mit Disteln und anderem Dorngestrüpp überwuchert; die zerbröckelnden Mauern und die eingestürzten Dächer zeugten von fortgeschrittenem Zerfall. Nur das steinerne Hauptgebäude war noch in gutem Zustand.

Weil im ersten Stock eine Balkontür offenstand, kletterte ich hinauf und stand plötzlich in einem Schlafzimmer vor einem zwar verwüsteten, aber noch mit Wäsche bezogenen Bett. An einem Nagel hing eine Umhängetasche aus Segeltuch und verteilt über die Wände gerahmte Familienfotos und ein oder zwei Heiligenbilder der kitschigen Art. Auf dem Nachttisch lag neben einem kleinen Öllämpchen, das aus einem Tintenfass gebastelt worden war, eine Ausgabe der Zeitschrift Lectura aus dem Jahre 1974. In einer Truhe gab es Kleider und Schuhe, der ganze Hausrat war also zurückgelassen worden. Neben der Feuerstelle hingen ein halbes Dutzend ausgedörrte Würste von der Decke und irgendwo musste einmal eine grosse Menge Mandeln gelagert worden sein, denn überall lagen die von Mäusen und Ratten aufgebrochenen Schalen herum. In der Vorratskammer standen etliche verkorkte Weinflaschen auf einem Regal und am Boden zwei kniehohe, mit Öl gefüllte Tonkrüge.

Im angrenzenden Stall sah ich ein richtiges Joch und das Zaumzeug der Maultiere. Am nachhaltigsten hatte mich aber ein Nachttopf aus weissem Porzellan beeindruckt. Er stand neben einem Bett und ein dickes Buch war quer darübergelegt, das offensichtlich als Quelle für Toilettenpapier gedient hatte. Es war ein dickes Kompendium von medizinischen Zeitschriften mit dem Titel «Revista De Medicina y Cirurgia Practicas».  219 von etwa 600 Dünndruckseiten hatten schon daran glauben müssen.

Schnell wurde mir damals klar, dass das Gehöft ganz unvermittelt verlassen worden war. Eines Tages hatte man einfach genug und ergriff die Flucht. Eigentlich kein Wunder, lebte man doch ohne Nachbarn, mit einem 10 Minuten entfernten Sodbrunnen, in einer kargen, steinigen Landschaft, die sich im Sommer in einen Backofen verwandelte und auch im Winter alles andere war als ein Garten Eden. Ganz ähnlich verhielt es sich aber nicht nur mit Tausenden von solchen Gehöften, auch Weiler und ganze Dörfer wurden eines Tages einfach genau so wie sie waren, in der Landschaft stehen gelassen. Der letzte machte noch das Licht aus, aber das Glück wurde fortan in den Städten gesucht.

Weil dieser Trend bis heute anhält, besteht Spanien eigentlich aus einer dicht besiedelten Küste, aus ein paar grossen bis sehr grossen Städten und aus dem riesigen, fast ganz entvölkerten Teil dazwischen, der einem Land im Land gleichkommt und für den es heute einen Namen gibt: «La España vacia» – das leere Spanien. Geprägt hat diesen Namen das gleichnamige Buch des aragonischen Autors Sergio del Molino, der damit etwas geschafft hat, was nur sehr wenigen vergönnt ist: Er hat ein Buch geschrieben, das etwas verändert. Vielleicht veränderte es nicht die ganze Welt, aber es veränderte bereits die spanische Selbstwahrnehmung und es leitete eine Diskussion ein, die das Land noch lange beschäftigen wird. Natürlich gibt es dazu Daten und Fakten, viele davon hat Sergio del Molino zusammengetragen. Weil ich selbst Zahlen schnell wieder vergesse, nur so viel: Sie sind dramatisch. Es gibt das Spanien, wo Menschen leben und es gibt das zehnmal grössere Spanien, das sich zunehmend entleert. Dies ist das Spanien der verlassenen Gehöfte, der ganz oder fast ausgestorbenen Dörfer, es ist das Spanien der unzähligen noch intakten Kleinstädte, die menschenleer rumstehen wie Kulissen auf der Bühne, nachdem das Stück abgespielt worden ist.

Und was hat Andreas Gursky damit zu tun?

 Es ist sicher nicht wahnsinnig originell in diesem Zusammenhang das Bild eines der bekanntesten Fotografen der Welt zu bemühen. Aber Gurskys Bilder machen klare Aussagen und bringen auch dieses Problem hier auf den Punkt. Man redet zwar viel von Freiheit und von Naturverbundenheit, aber den entleerten Dörfern und Landschaften steht immer mehr die freiwillig akzeptierte Batteriehaltung der Menschen gegenüber. Egal ob auf einem Kreuzfahrtschiff oder in Mega-Städten wie  Wuhan oder São Paulo oder Madrid. Die gewaltigen Gegensätze sind nicht nachvollziehbar und die ganze Entwicklung überhaupt doch eher unverständlich und sehr, sehr schwierig zu erklären.

Der kürzlich verstorbene spanische Autor Javier Marias und Roger Federer haben etwas gemeinsam. Javier Marias war ein Anwärter auf den Literaturnobelpreis, verehrt wurde er aber vor allem im Ausland. Ganz ähnlich geht es dem von seiner sportlichen Karriere zurückgetretenen Roger Federer. Er hatte es auch nicht immer nur leicht im eigenen Land. Jöh, dä Federer…Das habe ich mehr als einmal gehört. Vermutlich war er einfach zu gut für seine Heimat, wo man dem Genie misstraut, weil man gerne alles ein bisschen eingemittet hat. Was Federer aber draußen in der grossen Welt für einen unglaublichen Status geniesst, zeigt sich daran, dass es in den allerfernsten Ländern Menschen gibt, die rein nichts wissen über unsere schöne kleine Schweiz, auch rein nichts damit assoziieren können, ausser Roger Federer. Ihn kennt man und weil das so ist im Sport, weiss man auch aus welchem Land er kommt. Wie gut man ihn in Spanien kennt, zeigt der valencianische Schriftsteller Manuel Vicent in El País. Im Abschiedsspiel mit Nadal kam offenbar auch eine sehr schweizerische Seite von Federer zum Vorschein. Ihm zu Ehren, habe ich diese Kolumne mit Deepl übersetzt und etwas nachgebessert.* Manuel Vicent und El País werden den Klau verzeihen.

Und was hat Dimitri Schukow damit zu tun?

Es ist nicht so einfach, auf die Schnelle ein sehenswertes Tennisbild zu finden. Aber dieses Bild gefiel mir und als ich herausfand, dass es auch noch von einem Russen gemalt wurde, gefiel es mir noch besser, leben wir doch gerade wieder in Zeiten, in welchen bei autoritären, undemokratischen Ländern zwischen Macht und Volk unterschieden werden muss. Ich weiss von Dimitri Schukov lediglich, dass er 2016 ein Studium an der Staatlichen Universität für Architektur und Bauingenieurwesen Nischni Nowgorod abgeschlossen hat.
Als Kriegstreiber kann ich ihn mir nicht vorstellen.

*

Die Kolumne von Manuel Vicent:

Federer und Nadal in Tränen aufgelöst

Der Mythos von Apollo und Dionysos, den diese beiden Tennisspieler verkörpern, fand seinen Höhepunkt in der Verabschiedung des Schweizer Spielers.

Der Kampf zwischen Apollo und Dionysos, der Ursprung der griechischen Tragödie, hat sich vor unseren Augen auf dem Tennisplatz abgespielt. In der klassischen Mythologie verkörpert Apollo die platonische Seite des Geistes, das Gleichgewicht, die Eleganz, die Präzision, das Maß, die Zurückhaltung, die Begrenzung. Dionysos steht für Leidenschaft, Exzess, Instinkt, Anstrengung, Dreistigkeit, Tränen.

Von der Tribüne eines Tennisplatzes aus, während Federer und Nadal ein qualvolles Grand-Slam-Finale bestritten, hätte Nietzsche dieses Match als eine Lektion in Moralphilosophie erklären können. Federer ging mit dem Schläger um, als wäre Tennis ein mathematischer, mentaler und ausgeglichener Sport. Der Ball kam mit schwereloser Geschwindigkeit aus seinem Arm und flog mit präziser Kraft auf einen Punkt auf der Linie zu. Er hat nicht geschwitzt, er hat nicht geschrien, er hätte im Smoking spielen können.

Nadal hingegen vermittelte gegen Federer den Eindruck, dass Tennis ein explosiver Sport ist, angespannt, übermenschlich. Jeder unmögliche Schlag wurde von einem Schrei begleitet, vielleicht vor Schmerz oder vor orgiastischem Vergnügen. Nadal schwitzte. Nadals Schweiß war seine Krone. In seinen frühen Tagen brach Federer seinen Schläger, wenn der Ball nicht dem Impuls seines Verstandes gehorchte. Auf die Niederlage folgte der Zorn. Dieses Ungleichgewicht wurde mit der Zeit durch die Gelassenheit des apollinischen Helden korrigiert, der kalt und unwillig ist, Gefühle zu zeigen.

Zu Beginn seiner Karriere trug der jugendliche Nadal auf dem Platz Seeräuberhosen und hatte den besessenen Blick eines Apachenkriegers. Sein fokussierter Blick drückte die Bereitschaft aus, allen Widrigkeiten um jeden Preis zu widerstehen, selbst wenn es zur Qual wurde. Der Mythos von Apollo und Dionysos, der von diesen beiden Tennisspielern verkörpert wird, erreichte seinen Höhepunkt am 23. September mit dem Abschied von Federer, als diese beiden Helden der modernen Mythologie sich an den Händen hielten und ihre Tränen vereinten. Die Emotionen haben gewonnen, Dionysos hat gewonnen.

 

Weiter geht es mit Luz Letts

von Beat Sterchi 3. September 2022

«Achtundsechzig» ist bekanntlich eine beachtenswerte Zahl. Die Zahl 68 kann Hoffnungen und Erinnerungen wachrufen, sie kann sogar provokativ wirken. Weil dies hier der 68. Blog ist, in welchem ich mich aus Bern oder wie jetzt aus Spanien im Journal B zu Wort melden darf, möchte ich von 68 Kurven berichten. Und zwar von jenen 68 Kurven, die in diesem Sommer hier auf der Spanischen Nationalstrasse N-232 begradigt worden sind.

Es geht dabei um die Strasse, auf welcher wir von unserem Dorf im bergigen Hinterland der Provinz Castellón an die 75km entfernte Küste und damit ans schöne blaue Meer hinunter gelangen. Um die 68 Kurven zu begradigen, hat man fast unvorstellbar gewaltige Erdmassen abgetragen, man hat einen Tunnel, ein Viadukt und eine Brücke gebaut, die jetzt mit einem Stahlbogen eine Schlucht überspannt und jenen Teil der alten Strasse mit den 68 Kurven weit unten, als veraltet und überholt unter sich verschwinden lässt.

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Natürlich handelt es sich dabei um ein weiteres Wunderwerk der Bautechnik und natürlich wurde dessen Eröffnung angemessen gefeiert. Immerhin wurden 68 Kurven eliminiert. Sogar Regierungspräsident Pedro Sanchez reiste an und lächelte wie immer äusserst freundlich in die Kameras. Da ein grosser Teil der 68 Kurven richtige Serpentinen, also Haarnadelkurven waren, kann man die Lastwagenfahrer verstehen – Lastwagenfahrerinnen habe ich hier bis jetzt noch keine gesehen – die sich erleichtert zeigen, weil das am Steuer harte Arbeit war, wird doch genau über diese Strasse der Lehm angekarrt, welcher von der in der Region ansässigen Porzellanindustrie für ihre, in die ganze Welt hinaus exportierten Waschbecken, WC-Schüsseln und Keramikplatten benötigt wird. Einmal im 20-Tonner den Gotthard hinauf zu fahren, mag Spass machen, immer wieder wohl weniger.

Ein etwas anderes Gefühl beschleicht einen aber bei der Begeisterung der normalen Bevölkerung. Die vielen Privatpersonen, die sich in den Medien äussern durften, sind alle begeistert, erleichtert und des Lobes voll. So wunderbar diese neue Strasse! So schön! Jetzt sind wir 10 Minuten schneller an der Küste. Jetzt kann man Eltern oder Kinder öfter besuchen. Jetzt kann man leichter pendeln. Jetzt kann man auch regelmässig in einem grösseren Laden einkaufen gehen. Es wird auch behauptet, wegen den eliminierten 68 Kurven würde der Strandtourismus aus dem Baskenland und aus Zaragoza ansteigen.

Dass auch bei diesem Ausbau einer Strasse wieder altgewachsene Bäume dran glauben mussten, dass Wildwechsel unterbunden werden und dass man die Eingriffe in die schöne Landschaft, wie auch die Zerstörung historischer und architektonischer Zusammenhänge einfach akzeptiert, wollen wir hier im Namen des unvermeidlichen Fortschrittes mal in Kauf nehmen. Auch dass so viele Menschen in der Begradigung von 68 Kurven eine grosse Erleichterung und eine Erhöhung ihrer Lebensqualität sehen, soll überhaupt nicht geringgeschätzt werden.

