In uns erwacht das Universum

von Gerhard Meister 12. November 2013

Gerhard Meister zum 100. Geburtstag von Albert Camus und zum neuen Buch des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel.


Das Absurde, das Camus in seinen Essays und Romanen beschrieben hat, war in den 50er Jahren und auch danach vor allem deshalb so populär und weitherum verständlich, weil das Massenmorden des Zweiten Weltkriegs auch allen Nichtphilosophen ein Gefühl dafür eingeimpft hatte.

Das Absurde hat seinen Grund aber auch im Darwinismus, der Lehre also, dass die Natur nur ein planloses Gewucher ist, getrieben vom Wechselspiel zufälliger Genveränderungen und Überlebensvorteilen. Aus diesem Gewucher sind wir Menschen entstanden, ein Zufallsprodukt, das auch anders hätte herauskommen können oder gar nicht. Schon die Behauptung, wir seien nur eine Laune der Natur, vermenschlicht diese in unzulässiger Weise. Die Natur hat keine Launen, sie ist ein Zufallsgenerator und blinder Mechanismus und wir als denkende und fühlende Wesen sind darin ganz im Sinne von Camus Fremde.

Camus wäre vor einigen Tagen hundert Jahre alt geworden (unvorstellbar, dass er also noch am Leben sein könnte). Und der renommierte amerikanische Thomas Nagel, ein Schwergewicht in seiner Branche, hat kurz vor diesem Jubiläum ein Buch veröffentlicht, das genau diesen Darwinismus, der unsere Erfahrung des Absurden mitbegründet, angreift:

Warum die materialistische neodarwinististische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. So heisst es im Untertitel von Geist und Kosmos. Die Vorstellung, dass wir nur ein Zufallsprodukt der Natur sind und unser Geist etwas, das sich auf Physik und Chemie zurückführen lässt, hält Nagel für höchst unwahrscheinlich, und er ist sicher, dass eine kommende Generation sie geradezu lächerlich finden wird. Als Gegenbegriff zum Zufall als dem Grund unseres Seins, der weit über die Wissenschaft hinaus zum unangefochtenen intellektuellen Common Sense geworden ist, bringt er die Teleologie ins Spiel, also die Vorstellung, die Entwicklung des Universums habe ebenso wie die Entwicklung des Lebens auf der Erde ein Ziel. Und zwar, in einem Wort: uns. Der entscheidende Satz im Buch lautet: „Jedes einzelne Leben bei uns ist ein Teil des langwierigen Prozesses, in dem das Universum allmählich erwacht und sich seiner selbst bewusst wird.“ Das ist eine Paraphrase von Friedrich Schellings Satz: „Im Menschen schlägt die Natur ihre Augen auf und erkennt sich selber.“ Vom deutschen Idealismus ist es nur noch ein Schritt zum Glauben an den christlichen Gott, der sich im Menschen inkarniert, ein Schritt, den Nagel als bekennender Atheist nicht tut.

Was er tut, ist trotzdem sensationell: Der Glaube, der Mensch besitze mit seinem Geist dasjenige, worauf sich das Universum seit dem Urknall als seinem Ziel zubewegt hat, hebt alles auf, was wir als heutige und moderne Menschen über uns selber glaubten denken zu müssen. Plötzlich sind wir wieder wichtig und stehen im Zentrum der Welt und sind in ihr zuhause. Und es ist nicht ein Pfarrer oder Esoteriker oder ein verlorener Schwätzer in irgend einer Bar nachts um vier, sondern einer der renommiertesten Philosophen Amerikas, der uns diesen Glauben mit überzeugenden Argumenten anbietet. Was hindert uns zuzugreifen und zu glauben, was uns gut tut? Uns vielleicht etwas Licht wirft in eine saisonale Depression? Uns vielleicht wieder Kraft gibt zur Empörung und Revolte auch im Sinne Camus? Durch Nagels Glaubensangebot wird die Philosophie des Absurden nicht zum Irrtum. Im Gegenteil. Werden durch die kosmische Wertsteigerung des Menschen seine Vernichtung und Knechtung nicht nur noch unerträglicher, noch absurder?

 

Thomas Nagel: Geist und Kosmos, Suhrkamp 2013