Jammertal

von Beat Sterchi 16. Februar 2024

Hier und Heute Auf der Münsterplattform versucht unser Autor, der grossen weiten Welt zu entkommen und trifft auf eine perfekt choreografierte Tourist*innen-Gruppe aus China.

Auf der Münsterplattform sieht man es: Das Leben geht weiter. An den frisch zurückgeschnittenen Kastanienbäumen zeigen sich die ersten Knospen und die Aare fliesst grün und munter ins neue Jahr hinein. Ja, eigentlich läuft alles gut. Vor ein paar Wochen ist mir unten in der Matte noch ein Sürmel über den Weg gelaufen, aber seither begegnete ich keinem Menschen, der auf meine Frage nach seinem Wohlbefinden nicht gesagt hätte: Danke gut. Mir geht es sehr gut. Oder wenigstens: Ig cha nid chlage.

Ein wenig anders sieht es aus, wenn man sich der grossen weiten Welt zuwendet. Es sind ja nicht nur die so hässlichen Kriege, mit denen man leben muss, obschon man im Alltag wenig davon spürt. Fühlt man sich auch nur zu einer beschränkten Anteilnahme am Weltgeschehen verpflichtet, wird schnell klar, dass man eigentlich ein recht schweres Bürdeli durch ein Jammertal schleppt. Wie lebt man im Bewusstsein, dass sich Menschen gerade jetzt gegenseitig niedermetzeln? An so vielen Orten auf der Flucht sind oder sich sonst den fürchterlichsten Widrigkeiten ausgesetzt sehen? Ja, wie lebt man mit dem Elend der andern?

Kein Wunder, dass man dann etwas neidisch an diejenigen denkt, die regelmässig fasten oder wenigstens zum Jahresanfang während einer gewissen Zeit keinen Wein trinken oder kein Fleisch essen. Wie schön wäre es doch, einmal einen Monat lang auf jeglichen Medienkonsum zu verzichten? Einmal einfach nichts wissen und nichts ahnen von den Untaten der Mächtigen. No news please, ich faste. Welch ein angenehmer Traum.

Gerade als Bewohner der Innenstadt könnte man aber der grossen weiten Welt auch so nicht entkommen. Denn in der Form von Tourismus bricht sie immer wuchtiger über Bern herein und ja, auch der Massentourismus ist ein Jammertal. Manchmal könnte man meinen, man sei in Venedig. Man hat auch immer wieder Grund, sich zu wundern, mit welcher gnadenlosen Zielstrebigkeit sich ganze Reisegruppen hinter ihren Smartphones her beispielsweise auf den Rathausplatz stürzen, um dort mit blinder Entschlossenheit die arme St. Peter-und-Paul-Kirche ins Visier zu nehmen als wäre sie der Petersdom.

No news please, ich faste.

Logisch, sagte neulich ein Freund, wenn du aus einer chinesischen Millionenstadt kommst, flippst du aus in Bern.  Aber die Knipserei vor dem Einsteinhaus und ganz besonders vor dem Zeitglockenturm? Was soll das? Gut, Selfies müssen natürlich auch sein, aber trotzdem: So ein Leerlauf. Die Welt ist längst dokumentiert und in guter Qualität vieldimensional abgebildet. All diese Sehenswürdigkeiten, die hier so schnell und oberflächlich täglich tausend Mal abgeblitzt werden, liessen sich auf denselben Geräten mit wenigen Klicks auf die Bildschirme zaubern.

Und vor ein paar Tagen stürmte eine sehr kompakte Reisegruppe mit solcher Vehemenz über die Münsterplattform, dass ich glaubte, einer ultramodernen Ballettaufführung beizuwohnen. Sich etwas angeschaut hat niemand, fotografiert hat jede und jeder. Alle richteten ihre Handys buchstäblich auf alles, sogar auf den Himmel, wo gerade mal kein verirrter Milan, nur ein paar Wolken zu sehen waren.

Die Welt ist längst dokumentiert und in guter Qualität vieldimensional abgebildet.

Auf der Suche nach dem perfekten Sichtwinkel verrenkten und verbogen sie sich, als wären sie ein Turnverein und als vom Münster her die Glocken ertönten, wandten sich sicher zwanzig, wenn nicht dreissig, ausgestreckte Arme mit den Handys sofort dem Turm zu. Und zwar alles so koordiniert, als wäre der ganze Auftritt auf einen dramatischen Schluss hin professionell choreografiert worden.

Nur eine vor sich hin lächelnde Dame mit einer Pelzmütze auf dem Kopf liess sich bei ihrer Panoramaaufnahme nicht unterbrechen. Sie beugte sich über die Brüstung und sich langsam drehend, filmte sie alles vom Mattenschulhaus über die Englischen Anlagen bis hin zur Kirchenfeldbrücke, über die gerade ein Tram fuhr.

Der ganze Foto Tanz fand auch noch in einem rekordverdächtigen Tempo statt. Natürlich wollte ich dann wissen, woher diese Reisegruppe stammte. Das war aber gar nicht so einfach herauszufinden. Englischkenntnisse waren keine vorhanden. Zweimal wurde ich sogar auf eine Art abgewiesen, als hätte jemand den Befehl ausgegeben, mit niemandem zu sprechen. Eine junge Dame sagte aber schliesslich lächelnd: China. Und als ich insistierte: From where in China? sagte sie weiter sehr freundlich, sogar herzlich lächelnd: Shenzhen.