Besorgniserregend ist aber, dass bei all den Feierlichkeiten und all den vielen dazu im ganzen Land erschienenen Medienberichten von offizieller Seite auch nicht der kleinste Zweifel an dem weiterhin vorherrschenden, mit diesem jetzt realisierten Projekt verbundenen Denken geäussert wurde. Wann wird sich das unausweichliche Umdenken endlich wenigstens in einem kleinen, vielleicht nur in einem Nebensatz geäusserten Vorbehalt zu erkennen geben? Wann wird ausgesprochen, dass solche Begradigungen vielen als Geschenk erscheinen, dass sie aber nicht gratis zu haben sind und uns in die fürchterliche Sackgasse brachten, in der wir uns befinden? Nein, es darf einfach nicht mehr immer alles noch schneller werden und ja, wer Strassen sät, wird Verkehr ernten, eine alte Weisheit, die man sich gerade während einer Energiekrise und in einem Land zu Herzen nehmen müsste, das vom Klimawandel besonders hart betroffen ist und aller Voraussicht nach noch härter betroffen sein wird. Wenn man schon unwillig ist, sich gegen gefährliche Entwicklungen zu stemmen, könnte man doch wenigstens so tun, als wäre einem das Problem bewusst, um so ein paar vereinzelte Köpfe zum Denken anzuregen.

Weil der Mangel an Bewusstsein für die sich abzeichnenden klimatechnischen und energiepolitischen Herausforderungen so offensichtlich ist, wundert sich auch keiner und keine über das totale Fehlen weiterreichender Visionen, für welche die Öffentlichkeit längstens reif sein müsste. Fest steht nämlich, dass Begradigungen nichts anderes sind als Beschleunigungen und Beschleunigungen machen je länger desto weniger Sinn, bedeuten sie doch nichts anderes als mehr Energiekonsum in weniger Zeit, mit allen Konsequenzen und allen Nebeneffekten. In New York soll es in gewissen Kreisen mittlerweile üblich sein, beispielsweise Filme oder Serien im Schnelllauf anzuschauen, um so angeblich mehr vom Leben zu haben. Möglicherweise zwingt der Zustand der Welt aber die Menschheit schon bald, aufzuhören, das Glück in dieser Richtung zu suchen.

Während Regierungspräsident Sanchez in seiner Eröffnungsrede beschwören kann, wie wichtig es sei, dass die Menschen nicht mehr in lästigen 68 Kurven ihre Zeit verlieren, scheint ihn die Zukunft kaum zu beschäftigen. Nicht nur klimatechnisch. Digitalisierung und Robotisierung werden nicht nur zu noch grösserer Arbeitslosigkeit führen, sondern auch dazu, dass Millionen von Menschen gar nicht mehr wissen werden, was mit ihrer Zeit anzufangen. Spätestens dann werden sich Begradigungen und Beschleunigungen erübrigen und eine gemütliche Fahrt durch spektakuläre Haarnadelkurven in einer wilden Landschaft könnte dann zu einem Vergnügen werden.

Was hat Luz Letts damit zu tun?

Mit den 68 Kurven rein nichts. Aber kürzlich habe ich von kompetenter Seite gelesen, dass in den letzten fünfzig Jahren nur eine wirklich nachhaltige Revolution stattgefunden habe. Und zwar weitgehend friedlich: Die Emanzipation oder die Selbstermächtigung der Frauen. Wer wollte da widersprechen? Per Zufall entdeckte ich dann ein paar Bilder dieser peruanischen Künstlerin im Angebot einer international tätigen Galerie. Dieses, so frisch und mit einem Augenzwinkern gemalte kleine Tanz-Bild, hat es mir besonders angetan.

Weil man sich seit ein paar Wochen wieder in Spanien befindet, ist der astreine Bernbezug dieses Blogs nicht leicht zu gewährleisten. Aber einen Schweizbezug kann ich anbieten. Immerhin wurde ich vor ein paar Tagen von einem Nachbarn gefragt, ob der hier offenbar für seine Wucht bewunderte Fussballer Breel Embolo gebürdiger Schweizer sei? Neben dem Krieg bleibt das Schutten das verbindende Thema. Das Spiel der Spanier gegen die Schweiz in der Nations League ist ja auch noch nicht so lange her.

Der gleiche Nachbar wusste auch, dass der ehemalige Barcelona-Star Rakitić  Schweizer ist und fragte, warum dieser nicht für unsere Nationalmannschaft spiele und sagte dann noch, nach den vielen harten Fouls, mit denen die Schweizer das Spiel gegen die leichtfüssigen Spanier eröffnet hätten, habe seine Frau gemeint: Son muy brutos los Suizos! Es gehört zum Ankommen in Spanien, dass man sich wieder an gewisse, nur schwer übersetzbare Wörter gewöhnen muss.

Bruto gehört dazu. Denn tierisch oder brutal trifft es nicht ganz. Sicher hat bruto mit Grobheit zu tun, aber auch einfach mit einem ausgeprägten Mangel an Anstand und Form. Aus Schweizer Sicht ist zum Beispiel der in Spanien gepflegte Umgang in der Politik ziemlich «bruto».  Mann und Frau beleidigen sich und schreien sich an, wie man es in Bundesbern noch selten gesehen hat. Meines Wissens gibt es am Fernsehen auch keine nennenswerte Talkshow, an der Politiker und Politikerinnen verschiedener Couleur teilnehmen würden. Aus einem einfachen Grund: In dem vorherrschenden polarisierten Klima sind Gespräche zwischen den Parteien praktisch unmöglich.

Sicher ist, dass man den offiziellen Stierkampf in weiten Kreisen der Bevölkerung inzwischen mit rechtsnationaler Politik in Verbindung bringt und lieber nichts damit zu tun haben möchte.

Als sehr «bruto» gilt für eine zunehmende Mehrheit der Spanier*innen inzwischen nicht überraschend der Stierkampf. Und dies obschon in vielen Zeitungen die erfolgreichen Toreros weiter doppelseitig gefeiert werden und Madrid kürzlich von der Regionalpräsidentin Ayuso etwas anachronistisch zur Welthauptstadt des Stierkampfes ausgerufen wurde. Auch die lokalen, als Volksbelustigungen bei Festlichkeiten durchgeführten öffentlichen Stiertreiben erfreuen sich weiterhin grosser Beliebtheit. Dies auch in Katalonien, also in jener Region, die, nicht zuletzt, um sich von Spanien abzugrenzen, dem Stierkampf in der Arena abgeschworen hat.

Sicher ist aber, dass man den offiziellen Stierkampf in weiten Kreisen der Bevölkerung inzwischen mit rechtsnationaler Politik in Verbindung bringt und lieber nichts damit zu tun haben möchte. Im Gegensatz zu früher verzichten linke Politiker denn auch darauf, sich in den Stierkampfarenen als volksnah oder gar als volksverbunden zu inszenieren.

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Auch als sehr «bruto» kann man die immensen Schäden und Verluste bezeichnen, die Spanien in diesem Jahr schon wieder durch etliche gigantische Waldbrände erlitten hat. Noch bevor der alles austrocknende Sommer richtig begonnen hat, sind für schweizerische Verhältnisse schon wieder unvorstellbar grosse Flächen verwüstet worden. In mehreren Teilen des Landes haben heftige Südwinde das Feuer so aufgepeitscht, dass auch Tausende von Feuerwehrleuten die Katastrophe nicht abwenden konnten.

Und was hat José Camacho damit zu tun?

José war ein autodidaktischer Maler aus Andalusien, wie es sie heute nicht mehr gibt. Früh emigrierte er wie so viele nach Barcelona, wo er unzählige Stadtansichten unterschiedlicher Qualität produzierte, um sie öfter auf Märkten als in Galerien zu verkaufen. Weil er auch hier in der Gegend malte, lernte ich ihn kennen und schätzen. Dieses Bild vom Hafen von Barcelona, das farblich sehr ansprechend ist und etwas Wildes hat, als hätte sich Camacho hier stilistisch an gewissen Franzosen orientiert, verweist auf zwei weitere Themen, mit welchen man sich als Ankömmling in Spanien wieder konfrontiert sieht.

Dieser hier so idyllisch dargestellte Hafen aus dem letzten Jahrhundert, soll im laufenden Jahr 800 Mal von Kreuzfahrtschiffen heimgesucht werden. Das heisst, meistens werden fünf oder sechs von diesen Riesenkisten hier vor Anker liegen und Zehntausende werden sich ins historische Zentrum drängen. Viel Spass! kann man da nur sagen. Im Jahr vor der Pandemie waren es 3.1 Millionen. In diesem Jahr werden es vielleicht mehr, für Konfliktstoff ist gesorgt.

Hier ist das Meer und dort drüben ist Afrika, mit allem, was das bedeutet, aber auch Lateinamerika rückt plötzlich ganz nahe heran.

Und links oben im Bild steht die berühmte Kolumbussäule. Zwar gab es schon Vorstösse, dass sie geschleift werden soll, vorderhand steht sie aber noch und der alte Kolumbus verweist mit seinem ausgestreckten Arm weiter auf die neue Welt. Er steht auch dafür, dass, kaum ist man wieder in Spanien, rückt die Welt viel näher ran. Natürlich gibt es im Osten den leidigen Krieg, aber hier ist das Meer und dort drüben ist Afrika, mit allem, was das bedeutet, aber auch Lateinamerika rückt plötzlich ganz nahe heran.

Plötzlich sind Länder wie Chile, Argentinien, Brasilien, Peru, Equador, Kolumbien, Nicaragua, El Salvador so nah und gegenwärtig wie Deutschland oder Frankreich in der Schweiz und die Welt öffnet sich gegen Westen gross und weit. Wie hiess doch gleich die Hauptstadt von Bolivien? Jedenfalls zeigt es sich auf der Stelle: Es ist viel los dort drüben.

Vor ein paar Tagen, als ich von der Münsterplattform aus wieder mal kontrollieren wollte, ob die Aare noch abwärts fliesst – man weiss ja nie, in diesen aufgewühlten Zeiten – bemerkte ich, dass unsere schöne grüne Aare aus unerklärlichen Gründen einen heftigen Blaustich hatte. Als läge der Schweller am Mittelmeer. Aber unverändert herrlich rauschte sie schäumend durch die Schleusen und weil dieses Rauschen Kraft gibt, blieb ich lange an der Sandsteinbalustrade stehen.

Ich stand sogar lange genug dort, um jetzt mit Sicherheit behaupten zu können, dass die  Reiselustigen aus aller Welt wieder in Scharen anrücken, bloss jene, vor der Pandemie zahlreich und auffällig kompakt auftretenden Gruppen aus Osteuropa scheinen aus verständlichen Gründen wegzubleiben.

Auch an diesem Morgen hatte ich leider wieder den Fehler begangen, viel zu lange und ausführlich die Zeitung zu lesen, anstatt den Tag mit der Lektüre von ein paar Gedichten zu beginnen. Das  jetzt wieder ausgegrabene Schmähgedicht von Joseph Brodsky gegen die Ukraine müsste ja nicht darunter sein. Einfach etwas dem Rauschen der Aare vergleichbar Schönes. Etwas Nahrhaftes für den Tag.

Stattdessen hatte ich mich darüber informiert, was der Abwurf einer Atombombe heute für Folgen hätte. Ich war auch daran erinnert worden, dass es taktische und strategische Nuklearbomben gibt und dass diese militärisch nur von begrenztem Nutzen seien. Hauptsächlich dienten Atombomben nämlich der Einschüchterung und der Erpressung des Gegners.

Auch an diesem Morgen hatte ich leider wieder den Fehler begangen, viel zu lange und ausführlich die Zeitung zu lesen.

Gelernt hatte ich beim Zeitunglesen dann auch noch, dass ich offenbar «vergeschlechtlicht» bin.

Schon wieder ein neues Wort, hatte ich gedacht, sogar eins, das irgendwie unappetitlich und fast so unbefriedigend wie zum Beispiel «vergeistigt» klingt, was man ja auch nicht unbedingt sein möchte. Weil es in dem Artikel eigentlich um die Schwierigkeiten ging, welchen Jugendliche heute ausgesetzt sind, wurde ich auch gezwungen, an meine eigene Jugend zu denken. Einmal mehr fragte ich mich, ob es meine Generation wirklich so viel besser hatte?

Vermutlich schon.

Während unser Aufwachsen noch einem Hindernislauf glich, aus welchem man durch die Bewältigung der Schwierigkeiten im Umgang mit Eltern, mit der Schule und mit dem anderen Geschlecht seine Lehren zog und vielleicht sogar gestärkt und reifer daraus hervorging, ist heute alles anders. Unklar scheint mir vor allem, wo genau es noch Raum für eine wirklich eigenständige oder wirklich individuelle Entwicklung gibt, wenn eine ganze Industrie damit beschäftigt ist, den Jugendlichen möglichst jedes noch so kleine Hindernis und jede noch so kleine Herausforderung aus dem Weg zu räumen.

Ja, wie wird man erwachsen, wenn man es überhaupt je wird?

Und was hat Fernand Léger damit zu tun?

Völlig verblüfft hatte ich auch gelesen, dass es offenbar Menschen, namentlich Politiker und Politikerinnen gibt, die meinen, anstatt jede Art von ressourcenschonender Mobilität im Interesse unserer aller Zukunft zu fördern, müsste man diese besteuern. Ich konnte es kaum glauben. Sinnvoll wäre wohl eher, man würde an den verkehrsreichsten Stellen unserer Städte allen Velofahrerinnen und allen Velofahrern einen Fünfliber überreichen. Oder mindestens eine Rose. Rechnen würde es sich auf alle Fälle.

Dass aber ausgerechnet der beliebte, geliebte und unverwüstliche Fernand Léger, von den herrlichsten Velobildern gemalt hat, ist nichts als ein schöner Zufall.

Es war ein mir unbekannter, fremdländischer Mann. Wir standen uns bei der Glassammelstelle plötzlich vor dem gleichen Loch gegenüber. Er grüsste, lächelte und warf eine Flasche rein. Ich grüsste zurück, lächelte auch und warf meine Flasche rein. Danach geriet ich am Mani-Matter-Stutz mit dem Velo auf die falsche Fahrbahn. Ich hatte zünftig Anlauf genommen. Prompt kam ein Lieferwagen um die Rathausecke. Der Fahrer zeigte Verständnis, lachte und hob die Hand zum Gruss. Gleich darauf grüsste und dankte mir ein Lastwagenfahrer, weil ich meinerseits Verständnis gezeigt und angehalten hatte, um ihn die schmale Kreuzgasse passieren zu lassen. An der Kramgasse bremste dann der eben von der Haltestelle losgefahrene Bus. Mit einem Lachen und einem Handzeichen gewährte mir der Chauffeur den Vortritt. Nur Sekunden später kam mir auf dem kleinen Platz beim Eingang zur Plattform, hinten am Münster, eine Dame in einem schwarzen Nikab entgegen, die ihrem Begleiter ein paar Schritte voraus ging. Obschon nur ihre grossen Augen zu sehen waren, bestand kein Zweifel: Die Frau nickte mir zu und grüsste freundlichst. Ihre Augen strahlten himmlisch.
So what? könnte man einwenden, hätte sich dies nicht vor wenigen Tagen, also mitten in diesen kriegerischen Zeiten zugetragen.

Und was hat Gabriele Münter damit zu tun?

Von ihr kann man im Klee-Zentrum gegenwärtig eine grosse Auswahl wunderbar freundlicher Bilder anschauen. Man wird dabei allerdings einmal mehr gezwungen sein, sich Gedanken dazu zu machen, wie es kommt, dass die einen schöne Bilder von schönen Häusern malen, während andere wie vom Sack geschlagen andere Menschen ermorden, ihre Behausungen zertrümmern, grenzenloses Elend anrichten und auch noch meinen, um ein fürchterlich modisches Wort zu benützen, solches Verhalten sei in irgend einer perversen Weise zielführend.

Weiter geht es mit Max Ernst

von Beat Sterchi 25. Februar 2022

Auf einem Kellereingang oben an der Postgasse liegen ein paar zum Mitnehmen bestimmte Bücher. Das zuoberst ist besonders dick. Es heisst: Das Böse, es bleibt.Wenige Schritte weiter, unten an der Kramgasse, steht wie so oft eine ziemlich lange Kundenschlange vor der angeblich überflüssigen Poststelle und gleich darauf sehe ich von der Münsterplattform aus, dass im Schwellenmätteli das viele «Grien», also die Berge von Kies, die die Aare das Jahr hindurch aus dem Oberland angeschwemmt hat, fast restlos ausgebaggert, verladen und abtransportiert worden ist. Auf der Plattform selbst zeigen sich an den von der Stadtgärtnerei frisch beschnittenen Kastanienbäumen die ersten Knospen.

Der Frühling steht vor der Tür.

«Mit em Härz hets leider nid so klappet», sagt auch auf der Plattform die freundliche Bedienung im Café. Sie meinte das Herz im Schaum auf meiner Schale. Sie sei noch am Üben. Offenbar gar nicht einfach, so ein Herz im Schaum.

Während ich mir einen Platz an der Sonne suche, höre ich, wie am Nebentisch eine Frau sagt: «U de hett si wyder so huere beleidiget ta» und ich denke, schon nur wegen der Sprache ist es einfach schön auch an besonderen Tagen in Bern zu sein. Gleichzeitig bemerke ich, dass oben auf dem Eckpavillon in welchem sich das Café befindet, auf dem Vasenaufsatz über dem Kuppeldach stolz wie ein Adler eine Krähe sitzt. Vielleicht sind deshalb die Spatzen verschwunden. Noch bevor ich meinen Kaffee getrunken habe, kommt der Mann mit der unterwürfigen Haltung daher, der seit Jahren immer mit höflicher Distanz und mit einer leichten Verbeugung um ein bisschen Münz für die Gassenküche bittet. «Entschuldigung, ä chlyni Frag…» Um ihm sein Verslein zu ersparen, lege ich ihm zum Voraus einen Zweifränkler auf den Tisch. Das sei lieb, sagt er und wünscht mir gute Gesundheit und einen schönen Tag. Weil dann vom Münster herab die Glocken erklingen, erinnere ich mich daran, kürzlich gelesen zu haben, dass diesem Geläut auch die Aufgabe zugefallen sein soll, die Bewohner und die Bewohnerinnen der Stadt bei ihrer Arbeit zu unterbrechen, um sie kurz zur Einkehr und zur Besinnung zu rufen.

Auf dem Weg zurück hatte ich an diesem angeblich historischen Tag, der eine neue Epoche einleiten soll, noch zwei weitere Begegnungen. Zuerst kam mir die Dame mit dem Mops entgegen, die mir einmal erklärt hatte, gemäss Loriot sei das Leben ohne Mops zwar möglich, aber sinnlos. Es entging mir nicht, dass die Dame leicht hinkte, aber ich fragte: «Wie geit’s däm Mops?» Sie winkte ab. Ich schaute auf den kleinen grauen Hundekerl hinunter und sie beklagte sich, dass sich dieser alte Mops leider nur noch für’s Fressen interessiere. Da könne sie ihm lange ein Buch hinlegen, es nütze nichts.

In der Laube der Gerechtigkeitsgasse kam dann ein Mann auf mich zu, der mich auf der Stelle an einen mir bekannten Kriegsveteranen aus Vietnam erinnerte. Weil er nur noch ein Bein hatte, ging der Mann an zwei Krücken. Er hatte ein sehr sympathisches Lächeln im Gesicht und sagte, er wisse auch nicht, warum er gerade mich frage, aber ob ich vielleicht…

Und was hat Max Ernst damit zu tun?

Ganz direkt eigentlich nichts, aber es triumphiert der Surrealismus und wer würde dem tobenden, grössenwahnsinnigen Trampeltier nicht eine gewisse Aktualität zugestehen?

Max Ernst soll seine drei Fassungen von diesem Hausengel unter dem Eindruck des spanischen Bürgerkriegs gemalt haben. In dieser dritten Fassung versteckte er in den fuchtelnden Armen und Beinen auch noch ein Hakenkreuz. Aber das war im Jahr 1938.

 

Weiter geht es mit Augusto Giacometti

von Beat Sterchi 15. Januar 2022

Der Gerechtigkeitsbrunnen ist vielleicht Berns schönster Brunnen. Auch die Gerechtigkeitsgasse selbst ist jederzeit einen Spaziergang wert. Die geordnete Vielfalt der Fassaden, die sanfte Krümmung, das leichte Gefälle: Wer würde hier nicht immer wieder staunen?

Dort bin ich vorgestern ungefähr auf der Höhe des Kinderbuchladens einer Bekannten begegnet, die mich, nachdem wir uns gegenseitig noch ein spätes «Guets Nöis» gewünscht hatten, freundlich nach meinen Neujahrsvorsätzen fragte. Ich dachte auf der Stelle an ein Kalenderblatt, das ich seit ein paar Tagen zusammengefaltet in meinem Notizbuch aufbewahrte, sagte aber scherzhaft, ich wolle im neuen Jahr täglich zweimal die Aare überqueren und mindestens einmal die Berge sehen. Meine Bekannte lachte, fand meine Vorsätze bescheiden und sagte, sie hätte sich mehr vorgenommen. Sie wolle nichts mehr bei Amazon bestellen. Es könne ja nicht sein, sagte sie, dass ein einzelner Mensch reicher und mächtiger werde als Louis IV und der Zar von Russland zusammen und sie mache sich auch noch schuldig, zu diesem Verhältnisblödsinn beizutragen. Natürlich dachte ich da wieder an das Kalenderblatt in meinem Notizbuch. Es enthält den Konfuzius zugeschriebenen Spruch, dass der Baum der guten Vorsätze zwar reichlich Blüten, aber selten Früchte trage.

Ich dachte aber auch an ein Schaufenster, etwas weiter oben an der Gerechtigkeitsgasse, eigentlich gleich hier um die Ecke im Antoniergässchen. Dort wird in grossen Buchstaben die Frage gestellt: Was ist wirklich wichtig?

Der Laden verkauft zwar sehr edle Betten und nicht die Wahrheit, aber weil ich unfähig bin, im öffentlichen Raum stehende Schriftzeichen nicht zu lesen, werde ich dort täglich mindestens einmal aufgefordert, mich zu fragen, was wirklich wichtig ist.

Was ist wirklich wichtig?

Seit ein paar Tagen geht mir diese Frage aus einem sehr traurigen Anlass gar nicht mehr aus dem Kopf.

Letzte Woche ist völlig unsinnig und völlig ungerecht Laurence Boissier, unsere liebe Kollegin aus Genf gestorben und ich  kann gar nicht mehr aufhören, mich zu fragen, was wirklich wichtig ist.

Was ist wichtig in Anbetracht des Todes?

Mit Laurence bin ich im Rahmen von Bern ist überall öfters auf der Bühne gestanden und nie, nie habe ich bedacht, dass sie plötzlich einfach nicht mehr da sein könnte. Als sie vor ein paar Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, war ich überzeugt gewesen, den Anfang einer grossen Karriere einer ganz grossen Autorin mitzuerleben und hatte meiner Bewunderung genau hier in diesem Blog auch Ausdruck gegeben.

Und dann stirbt sie. Einfach so.

Viel zu jung. Viel zu schnell.

Was ist wirklich wichtig?

Wenn man die Gruppe Bern ist überall buchen will, gibt es die Auflage, dass unter den drei jeweils mit einem Musiker oder mit der Musikerin Maru Rieben lesenden Kollegen und Kolleginnen, immer auch eine Stimme aus der Romandie dabei sein muss. Besonders östlich von Bern wehrten sich Veranstalter oft, wenn auch vergebens, gegen diese Regel. Wenn aber Laurence dann ans Mikrophon trat, waren nach wenigen Worten alle  Vorbehalte vergessen. Ihre verschmitzte Ernsthaftigkeit und ihre zurückhaltende Selbstsicherheit reichten, um auch das ostschweizerischste Publikum für sich einzunehmen. Sie versprühte zwischen den Zeilen so viel Schalk, so viel Lust an der Sprache und so viel Ironie und Charme, dass auch noch bescheidene Französischkenntnisse ausreichten, um ihren Witz zu verstehen und an ihren Texten Gefallen zu finden. Ihr Humor war grenzenlos, aber immer gediegen. Ihre Beobachtungsgabe war messerscharf, aber nie verletzend.

Was ist wirklich wichtig?

Laurence Boissier spielte zu unserem Vergnügen liebevoll mit den zwischen den Sprachregionen gängigen Klischees und Vorurteilen. Ich höre sie noch jetzt: Quand j’ai dit à mon mari, que je fais partie de Bern ist überall…  Sie liebte la Suisse alémanique und nie war ich sicherer, dass es zwischen Genfersee und Bodensee eben doch ein paar gerne geteilte Gemeinsamkeiten gibt, als wenn Laurence aus ihren Texten las.

Und was hat das mit Augusto Giacometti zu tun?

Laurence bewunderte ihn. Einmal nach einem Auftritt in Chur sind wir zusammen ins Bergell nach Stampa gefahren. Ich wollte dort einen Stein auf das Grab von Alberto Giacometti legen und von dem Dorfbrunnen trinken, von dem er auch getrunken haben muss. Laurence wollte die Kirche von Stampa besuchen, wo Augusto Giacometti eine moderne Auferstehung in das Chorgewölbe gemalt hat. Sie erkannte in den, diesem Künstler eigenen, weissen Flecken in den oft mosaikartigen Bildern die Liebe zu den Farben. Einmal sagte sie: Regarde, comme il laisse la place aux couleurs! Ganz ähnlich verlieh sie in ihren Texten durch sehr viel Unausgesprochenes den vorhandenen Worten umso mehr Kraft.

Und jetzt steht ihre Beerdigung bevor.

Was ist wirklich wichtig?

Eben bin ich auf der Münsterplattform einer witzigen Dame begegnet. Als sie bemerkt hatte, wie neugierig ich den Hund an ihrer Leine betrachtete, sagte sie: Ein Leben ohne Mops sei zwar möglich, aber sinnlos. Natürlich lachte ich. Worauf sie meinte, der Spruch sei leider nicht von ihr, der sei von Loriot.

Ein paar Tage vorher hatte eine andere Frau fast an der gleichen Stelle an der Mauer über der Badgasse in die Englische Anlage hinüber geschaut und gesagt: Lueg mau! Schon ist fast das ganze bunte Laub am Boden und alles wird grau und kalt. Fertig mit dem schönen Herbst! Obschon vom Münster herab gerade die Glocken zu läuten begannen, hatte ich gehört, wie ihr Begleiter antwortete: Ach komm! Vielleicht schneit es morgen schon. Weisch wie? Wenn alles weiss und sauber ist!

Auf dem Gurten liegt mittlerweile tatsächlich Schnee und unten  im «Schweller» sind die Bagger aufgefahren, um wieder wegzuschaffen, was die fleissige Aare das Jahr hindurch hier alles aus den Bergen angeschwemmt und abgelagert hat. Ruhig und mager kommt die Aare auf der andern Seite der Stadt daher. Auch dort rauschten eben noch die Herbstfarben in den hohen Platanen, aber schon sind in den Schlafbäumen die Nester zu sehen und die Krähenvölker haben dazu sehr wohl etwas zu sagen. Das tun sie teils unverfroren laut und frech.

Aber da ist auch eine Frau, die auf dem Altenbergsteg lauthals nach ihrem Hund ruft. Mina! Mina! Mina! ruft sie immer wieder und noch einmal: Mina! Mina! Mina! Sie hatte schon mehr als zwanzigmal gerufen, aber Mina wollte nicht hören, Mina wollte ihre Nase in den Rucksack der Fischer auf dem Uferweg stecken. Mina konnte dies auch unbehelligt tun, denn die beiden jungen Fischer hatten alle Hände voll zu tun mit einem riesigen Barben, den sie langsam an der Leine unter der Brücke hervor ziehen wollten. Es war wirklich ein mächtiger Fisch, mindestens einen halben Meter lang war er, und die Frau rief weiter Mina! Mina! Bis einer der Jungs doch bemerkte, dass ihnen Mina den Käse aus dem Rucksack gefressen hatte. Nein, er wolle kein Geld für den Käse, aber jetzt hätten sie keinen Köder mehr. Derweil zog der andere Junge weiter angestrengt an der Leine. Er will den grossen Fisch müde machen! Es geht nur so! sagt er. Vom Altenbergsteg aus kann man im glasklaren Wasser den Barben sehr gut sehen, wie er sich sträubt und kämpft an der Angel. Weil so ein Ringen ganz schön dauern kann, ging ich weiter Richtung Stauwehr, erfuhr aber später von einem andern Fischer, dass man das mit dem Käse «auf Grund fischen» nennt. Ob die Jungs den grossen Barben sicher aus der Aare ziehen konnten, wusste er aber leider nicht.

Und was hat das mit Humberto Ybarra zu tun?

Es ist schön, wieder in Bern und an der Aare zu sein. Aber der lange Sommer, den ich in Spanien verbracht habe, und von wo aus ich mich an dieser Stelle gemeldet hatte, wirkt nach. Noch klicke ich ab und zu das Kanarische Fernsehen an, das 24 Stunden am Tag die Launen des Vulkans auf La Palma überträgt. Dieser hat so viel Schaden angerichtet, dass das ganze Land über Wochen den Atem anhielt. Doch besonders nachts ist es auch faszinierend zuzuschauen, wie er bei seinen anhaltenden Ausbrüchen Feuer in den Himmel spuckt. Zeitweise bietet er ein Spektakel, das jedes am ersten August gezündete Feuerwerk in den Schatten stellt. Dazu kommt, dass diese Katastrophe auf den kanarischen Inseln auch daran erinnert, wie gross und vielfältig dieses Spanien ist. Es ist für europäische Verhältnisse schlicht ein riesiges Land und leider zunehmend auch ein leeres Land.  Humberto Ybarra kommt hier das Verdienst zu, dass er ein Auge hat für die immense Grösse und die Kraft dieser Landschaften, die ihrer Schönheit zum Trotz, bei fortschreitender Entvölkerung zu Einöden zu verkommen drohen. Die sprichwörtlichen spanischen Dörfer sterben aus, aber seine Bilder leben.

Auch hier in Spanien macht man es jenen, die noch an der guten alten Zeitung hängen, nicht gerade leicht. Spätestens seit der Pandemie gibt es ausserhalb der Städte praktisch keine Möglichkeit mehr, die gedruckte Presse zu kaufen. Wer auf der Autobahn durch Spanien fährt, kann sich auf keiner Raststätte mehr mit Zeitungen eindecken. Auch nicht, wer eines der riesigen Einkaufszentren besucht.

Weil aber besonders die Sonntagszeitungen mit grossem Aufwand und mit viel Sorgfalt gedruckt werden, nahm ich es auch am letzten Wochenende auf mich, in das nahe Städtchen zu fahren, um dort, die für mich zur Seite gelegten Zeitungen «El Pais» und «La Vanguardia» abzuholen. Es war aber kein gewöhnliches, sondern wegen des auf den 12. Oktober fallenden Nationalfeiertages ein sogenannt “langes Wochenende», was bedeutete, dass das attraktive historische Städtchen Morella touristisch überflutet wurde und dass ich deshalb weit weg vom Zeitungsladen parken musste. Es kostete mich zu Fuss 15 Minuten hin und 15 Minuten zurück. Aber was tut man nicht, wenn es sonst im Umkreis von mehr als 30km keine andere Möglichkeit gibt, zu den geliebten Blättern zu kommen?

Vergleichsweise besorgniserregend waren aber die  Schwierigkeiten, einen Kiosk zu finden, die ich vor wenigen Tagen im Zentrum der sonst so schönen Stadt Valencia hatte. Unser Hotel befand sich direkt an dem grossen Platz beim Rathaus, aber dort wurden Marktstände aufgebaut und die in Valencia beliebten Blumenverkäuferinnen öffneten gerade ihre Häuschen, von den verschiedenen Kiosken, die ich mit ihren bunten, auf das Trottoir ausufernden Auslagen von Zeitungen und Zeitschriften jeder Art in bester Erinnerung hatte, keine Spur mehr. Sie waren seit dem vorangegangenen Besuch allesamt verschwunden. Als ich schon zwei Seitengassen vergeblich danach abgesucht hatte, fragte ich einen Mann nach einem Zeitungsladen. Un kiosco? fragte er zurück und verwies mich an eine Dame mit einer Einkaufstasche, mit der er gerade gesprochen hatte. Diese winkte mir freundlich zu, führte mich in eine dritte Seitengasse und zeigte auf die nächste Kreuzung. Dort vorne links befinde sich eine Bäckerei und auch ein Kiosk, sagte sie. Sie wünschte mir auch noch einen schönen Tag, aber fündig wurde ich erst, als ich durch eine vierte Seitengasse zu einer verkehrsreichen Durchgangsstrasse gelangte.

Der Inhaber dieses Kioskes war noch gerade mit einer Kundin in ein Gespräch über das Wohlergehen seiner Mutter verwickelt, aber als er definitiv und abschliessend versichert hatte, mit dem vermaledeiten Knie gehe es wohl weiter bergab, aber sonst sei seine Mutter insgesamt im Altersheim sehr gut aufgehoben, und die Kundin ihre Zeitschrift aufgerollt von der kleinen Verkaufsfläche nahm, wo sich auch der Teller für das Wechselgeld befand, konnte ich meine Zeitungen zum Bezahlen dort hinlegen. Natürlich fragte ich dann noch, ob mein Eindruck, dass in Valencia die Zeitungskioske am Verschwinden seien, zutreffe? Und ob! sagte der Kioskmann und fügte noch hinzu: Spätestens in einem Jahr sei er auch nicht mehr hier.

Um Gottes Willen! dachte ich. Wenn das bloss gut kommt! Ist es möglich, dass das Bedürfnis, sich seriös zu informieren, weiter schrumpft? Dabei sind es in meinem Fall überhaupt nicht nur die Berichte und Reportagen, die mir als unentbehrlich erscheinen. Es gibt mindestens ein halbes Dutzend, wenn nicht mehr Frauen und Männer, auf deren Kolumnen, Glossen und Meinungsbeiträge ich mich immer freue und ohne deren Gesellschaft ich mir richtig beraubt vorkäme, helfen mir diese klugen Köpfe doch beim Einordnen und beim Ertragen der Fluten von schwierigen bis unerfreulichen Nachrichten und Informationen.

Ich bin auf ihren fundierten Überblick, auf ihre nachvollziehbaren Gedankengänge, auch auf ihre Ehrlichkeit im Umgang mit der Gegenwart angewiesen, manchmal auch auf ihren Trost. Ohne sie würde ich mich einsam fühlen wie ein ausgesetztes Kind und ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum es nicht allen so geht. Ein Leben ohne Zeitungen? Nein! Nein! Bitte nicht. Und nein, es ist kein Widerspruch, dies im Journal B zu behaupten. Bei längeren Artikeln sind die Netzversionen einfach kein vollwertiger Ersatz. Weil ich zu zwei Tageszeitungen auch elektronischen Zugang habe, weiss ich es genau: Auf dem Bildschirm fehlt mir die Übersicht und die Einordnung und ich lese zweifelsfrei alles ein bisschen flüchtiger, wenn nicht sogar sprunghaft.

Würde mich sehr wundern, wenn das nur mir so ginge.

Und fast wie an eine Drohung erinnere ich mich an ein Zeitungsinterview, in welchem sehr sachkundig vorausgesagt wurde, dass sich die Menschen in Zukunft politisch nicht mehr auf Grund ihrer Lebensanschauung oder auf Grund ihrer ideologischen Vorlieben und Überzeugungen unterscheiden würden, sondern nur noch durch den Grad ihrer Informiertheit. Kurz gesagt hiess es da, es wird die geben, die sich informieren und diejenigen, die dies nicht tun. Die Populisten und die Populistinnen lassen grüssen. Wenn die Kioske und mit ihnen die gedruckten Zeitungen weiter verschwinden, weiss ich jetzt schon, dass nicht nur ich mich, sondern wir uns alle auf der Verliererseite befinden.

Und was hat Guillermo Marti Ceballos damit zu tun?

Der 1958 in Barcelona geborene Künstler entdeckte früh in seiner Laufbahn grosse, mit Farbe lustvoll umgehende Künstler wie Van Gogh und Gauguin. Später auch Matisse und schliesslich Macke und Kirchner. Als ob es heute nicht zur Entwicklung jedes Künstlers und jeder Künstlerin gehören würde, sich mit den ganz Grossen auseinanderzusetzen, wenn auch nur, um dann weiterzugehen. Dass Guillermo Marti Ceballos von seinen Vorbildern nicht mehr loskommt ist zwar offensichtlich, es handelt sich dabei aber um einen sehr verbreiteten Makel und immerhin hat er noch einen, wie mir scheint, ziemlich ansprechenden Zeitungsleser gemalt, bevor dieser vielleicht für immer verschwindet.

Ach, schönes Katalonien!

Von dieser Region Spaniens war hier schon öfter die Rede. Das Dorf, in dem ich mich befinde, gehört zwar zu Valencia, aber die Grenze ist nah und im Ferienmonat August fehlt es nicht an Sommergästen aus den Vorstädten von Barcelona. Barcelona selbst muss weiterhin gespenstisch leer sein, denn die vorpandemischen Millionen von Touristen bleiben weiterhin weg. Nicht mal die Souvenirläden bei Gaudis Sagrada Familia seien geöffnet. Wenn man sich das vorstellt! Im lauten Barcelona alles still und ruhig, die Strassen leer und ein grosser Teil des Gastgewerbes in Konkurs.

Auch um die Unabhängigkeitsbewegung scheint es ruhiger geworden zu sein und es würde mich sehr wundern, wenn sich der Abgang von Messi nicht als weiteres Zeichen des Anfangs vom Ende der Illusionen entpuppte. Was so vielen Aussenstehenden an der katalanischen Politik der letzten Jahre missfiel, waren ja nicht die zum Teil gerechtfertigten Forderungen, sondern der von populistischen Politikern angestachelte Suprematismus. Spanier wurden als zurückgeblieben verlacht, das Land selbst als Diktatur bezeichnet. Den in diesem «vertrottelten» Spanien erfolgsverwöhnten Katalanen wurde von der Politik ein Selbstverständnis und ein Selbstbewusstsein vermittelt, das sich mit der Realität nur beschränkt zu decken vermochte, aber trotzdem zu dem unilateralen Handeln und mit den bekannten Folgen, in die Illegalität führte. Ausser Spesen nichts gewesen.

Dass sich dieser politische Nachtflug zeitlich mit der glorreichsten Phase des FC Barcelona deckte, kann nicht ohne Bedeutung sein. In einem weiteren, für Spanien entscheidenden Bereich, zelebrierte und feierte Katalonien seine fussballerische Überlegenheit, als hätte man sich damit etwas kaufen können.Wie sehr der Club, der von sich selber sagt, er sei mehr als ein Club, dabei von Messi abhängig war, wird sich zeigen, sicher ist, dass für den Superstar die Kasse nicht mehr reicht und dass er, und nicht etwa der Startrainer Guardiola über 600 Kisten machte.

Inzwischen ist Katalonien auch als Wirtschaftsmotor hinter Madrid zurückgefallen  und auf einer Fahrt vor ein paar Tagen durch die zauberhaft schöne Gegend von Terra Alta  im südwestlichen Teil Kataloniens ist mir im Nachhinein plötzlich bewusst geworden, dass ich keine der sonst überall so gut sichtbaren Fähnchen und Flaggen der «independistas» gesehen habe oder wenigstens sind mir keine solchen aufgefallen. Nicht entgangen ist mir dagegen, dass man hier keine weiteren Windmühlen will und auch, dass die  Olivenhaine und Rebberge einen sehr gepflegten Eindruck machten.

Und was hat Anselm Kiefer damit zu tun?

Ebenfalls in Katalonien gibt es, so traurig wie das ist, offenbar noch immer Leute, die brennende Zigarettenstummel aus dem Wagenfenster ins ausgedörrte Gebüsch am Strassenrand schmeissen. Eine solche Kippe soll auch den fürchterlichen Brand bei Cap de Creus, in der Nähe der französischen Grenze ausgelöst haben. Besonders im Vergleich zu andern Ländern am Mittelmeer leidet Spanien in diesem Sommer aber weniger als auch schon an unkontrollierbaren Waldbränden. Nichtsdestotrotz, sind die Bilder, die einen von solchen erreichen, immer schmerzhaft anzusehen und erinnern einen unweigerlich an Anselm Kiefer. Steht man vor Kiefers grossen Bildern, reingesogen in die Tiefe dieser verwüsteten Gesichter unserer Erde, erfüllt von dem Verlangen, etwas zu tun, ohne genau zu wissen was und wie, erahnt man wie unheimlich die Möglichkeiten der Kunst sein können. Was ist Kunst, wenn nicht das, was Kiefer malt?

Ein solches Bild ist auch Montsalvat, das im Museum für Gegenwartskunst in Barcelona zu sehen ist. ( MACBA )

Bekanntlich bezieht sich Kiefer gerne auf vergangene Katastrophen und bereits erlittene Gräuel, bleibt zu hoffen, dass sich seine monumentalen Werke nicht auch als zukunftsträchtig erweisen.

Da wäre man also wieder in den schönen spanischen Bergen, aber woran denkt man andauernd?

An die Aare!

Ich kann ihr bedrohliches Brummen hören, als sässe ich auf der Münsterplattform, wo ich mich so oft an ihrem sonst sanften Rauschen erfreue. Möge sie inzwischen zur Besinnung gekommen sein. Klar wird aber einmal mehr, dass auch das Wasser zu dem Reichtum gehört, den der liebe Gott so ungerecht verteilt. Dort dieser Überfluss und hier ist das Bewässern des Gemüsegartens schon wieder ein äusserst schwieriges Unterfangen. Die Quelle gibt einfach täglich weniger her. Und die Kühe, die hier ausserhalb des Dorfes auf einer Anhöhe in malerischer Eintracht in der prallen Sonne liegen, sind zwar am Wiederkäuen, man fragt sich aber, worauf sie da so zufrieden rummahlen. Vermutlich Futter aus dem Sack, denn sie liegen auf ausgetrocknetem, steinigem Boden. Zwar gibt es Thymian, Lavendel, Ginster und jede Menge verbuschter Steineichen, aber wirklich grün Grün ist da nichts. Ich habe diese lieben Kühe dort oben schwer im Verdacht, sie träumten vom schönen Simmental, wo ich noch vor wenigen Wochen bei Boltigen eine Herde von ihren rot-weissen Artgenossen gesehen habe, die bis zu den Flanken im Klee standen und die mir vorkamen, als würden sie baden in der grünen Pracht. Büschelweise schlangen sie das saftige Gras in sich hinein. Ich sehe es jetzt noch in ihren gierigen Flotzmäulern verschwinden und ich sehe jetzt noch, wie sie vor Freude mit ihren Schwänzen um sich schlugen wie übermütige Hunde.

Die Kühe hier, das sei auch angefügt, haben dafür noch ihre Hörner, aber wer weiss wie lange sie ihre 50 bis 60 Liter Wasser noch bekommen, die auch genügsame Rinder täglich brauchen.

Bei anhaltender Trockenheit kann man zwar auf ein mögliches Gewitter hoffen, was sich aber als zweifelhafter Segen erweist, sobald auch Hagel niedergeht.

Und ja, da war auch noch diese für die Schweiz so ausserordentliche Europameisterschaft mit dem Viertelfinal gegen Spanien.

Für wen ich sei, hat mich ein Freund aus Lenzburg per Mail gefragt. Er hatte wohl Zweifel an meiner Loyalität. Aber natürlich war ich für «uns»! Es fiel mir während des Spieles auch leicht, für «uns» zu sein, denn die Kommentatoren am spanischen Fernsehen hatten einmal mehr nicht die geringste Mühe, in der ersten Person Mehrzahl zu reden, als ob sie selbst auf dem Spielfeld stünden. Einer von ihnen war zwar der legendäre Aussenverteidiger Camacho, dem wir dieses «wir» nicht übel zu nehmen wollen, war er doch auch schon Trainer der Spanischen Nationalmannschaft. Überrascht hat mich übrigens, dass man hier die ominöse rote Karte allgemein als ein Geschenk betrachtete. «Dank einem Engländer haben wir gewonnen.» sagte ein Nachbar. Auffallend war auch, dass man, anders als früher, die Schweiz plötzlich als Gegner ungewohnt ernst nahm.

Gesehen habe ich das Spiel in einer Taverne, die bei einem kleinen Balkon den herrlichen Ausblick über die Hügelrücken dieser von Dürre und Abwanderung geplagten Gegend frei gibt. Ein einziger Gast sass mit der an einem Ohr herabhängenden Schutzmaske mit dem Rücken zum Fernseher. Alle andern fieberten mit wie eh und je und als mir auffiel, dass in diesem Lokal, in welchem ich schon seit 35 Jahren Fussballspiele mitverfolge, vor allem ältere Herren sassen, kapierte ich schnell, dass ich auch einer von ihnen geworden bin.

Ich werde diese EM aber in guter Erinnerung behalten. Natürlich auch wegen des Spiels der Schweizer gegen Frankreich, vor allem aber, weil sehr oft wirklich guter Fussball gespielt wurde. Da war zum Beispiel dieser erste Ansturm der Engländer im Final. Als sie mit einem Affenzahn ausschwärmten und anrauschten wie eine Sturmfront, um dann prompt ihre Kiste zu machen, wurde eine so unglaubliche Energie frei, dass ich meinte, jeder Spieler habe gerade dann und dort, mindestens eine Schachtel Cornflakes verbrannt, so gewaltig war der Ansturm. Und wie ich dann mit den Italienern litt! Mein Gott! Sind die noch nie in einem Tor gestanden? Wissen die nicht, wie riesengross so ein Kasten ist! Ein Scheunentor!

Ja, zuschauen ist nicht schwer. Aber schön. Wie oft konnte man sich freuen, dass sich die Spiele entfalteten wie Dramen, dass es hin und her ging wie am Schnürchen und den Jungs dazu immer wieder überraschende Spielzüge einfielen, die verblüffen und entzücken wie Kunststücke. Und wenn es chlepft und tätscht vor dem Tor, auch schon das Jubeln losgeht, der Ball dann aber plötzlich unter dem am Boden liegenden Torwart zu sehen ist, der niederging wie eine Tipp-Kick-Golie. Wie gern ist man da dabei. Fussball kann so schön sein.

Und was hat Vivian Suter damit zu tun?

Mit der EM nichts, aber wohl mit dem Unwetter.

Als in den Zeitungen von ihr eine grosse Ausstellung in Madrid angekündigt wurde, wunderte ich mich, dass ich diesem Namen noch nie begegnet bin. Die Künstlerin stammt zwar aus Argentinien, hat aber in jungen Jahren in Basel Kunst studiert und einen berühmten Schweizer geheiratet. Leben und arbeiten tut sie heute in Guatemala mitten im Dschungel. Als ein gewaltiger Regensturm ihr das Atelier mitsamt ihren Leinwänden verwüstete, hängte sie sie diese auf wie Wäsche zum Trocknen und entdeckte für sich und ihre farbenreiche, grossformatige Malerei eine schöne und durchaus sinnvolle Ausstellungsform.

Es war noch in den sehr winterlichen Februartagen, dass ich es auf einem Spaziergang zur Stauwehr genoss, doch tatsächlich wieder mal den Geruch nach Stall und Mist in der Nase zu haben.

Als befände ich mich in Hinterschwendi im Emmental und nicht mitten unter anderen Spazierenden mit ihren in Mäntelchen gehüllten Hunden unter einem mehrspurigen Eisenbahnviadukt mitten in der Stadt. Es roch nach dem Grauvieh – gemäss eines Infoblattes Basil und Brundt mit Namen – das dort hinter dem Areal der ehemaligen Brauerei Gasser manchmal beim Weidegang zu sehen ist. Gleich nach dem Lorrainebad begegnete ich dann drei jungen Damen, die gerade in Badeanzügen aus der eisigen, grauen Aare stiegen. Eine von ihnen hatte schon zu einem Tuch gegriffen und trocknete sich damit die Haare, als ich sie sagen hörte: It’s just the first minute! After that it’s great! Ich fand das eine ziemlich unverfrorene Behauptung und zwar im wahrsten Sinne des Wortes!

Aber es passiert immer wieder: Man kann es sich kaum erklären. Anstatt blau erstarrt, fröstelnd und zerknirscht, wenn nicht sich sogar schüttelnd vor Kälte, steigen sie putzmunter und lachend, sogar strahlend ans Ufer.

Für normale Menschen ist die Aare zwar noch weit davon entfernt, in vertretbarem Rahmen geniessbar zu sein, aber mittlerweile tragen die meisten Hunde keine Mäntelchen mehr und die Schritte ihrer Herrchen und Frauchen haben sich wieder verlangsamt. Auf der Münsterplattform kann man sich sogar an die Sonne setzen und dem Rauschen der Aare und dem angenehmen Pegel der Gespräche lauschen. Man kann wieder hören, wie munter geredet und erzählt und gelacht wird und wie die zusammenprallenden Kugeln der aus dem Winterschlaf erwachten Boule- oder Pétancspieler die schwirrenden Stimmen punktieren. Man kann sich sogar der Gewissheit hingeben, dass der Frühlingauch in diesem Jahr nicht ausbleiben wird.

Sollte man aber auch noch in einer Zeitung blättern, kann es passieren, dass man bei einem Bild erschrickt. Es ist das Bild eines jungen Mannes, dessen eigenartig vom Gewicht der Welt unberührten Züge einen ziemlich kalt lassen könnten, wäre er nicht einer der reichsten und mächtigsten Menschen aller Zeiten.

Und was hat Giovanni Bellini damit zu tun? Der vom grossen Bellini verewigte venezianische Doge Leonardo Loredan war zweifellos auch einer der mächtigsten Männer seiner Zeit, aber er schaut doch etwas vertrauenswürdiger und weniger entrückt in die Welt hinaus als der ihm sonst sehr ähnlich sehende Herr Zuckerberg.

Unten an der Aare begegnete ich einer Mutter mit einem Kind an der Hand und einem zweiten Kind im Wagen. Als ich sie überholte, sagte sie gerade: Regarde! C’est plein de corbeaux. Und tatsächlich wimmelte es dort von Krähen. Mindestens zwei Dutzend pickten emsig an der Uferböschung im Schnee herum. Nur ein paar Schritte weiter fielen meine Augen auf ein sehr trauriges Liebesgedicht. Jemand hatte es an den Pfosten in der Mitte des ehrwürdigen Altenbergsteges geklebt. Die beiden letzten Zeilen lauteten:
 
Dass Du ein Herz und eine Seele
zerbrichst

Die in dicken schwarzen Lettern ausgedruckten Zeilen hingen genau dort, wo man die Aare sehr gut überblicken kann. Aber auch genau dort, wo man ihre Wucht spürt, mit der sie anrauscht und mit der sie, nachdem sie bis ins Oberland hinauf Anlauf genommen hat, ohne vernehmbares Murren und widerstandslos üble Gedanken und allgemein giftige Energien aufnimmt und abführt, weit über das Lorrainebad und die Stauwehr hinaus bis wer weiss wohin.
Oh, es ist schön, wieder in Bern unterwegs zu sein.

Es ist schön durch die Lauben oder auf dem Gitterost über den rauschenden Stadtbach die Kramgasse hinunter und auf die Münsterplattform gehen zu können. Gerade hat dort unter den Schuhen noch der gefrorene Schnee geknirscht und aus dem Lift war ein Kind geeilt und hatte mit ausgestreckten Wollhandschuhen gerufen: «Es schneielet».
Noch während ich überlegte, wie sich dieser freudige Ausruf eventuell übersetzen liesse, machte sich die Versuchung bemerkbar, auf die verschneite Mauer einen Wunsch für das neue Jahr zu schreiben. Stattdessen formte ich einen Schneeball und noch einen. Dreimal zielte ich nur vom Turm des Münsters beobachtet auf einen der kahlen Kastanienbäume, aber nur einmal traf ich den Stamm.
Und im Schweller war wieder mal einer der seltener gewordenen Schwäne zu bewundern. Der Nachwuchs war auch vorhanden. Beträchtlich kleiner und noch grau gefiedert war dieser Jungschwan auf der jetzt braunen Aare schwerer auszumachen. Aber beide steckten wiederholt ihre langen Hälse ins Wasser. Auf einer nahen Kiesbank taten derweil drei Fischreiher und eine Möve so, als wäre ihnen das egal.
Vereinzelt und spärlich sind auch noch Touristen anzutreffen. Weil offensichtlich auch weiter geheiratet wird, konnte eine asiatische Besucherin auf dem Münsterplatz sogar eine stolze Braut fotografieren. Wie der Schwan steckte diese in edlem Weiss, lachte und sagte nach dem zweiten Schnappschuss gutgelaunt, wie es sich für den besonderen Tag gehört: «Das choschtet de öppis!»  «E Füfliber,» hörte ich darauf jemanden sagen. «Nume e Füfliber?» dachte ich. Diese Braut sieht doch aus wie mindestens eine Million Dollar. Und seit Tagen steht auf der Klappe des Briefkastens bei der Post: Nur Liebesbriefe! Ich liess mich aber nicht beirren. Ein schönes Buch hatte ich bekommen und was mich auf Papier erreicht, soll auch im neuen Jahr auf Papier verdankt werden.
Ja, es ist schön, wieder in Bern unterwegs zu sein.

Und was hat Flor Garduño damit zu tun?
Um sich Bilder dieser mexikanischen Fotokünstlerin anzuschauen, ist eigentlich kein Vorwand zu gering.
Aber gegenwärtig wären Bilder von ihr in der Galerie Bischoff im Progr zu sehen. Sogar erstaunlich aktuelle Bilder. Weil mir dann im Netz noch dieser Vogel Klein vor die Augen kam,  erinnerte ich mich erst an die Krähen an der Aare, aber auch noch an eine Krähe, die ich durch die verlassene Laube der Postgasse habe spazieren sehen. Natürlich war es nur eine  Saatkrähe, die eben einen Müllsack aufgepickt hatte, aber ihr aufrechtes Stolzieren war definitiv dasjenige eines sehr kleinen, aber sehr würdigen Monsieurs in einem schwarzen Frack gewesen.

Nach meinem vorangegangen Beitrag, in welchem ich unter anderem meine Hilflosigkeit gegenüber der Spanischen Politik beklagte, erreicht mich doch tatsächlich die vorwurfsvolle Reaktion einer geschätzten Kollegin.
Die Kollegin schreibt, sie könne meine Haltung als Person zwar verstehen, aber als Schreibende hätten wir auch die Pflicht, uns der Gegenwart zu stellen und «erlahmtes Interesse» finde sie eine verantwortungslose Ausrede, die sie nicht gelten lassen könne.  Umso mehr, als sie Spanien überhaupt nicht kenne und sehr gerne gelesen hätte, was dort gerade passiert.
Was bleibt mir also anders übrig, als vor meiner Rückreise nach Bern noch einmal zur Feder zu greifen?
Sicher ist, auch in Spanien kommen und gehen die Zugvögel wie eh und je, aber die Geier fliegen tief und während hier im Dorf die Steinböcke ihr Unwesen auf die Spitze treiben, wird das Land, das letztes Jahr noch mehr Touristen willkommen hiess, als es Einwohner und Einwohnerinnen hat, gerade ziemlich erhudelt.
Völlig unverändert ist der freundliche, sogar herzliche  Umgang der Menschen. Beim Einkaufen wird man auch in diesen Krisenzeiten mit typisch spanischer Liebenswürdigkeit bedient; es wird auch weiter viel gelacht und viel geredet, bloss in der U-Bahn von Barcelona soll es still geworden sein. Dort werden die Passagiere angeblich über Lautsprecher aufgefordert, wegen der  Ansteckungsgefahr in den vollbesetzen Zügen zu schweigen.
Wenn auch nicht im öffentlichen Verkehr, wird dagegen weiterhin endlos viel über Fussball geredet. Und zwar mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie eh und je und auch noch immer mit jener vermeintlichen Objektivität, mit welcher die Experten jedes  Resultat erklären zu können meinen, als hätten sie es vorausgesehen. Nichts ist in Spanien derart unter Kontrolle wie der Fussball und bei Länderspielen am Fernsehen, wie eben zweimal gegen die Schweiz, schrecken die Kommentatoren weiterhin nicht eine Sekunde vor dem Wörtchen «wir» zurück. Ebenso hemmungslos wie ironiefrei sagen sie:  «Wir spielen überlegen» «Wir dürfen dieses Spiel jetzt nicht aus der Hand geben» oder «Wir haben verdient gewonnen, weil wir besser waren!» Und dies alles einfach so, ohne Sternchen und nix. Am Radio wird dagegen oft und gerne über die offensichtlich lebensnotwendigen und anscheinend von allen normalen Menschen konsumierten Serien geredet, denn vor allem wenn es um deren Privatleben geht, wird von den Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen, als wären sie jedermanns bestvertraute Freunde und Bekannte. Und überhaupt nicht selbstverständlich: Nach wie vor fliesst der Strom recht zuverlässig aus den Steckdosen, dort wo es Zugang gibt, funktioniert das Internet und weiter wird täglich in schweren, orangeroten Behältern das Gas angeliefert, mit welchem man kocht und vielerorts auch heizt.
 
Knapp ist dagegen noch immer das Wasser. Die Versteppung schreitet entsprechend voran und vielerorts geht sie Hand in Hand mit der Entvölkerung weiter Gebiete des Landes. Kaum befahrene Strassen verbinden die nur noch spärlich bewohnten legendären Spanischen Dörfer, während die Städte wuchern und wachsen. Dort gibt es in den Kirchen weiterhin zahllose Menschen, die vor ihren verehrten Heiligen niederknien und beten. Niemand beklagt sich hier über schlecht besuchte Gottesdienste. Anders verhält es sich mit der ebenso legendären wie populären  spanischen Bar, eigentlich einer Mischung zwischen Beiz, Café, Schnellrestaurant, Kiosk und Spielsalon, von welchen es in Spanien mehr geben soll als im übrigen Europa insgesamt. Sie werden unterschiedlich gemieden und auch von den Behörden je nach Region unterschiedlich in ihrer Funktion eingeschränkt. Bis Ende des Jahres werden Tausende ihre Türen nie mehr öffnen.
 
Von der Pandemie relativ unbeeinträchtigt, scheint sich der Drogenhandel zu halten, wenn auch nicht ohne Zwischenfälle. Frühmorgens am ersten Oktober soll eine Drohne mit 4 kg Haschisch an Bord in Ceuta abgestürzt sein und ein Kurier, der von Marokko her die Grenze zu dieser Spanischen Exklave auf afrikanischem Boden schwimmend zu überwinden versuchte, hat sich mit 30 kg am Leib der gleichen Substanz offensichtlich derart überladen, dass er ohne die Hilfe der marokkanische Marine ertrunken wäre. Undurchsichtig ist die Rolle der gleichen Marine bei dem Ansturm der Flüchtlinge auf die kanarischen Inseln, von welchen man gerne vergisst, wie weit südlich und wie nahe vom Festland diese sich befinden. Bei der Bewältigung dieser durch Corona verschärften neuen Flüchtlingswelle ist der Spanische Staat offensichtlich einmal mehr überfordert. Für Schlagzeilen sorgen vor allem die Quarantäne in improvisierten Zeltlagern, wenn auch moniert wird, hinter dem Versagen bei der Versorgung der Ankömmlinge stecke möglicherweise die Absicht, abzuschrecken. In den Zeitungen schreiben übrigens auch hier sehr fleissig nordamerikanische Professoren und Professorinnen bestes bekannter Universitäten lange Artikel mit relativ wenig überraschendem Inhalt und in den hier ebenfalls sehr beliebten Interviews mit italienischen Philosophen, zeigt sich vor allem, dass es noch immer viele Zeitungsleute gibt, die noch nicht gelernt haben, dass eine Frage nur dann eine Frage ist, wenn sie kurz ist.
 
Viel geschrieben wird gegenwärtig auch über die vielen Konzessionen, welche die Regierung machen muss, um sich an der Macht zu halten. Sehr umstritten ist dabei eine Schulreform, die sprachpolitisch den katalanischen Separatisten entgegenkommt, auf deren Stimmen Präsident Sanchez paradoxerweise angewiesen ist. Und im Baskenland, wo ehemalige Mitglieder der ETA, wenn sie ihre Strafen abgesessen haben, bei der Freilassung weiter als Helden gefeiert werden, ist es die ultra-nationalistische Partei BILDU, welche bei der anstehenden Abstimmung über das Budget der Regierung notwendige Stimmen zusichert. Undurchsichtig ist, zu welchem Preis diese Unterstützung gekauft wurde. Für die Generationen, welche den ETA-Terror mit seinen über 800 Todesopfern miterlebt haben, sind die neusten Hafterleichterungen offenbar nicht nachvollziehbar. Seit Jahren beklagen die Angehörigen die langen Reisen beim Besuchen der mit Absicht über ganz Spanien verteilten Inhaftierten, worauf die  Angehörigen der Opfer antworten, sie würden gerne eine achtstündige Busfahrt auf sich nehmen, wenn sie damit ihre toten Väter und Mütter oder Kinder besuchen könnten.
 
Für viele Spanier und Spanierinnen ist es ebenso unverständlich, warum gerade jetzt in diesen schwierigen Zeiten über die Monarchie in Frage gestellt werden muss. Als Aussenstehender könnte man tatsächlich den Eindruck bekommen, bei dem amtierenden König handle es sich um einen Despoten. Und insgesamt hat man als Aussenseiter immer mal wieder den Eindruck, alles was in der Politik passiere, sei gar nicht wahr und die zum Teil sehr unerfahrenen Politiker und Politikerinnen seien lediglich am üben, denn wie sonst würden sie in einer Zeit, in welcher immer mehr Leute gegen die Verarmung kämpfen, sich selbst und den Staatsangestellten allgemein Lohnerhöhungen gewähren?
Und was hat José Manuel Ballester damit zu tun?
Wer kennt nicht die aufgeräumten Bilder von Ursus Wehrli? Ballester macht auch Ordnung, aber indem er die Bilder ausräumt. Er entfernt die menschlichen Figuren aus Klassikern. Zurück bleib anstatt Las Meninas ein leerer Königspalast, ein Abendmahl ohne Gäste, leere Landschaften, leere Wälder, leere Strassen, was alles sehr gut passt in diese Zeit. Fehlt bloss noch das Bild einer leeren Kasse.

 

 

Schon ist es wieder eine ganze Weile her, dass ich an dieser Stelle die Gurkenprobleme erwähnte, die ich in meinem Pflanzblätz hier in den Spanischen Bergen zu konfrontieren hatte. Was ich damals nicht erwähnte, ist die Tatsache, dass ich gleich neben den in diesem Jahr aus naheliegenden Gründen sehr spät gepflanzten Gurken ein rundes Salatbeet angelegt hatte, und zwar ohne mir dabei viel zu überlegen. Bald führte um dieses inzwischen längst abgeerntete Beet aber ein fest ausgetretener Pfad, denn ausser den Problemen mit den Gurken, galt es auch den Zustand der Welt im Allgemeinen und denjenigen der Spanischen Politik im Besonderen zu konfrontieren. In der mich dabei immer neu befallenden Hilflosigkeit hatte ich begonnen, verloren in meinen Gedanken, wie ein Esel am Göpel, endlose Runden um dieses Beet zu drehen. Auch stellte ich bald einmal fest, dass ich immer öfter Zeitungsartikel nicht mehr von Anfang an oder nicht wirklich zu Ende las. Mein Interesse und meine Neugier erlahmten. Dabei hätte ich in meiner mittlerweile gar nicht mehr so freiwilligen Selbstisolation sehr wohl Zeit und Musse gehabt, mich mit den Purzelbäumen auseinanderzusetzen, die das Tagesgeschehen in Madrid und Barcelona und im Rest des Landes unablässig schlug, um beispielsweise hier in diesem Blog darüber zu berichten.

Aber das ewige Gezänke, die peinlichen Auftritte , die verlogenen Drohungen, überhaupt die überholte spanische Rhetorik der Rechten gegen die Linken und der Linken gegen die Rechten, die so nichts zu tun hat mit der Suche nach Lösungen für die wirklichen Probleme. Es war nicht nur fürchterlich, es schien sich alles endlos zu wiederholen und um sich selbst zu drehen. Dazu kam, dass ich mich bei einer ganzen Reihe von Politikern und Politikerinnen immer wieder fragte, um Gottes Willen, wo kommen die her? Wie kommen die dorthin, wo sie sind? Wer hat die nur gewählt? Kein Wunder, dass die Kolumnen von namhaften Autoren und Autorinnen, die ich seit Jahren in El Pais und in La Vanguardialese, nur so strotzen von Exkursen über Scham und Fremdscham, über verpasste Chancen, über moralische Katastrophen und über eine sehr düstere Vision für die Zukunft dieses stolzen Landes Spanien. In meiner zeitweisen Abkehr von der Aktualität habe ich aber eine literarische Entdeckung gemacht, über die ich unbedingt berichten muss.

Per Zufall, einfach so, habe ich auf SRF eine Lesung gehört, die mich auf der Stelle in Beschlag nahm. Lesen tat Hanspeter Müller-Drossart und ich muss zugeben, anfänglich befürchtete ich, weil dies so oft geschieht, er würde sich vielleicht mit seiner Vorlesekunst vor den Text schieben. Ich hatte mich aber gründlich geirrt. Selbst auch Autor, muss Müller-Drossart sofort geschnallt haben, dass der Text in seinen Händen keine Interpretation und schon gar keinen eitlen Schabernack benötigte. Diese Sätze stimmen und klingen, und zwar so überzeugend, dass man sie einfach vorlesen kann und das tat er meisterlich gekonnt, indem er seine Stimme immer mehr mit dem Gelesenen verschmelzen liess und er als Interpret eigentlich verschwand. Ein grösseres Kompliment kann man einem Schauspieler beim Vorlesen wohl kaum machen.

Und das Buch? Es heisst Bayass und der Autor ist Flavio Steimann. Es ist eines jener Bücher, bei denen man sich sofort fragt, wo hat der Autor diese Geschichte bloss her, denn die ist so wahr, so nah, dass sie unmöglich erfunden werden konnte. Hätten diese Leute nicht gelebt, könnte er unmöglich so viel über sie wissen, denn eine solche Fülle an stimmigen, historisch überzeugenden Details gäbe kein Archiv der Welt her und nicht mal in 1000 Stunden liessen sie sich recherchieren. Man denkt sogar, der muss das alles miterlebt haben, obschon das zeitlich gar nicht möglich wäre. Und es wäre absurd, hier die Geschichte nachzuerzählen und zu behaupten, dieses Buch sei gut geschrieben. Das wäre ebenso unsinnig wie die «Suite Vollard» von Picasso zu beschreiben und zu behaupten, sie sei gut gezeichnet. Dieses Buch ist genau so geschrieben, wie es seine innere Natur und seine eigenen Gesetze verlangen, nämlich auf seine ganz eigene und einzig mögliche Art. Wollte man dennoch die Qualität seiner Prosa fassbar machen, müsste man diese mit einem sehr edlen Wein vergleichen, bei dem man zweifelsfrei spüren kann, dass seine tief verwurzelten Elemente ineinandergreifen und sich so vorteilhaft zu einem runden Ganzen formen, dass man sich etwas Bekömmlicheres gar nicht vorstellen kann. Der Rest ist Kunst.

Und was hat Margaret Bourke-White damit zu tun? Man vergisst gegenwärtig so leicht, wie viel Bewundernswertes an Kultur und Kunst aus den Vereinigten Staaten kam und kommt. Und Margaret Bourke-White war entschieden eine grosse Fotografin, die als Reporterin der US-Army mit den ersten Fotos eines befreiten Konzentrationslagers über Nacht weltberühmt wurde, der wir aber auch sehr witzige Bilder der Freiheitsstatue zu verdanken haben. Und genau dahin führt die Geschichte von Steimann, die nachzuerzählen sich hier völlig erübrigt. Erwähnt sei lediglich eine Überfahrt auf dem Immigrantenschiff «Liberté», die so einfühlsam und genau dargestellt wird, dass man als Hörer bei einem Sturm einmal beinahe selbst ein komisches Gefühl in der Magengegend zu bemerken vermeint. Und übrigens: Auf diesem Schiff soll es auch Leute gegeben haben, die glaubten, bei der Freiheitsstatue handle es sich um eine übergrosse Darstellung der Jungfrau Maria. Auch so kann man sich irren in Amerika.

 An dieser Stelle habe ich zuletzt berichtet, dass ich in meinem Gemüsegarten in den Spanischen Bergen den Gurken gut zugeredet habe. Weil sie unter den besonderen Umständen sehr spät im Jahr gepflanzt wurden, wollten sie nicht richtig gedeihen. Es hat genützt. Inzwischen habe ich Gurken mehr als genug. Aber sind diese Gurken vielleicht dumm. Wirklich! Es ist je fast härzig, wie sie ihre feinen Fühler ausstrecken und nach Halt suchen und wie mit kleinen Händchen nach der aufgespannten Schnur greifen. Manchmal ringeln sich diese dazu gedachten Triebe aber um den eigenen Stängel. Der berühmte Baron lässt grüssen. (Siehe: Wer einmal lügt…).
Leider muss ich aber jetzt meine Ernte immer mal wieder mit einem Steinbock, und wie mir scheint, seit ein paar Tagen auch mit einem frechen Dachs teilen.Während der Steinbock vor allem auf Salat steht, hat es der Frechdachs auf die in diesem besonderen Jahr auch sehr spät reifenden Tomaten abgesehen.
Natürlich passiert auch sonst Weltbewegendes in Spanien. Der alte König im Exil, der FC Barcelona im freien Fall und nicht zuletzt die zweifelhafte Ehre, in Sachen Pandemie etliche europäische Statistiken anzuführen. Eine Nachbarin meinte dazu nüchtern, in etwas müsse ihr Land doch auch einmal Spitze sein dürfen. Wobei ich gestehen muss, dass meine allgemeine Skepsis gegenüber dem realen Wert von Statistiken immer noch zunimmt. Was soll man denken, wenn man zum Beispiel liest, 17% (vielleicht waren es auch nur 14%) der Spanier würden dem amerikanischen Präsidenten für seinen Umgang mit der Pandemie gute Noten erteilen. Woher wissen die das und warum werden sie dazu gefragt? Vermutlich wollen diese Befragten vor allem ihre Unzufriedenheit mit ihrer eigenen Regierung ausdrücken.
Für den Zeitungsleser ist es allerdings alles andere als erbauend, zur Kenntnis nehmen zu müssen, wie unbedarft seine Mitmenschen sein können. Viel hat sich diesbezüglich über die Jahrhunderte offensichtlich kaum geändert. Neulich wurde im Zusammenhang mit einer Demonstration gegen die aus gutem Grund neu erlassenen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in der Zeitung La Vanguadia der grosse spanische Satiriker Quevedo zitiert. Schon vor mehr als 300 Jahren behauptete dieser, alle, von welchen man vermute, sie seien Idioten, seien es und die Hälfte aller, bei denen man es nicht vermute, seien es auch. Von der anderen grossen Spanischen Zeitung «El Pais», die ich in diesen besonderen Zeiten digital abonniert habe, bekam ich neulich eine freundliche Mailnachricht, in welcher man mir und allen anderen Abonnenten aufrichtigen Dank aussprach. So erfuhr ich, dass «El Pais», dieses Weltblatt mit einer publizistischen Vormachtstellung in sämtlichen spanischsprechenden Gebieten auf vier Kontinenten, sich mit 120 000 digitalen Abonnenten glücklich schätzen muss. Spanien allein zählt über 40 Millionen Einwohner und die wichtigste Zeitung geniesst eine derart beschämend kleine Verbreitung. Das macht Angst. Als müsste man sich darauf einstellen, dass die wesentlichen Informationsquellen am Versiegen sind.
 
Und was hat Chaim Soutine damit zu tun? Wir leben einmal mehr in schmerzhaft ungerechten und schmerzhaft schwierigen Zeiten. Grosse Teile der spanischen Bevölkerung eint schon jetzt nur noch der Schmerz über den Verlust von in mangelhafter Betreuung verstorbener Angehörigen, aber auch der Schmerz über den Verlust von Arbeit und Würde. Und nichts ist ausgestanden. Der Schmerz wird weiterwachsen. Und Soutine ist ein Meister des Schmerzes.Dem Schmerz am eigenen Leib, aber auch dem Schmerz einer fürchterlichen Kindheit zum Trotz, schuf Soutine ganz grosse, wenn sehr oft auch schmerzhafte Kunst. In dem Bild “Le Pâtissier de Cagnes,” porträtierte er den Küchenburschen Remi Zochetto aus Céret, einer kleinen Stadt am Fuss der französischen Pyrenäen. Eigentlich spricht das Bild für sich, aber dennoch möchte ich erwähnen, dass dieser Junge das rote Taschentuch genau dort festhält, wo im Bauch des Künstlers ein Magengeschwür wucherte, an welchem er sein Leben lang litt und an welchem er auch starb. Natürlich ist Soutine ein Künstler, den man kennt, dem man in grossen Museen immer wieder begegnet ist, dass ich mittlerweile aber weiss, wie bedeutend dieser Chaim Soutine wirklich ist und welch unglaubliches Schicksal er gelebt hat, verdanke ich dem Roman «Soutines letzte Fahrt» von Ralph Dutli. Gracias.

Und dann ist man doch schon seit einem Monat wieder in Spanien. Hat sogar einen Garten angelegt, wenn auch in ziemlich bescheidenem Rahmen. In diesem Jahr wird es weder Kartoffeln noch Zwiebeln zu ernten geben. Aber immerhin ernte ich schon Salat und Zucchetti und ein paar Tomaten sind am Reifen, so munzig, wie sie auch noch sind. Bei den Gurken sieht die Sache schon unsicherer aus.
Ich war gerade dabei, dem einen Stängel mit ein paar etwas schlaffen Blättern dran gut zuzureden, als die Nachbarn aus Katalonien auftauchten und zwar diesmal mit einem Hund. Es war an dem bis jetzt heissesten Tag des Sommers. Ich wollte der Gurke gerade noch gut zureden: Du schaffst das, wollte ich sagen, ihr seid eine äusserst widerstandsfähige, robuste Truppe, viel zu spät eingepflanzt, überhaupt nicht nach Fahrplan, ich weiss, aber die Nachbarn und auch der neue Hund wollten angemessen begrüsst sein und natürlich bestätigten wir uns gegenseitig, dass wir in eigenartigen Zeiten lebten. Tiempos muy raros.

Während die Nachbarin eine Maske trug, hatte der Nachbar diese nur an einem Ohr angehängt. Er lobte mir freundlich den Garten und meinte dann, dass es in diesem Jahr wegen der Pandemie mehr Sommergäste als üblich im Dorf haben werde, denn Reisen ins Ausland seien ja fast unmöglich. Auch sie hätten für diesen Juli eigentlich eine Reise geplant, Thailand wäre an der Reihe gewesen. Glücklicherweise hätten sie aber im März, noch vor dem Ausbruch der Pandemie, Kenia besucht, und er sei im Februar in Chile und Argentinien durch Patagonien gefahren. Und immer mit der an einem Ohr herunterhängenden Maske fügte er noch hinzu, Gott sei Dank hätten sie im Januar noch ein paar Tage in Rom verbringen können.

Klar, sagte ich, weil ich mich gedrängt fühlte, auch etwas zu sagen, Rom sei immer für eine Reise gut, aber eigentlich war ich in Gedanken noch immer bei meinen Gurken, welchen ich unbedingt noch nahe legen wollte, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, kein Mensch erwarte von ihnen wieder so eine Überproduktion wie letztes Jahr. Nein! Nein! Ein paar wenige saftige Exemplare würden reichen, aber ohne Gurken sei ein Gazpacho eben doch nicht wirklich ein richtiger Gazpacho.
Mein Nachbar tätschelte dann den Hund und als er sagte, dieses liebe Tier hätten sie im April bei sich aufgenommen und schon sei es ein Mitglied der Famile, dachte ich, hoffentlich wird es das auch bleiben, wenn es ans Buchen der nächsten Flüge geht, denn Thailand wartet und Tausende der Hunde, die in Spanien während der Ausgangsperre über geschäftstüchtige Onlinehändler Besitzer gefunden hatten, um diesen einen Vorwand zum Verlassen ihrer Wohnung zu liefern, wurden nur Wochen später wieder ausgesetzt.

Und was hat Erwin Wurm damit zu tun?

Erwin Wurm ist einer der ganz wenigen Künstler, denen das Verdienst zukommt, der Gurke in der Kunst ihren angemessenen Platz verschafft zu haben. Die Gurke im öffentlichen Raum wie in Salzburg. Herrlich ballt sich da der österreichische Witz. Der an die Wand gestellte Lastwagen hat mir aber auch schon immer gut gefallen.

 «Von unserem Bericht hoffen wir, dass er nicht allzu sehr missfallen haben möge, sollten wir den Leser jedoch bloss gelangweilt haben, so halte man uns zugute, dass es nicht mit Absicht geschehen ist.»
So endet nach mehr als 700 Seiten das Buch, das man ungern aus den Händen gibt und dem man im Regal einen ganz besonderen Platz zuweisen wird. Es ist ein Buch, das man vorerst aber noch ein paar Tage rumliegen lässt, weil es bei der Lektüre eine besondere Aura entwickelt hat, weil es lebendig geworden ist, weil es nachwirkt, weil die in ihm aufgegriffenen Themen in einem weiterwuchern.
Es ist eines jener Bücher, von welchen man noch bei den unpassendsten Gelegenheiten schwärmen möchte, aus welchem man Geschichten nacherzählt und zwar so betroffen, als hätte man sowohl die dargestellten Niederträchtigkeiten als auch die erhabenen Momente alle selbst erlebt.
Und ja, es ist eines jener Bücher auf die in diesen besonderen Zeiten immer wieder verwiesen worden ist, weil es sich vor einem historischen Hintergrund entfaltet, in welchem nicht nur eine legendäre Hungersnot, sondern auch der katastrophale Ausbruch  der Pest in Mailand während des Dreissigjährigen Krieges eine Rolle spielen.
Zum ersten Mal begegnet bin ich dem Buch, als ich mir von sachkundiger Seite die herausragenden Werke der italienischen Literatur empfehlen liess.
Es handelt sich um «Die Verlobten» von Allesandro Manzoni.
Unter all den Fragen und Gedanken, die dieses grosse Buch auch noch nach der Lektüre anstiess, beschäftigte mich unter anderem plötzlich die Tatsache, dass zwei sehr unterschiedliche Romanfiguren in Anbetracht von bestimmten Umständen, allen Beteiligen beteuerten, man solle sich keine Sorgen machen, man habe Geld genug und werde für das Nötige aufkommen. Man habe Geld genug!
Das waren noch Zeiten, als es reiche Männer und Frauen gab,  – in einem Fall handelt es sich um eine Witwe – die sagten: Geld habe man genug. Geld ist kein Problem. Vermutlich hat es noch nie so viele Menschen wie heute gegeben, die mehr als genug Geld haben, aber dass jemand sagt: Keine Sorge, Geld habe man genug! Das hört man eher selten. Das wäre heute wohl unschick oder gar dumm. Ich weiss es nicht. Es ist trotzdem schön, zu lesen, Geld habe man genug.

Und was hat Urs Stoss damit zu tun?

In der Zeitung sah ich ein Bild des  Sechseläutenplatzes in Zürich an einem Samstagnachmittag. Erst traute ich meinen Augen nicht und dachte: Aber diese über den Platz verteilten Figuren, diese Distanz haltenden, isolierten Menschen, die kenne ich doch. Sogar in genau diesen Farben habe ich das schon gesehen.
Dann erinnerte ich mich an die Bilder von Urs Stoss, die ich, wenn sie an der Münstergasse in der Galerie Krebs ausgestellt worden waren, immer gerne gesehen habe und immer stehen geblieben bin, um sie eingehend zu betrachten, weil es Bilder waren, auf denen so vieles zu sehen war. Es sind kunstvolle Wimmelbilder voller Geschichten. Moderne Kunst wie gemacht für Kindsköpfe wie mich. Aber nie hätte ich gedacht, dass ein gefragter Berner Künstler in seinen Bildern einen ganz besonderen Zustand der Welt so genau vorwegzunehmen wusste.

Einer der dümmsten Menschen, die ich je kennengelernt habe,  war von Beruf Journalist und zwar mit Starstatus. Wenn ich schreibe, schreibe ich für Millionen, pflegte er zu sagen. Was er privat allerdings an weltanschaulichen Ungeheuerlichkeiten absonderte, ging auf keine Kuhhaut. Auch sonst ist man zwar oft genug gezwungen, zu erkennen, wie eingeschränkt die sogenannten Eliten in ihrem Denken sein können, dass man sich mit solchen Äusserungen aber in heikle Bereiche begibt, ist auch klar. Ist man selbst wirklich gescheit genug, um anderen ihre Dummheit vorwerfen zu dürfen?
Ohne Zweifel ein schwieriges Kapitel, aber was soll man tun, wenn die Emotionen ins Spiel kommen, wenn man sich derart für dumm verkauft vorkommt, dass man sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger quer durch die Küche stürzen muss, um mit einem heftigen Knopfdruck dem ärgerlichen Gespräch am Radio ein Ende zu bereiten?
Schon mehrmals war es schlicht nicht mehr auszuhalten.
Da fragte tatsächlich zum hundertsten Mal eine Journalistin einen Korrespondenten: Was hat das für Folgen? Mein Gott, weil man wissen will, was etwas für Folgen hat, hat man doch die verdammten Nachrichten eingeschaltet. Was hat das für Folgen? Alles hat Folgen! möchte man schreien. Wozu fragen Sie dann noch! Egal welche schlimmen Entwicklungen in welchem Bereich auch immer es zu vermelden und zu beachten gibt, ob in der Türkei, in den USA, in China, in Indien, in Italien, in Australien oder in Afrika, in der braven Schweiz fragt am braven Schweizer Radio eine brave Schweizer Stimme ganz brav und absolut überflüssig: Was hat das für Folgen?
Und warum?
Weil brav befolgt wird, was irgend ein fehlgeleiteter Vorgesetzter oder meinetwegen ein «Vorgesetzter mit Sternchen» befohlen hat. Mir, dem Hörer wird nämlich beleidigenderweise eine Konzentrationsspanne von etwa einer halben Minute zugetraut und deshalb muss wie von oben herab verschrieben, jede Information mit meistens dilettantisch improvisierten Zwischenfragen zerstückelt und zerdrückt werden wie die Banane für den Kinderbrei mit dem Löffel.
Wollen die mich ausgerechnet in diesen wirren Zeiten noch zum Fernseher machen?

Und was hat Paul Klee damit zu tun?

Eigentlich nichts, aber seit ein paar Tagen ist die Münsterplattform wieder geöffnet und was dies für die Bewohner der Unteren Stadt bedeutet, ist kaum zu überschätzen. Die Plattform ist für viele der einzige Balkon, der einzige Garten und ein Kraftort dazu. Auf der Plattform kann man sehen, dass die Aare weiter ziemlich gelassen und grün wie immer daherkommt, auf der Plattform kann man sich von ihr berauschen lassen und auf der Plattform kann man sich auch vergewissern, dass sie weiter wie eh und je unbekümmert in die Welt hinausfliesst.
An der Ansicht, die Paul Klee möglicherweise von der damals gerade neu gebauten Kirchenfeldbrücke aus gezeichnet hat, ist vor allem ausserordentlich, dass er gerade mal 12 Jahre alt war.

Weil ich an dieser Stelle schon öfters direkt aus Spanien berichtete, will ich dies auch jetzt tun, obschon ich nicht vor Ort bin. Ich fühle mich dazu auch durchaus berechtigt, träumte ich doch neulich tatsächlich, ich hätte mich mit Quim Torra, dem Regionalpräsidenten von Katalonien getroffen und wir hätten uns so gut unterhalten, als wären wir schon immer die besten Kumpels gewesen.
Ein Teil von mir ist also offensichtlich auch jetzt in Spanien.
Als mich ungefähr vor zwei Wochen von dort die ersten Nachrichten erreichten, die schon Schlimmes befürchten liessen, rief ich deshalb einen Freund an. Ich erreichte ihn in einem Reisebus unterwegs in Andalusien. Der Empfang war mässig, aber ich erfuhr, dass offensichtlich schon alle Museen geschlossen und alle Veranstaltungen abgesagt worden waren. So auch der Stierkampf in der berühmten Arena von Sevilla, der ein Höhepunkt des Reiseangebotes hätte sein sollen.
Als mich mein lieber spanischer Freund dann fragte: «Tambien lo teneis?» Also, ob wir «es» in der Schweiz auch hätten, und ich darauf wissen wollte, was er meine, sagte er: «Hombre, el bicho». Er fragte also nach dem «Beast», wie das Virus in Spanien, wie ich mittlerweile weiss, offensichtlich allgemein genannt wird und das ihnen auf ihrer Reise überall einen Strich durch die Rechnung machte.
Natürlich wunderte ich mich über seine Frage und gleichzeitig begann ich zu erahnen, was sich mir alsbald bestätigen sollte: Es ist überhaupt nicht so, dass sich Leute, die in normalen Zeiten kaum eine Zeitung aufschlagen und sich eigentlich nur mässig für Politik und den allgemeinen Gang der Welt interessieren, in Krisenzeiten plötzlich anfangen, sich ausführlich zu informieren.

Dieser Verdacht bestätigte sich mir gleich darauf auch hier in der Schweiz in der Apotheke, die ich mittlerweile längst nicht mehr selbst aufsuche.
Aus guten Gründen gab es dort bereits eine Abschrankung, um ein Gedränge vor dem Ladentisch zu verhindern, was die wartenden Kunden und Kundinnen nicht daran hinderte, sich vor der Abschrankung auf kleinstem Raum so dicht zusammenzuballen, als hätte noch kein Mensch je von den ersten, einfach zu treffenden Vorsichtsmassnahmen gehört.
Einen ähnlichen Grad an katastrophaler Uninformiertheit gab es in Spanien im besonders stark betroffenen Madrid, als die ersten Massnahmen verschärft werden mussten. Schulen und Läden wurden geschlossen, aber der Wissensstand der Bevölkerung war offensichtlich noch immer so tief, dass dies viele der Betroffenen als Aufforderung verstanden hatten, sich wie im Urlaub in ihre Zweitwohnungen – und davon gibt es in Spanien vorzugsweise am Meer sehr viele – zurückzuziehen, ohne zu bedenken, dass sie damit «el bicho» erst richtig im ganzen Land verteilten.
Es kann wohl sein, dass ich mich irre, aber ich meine in diesen Tagen gelernt und verstanden zu haben, dass dies auch in noch schlimmeren Krisenzeiten und ganz bestimmt in nicht so fernen Kriegszeiten ähnlich gewesen sein muss. Im Nachhinein ist es leicht zu meinen, man hätte doch von dem Ausmass der Sinnlosigkeit, des Schreckens und der Verbrechen «gewusst haben müssen». Jetzt lese und höre ich von Menschen, die schon heute «davon» nichts mehr wissen wollen oder auch einfach nicht noch mehr ertragen können, weil sie, wie unsere Nachbarn in Italien, schon so viel Leid und Elend miterleben mussten. 

 
Und was hat Peter Iseli damit zu tun?
Freundlicherweise hat er mir völlig absichtslos dieses Aquarell mit dem mittelalterlichen Pestarzt zukommen lassen, das mir auf Anhieb so gut gefiel, dass ich es als Anlass nahm, wieder einen Blog zu schreiben, damit auch andere es sehen könnten. Als ich Peter Iseli fragte, ob ich das Aquarell verwenden dürfe, sagte er von ihm aus gerne, aber er wolle niemanden verletzen.
Wen meinst du denn, könntest du damit verletzen? fragte ich. Er wisse es auch nicht, aber heute sei das jederzeit möglich. Er wolle einfach kein Missverständnis verursachen und schon gar nicht, sich über jemanden lustig machen. Ach komm, sagte ich, gerade jetzt dürfen wir doch den Humor nicht verlieren.
Vielleicht, dachte ich danach, machen wir ja gerade eine Erfahrung durch, welche die Dünnhäutigkeit, mit welcher man sich noch vor wenigen  Monaten über alles und nichts entrüsten konnte, einem etwas gestärkten Selbstbewusstsein weicht. Vielleicht muss auch die eine oder andere Prioritätenpyramide wenn nicht neu aufgebaut, so doch überdacht werden. Es sind vielleicht tatsächlich Zeiten, die uns daran erinnern, dass wir tatsächlich als Schicksalsgemeinschaft alle im gleichen Boot sitzen und wir nicht jeden und jede, bloss weil er oder sie eine von uns abweichende Sicht auf die Welt hat, über Bord werfen sollten.