Il n’ y a que le vélo. In kommenden Zeiten.

von Michael Kaufmann 25. März 2020

Jetzt kurven die Polizeikontrollen auf Velos durchs Quartier. So wirken die Flics sehr menschlich und es ist zu spüren, dass ihre Kontrolltätigkeit hier am Bassin de Villette im Norden von Paris eine Unterstützung ist. Das gibt den Einkaufenden und sportlich Tätigen Sicherheit und wird nicht als Akt von polizeilicher Gewalt empfunden. Abgesehen davon winken die Beamteten die Jogger meist locker durch. In dieser Montur und auf Turnschuhen muss man in diesen Tagen das besagte Formular[1] kaum mal auspacken. Die Blicke der Behördenmitglieder sind dann fest – aber kollegial-freundlich auf einen gerichtet. Guter Nebeneffekt: Vom Velo aus sind die geforderten Abstände zwischen Menschen automatisch gewährleistet.

Paris ist ehrgeizig und will die Velohauptstadt der Welt sein: Die Stadtregierung hat grosse Pläne, will mit 150 Millionen Euro bis 2024 das bereits vorhandene Velowegnetz verdoppeln, neue Velostationen bauen und neue «Velo-Expressstrassen» quer durch die Metropole legen. Ein Plan, der in doppelter Hinsicht entscheidend ist, und hoffentlich für die Zeiten nach dem «confinement» zügig in Umsetzung geht. Denn einerseits ist das Velo auch für die Zukunft das einfachste, billigste, sozialste und umweltfreundlichste Verkehrsmittel der Grossstadt. Dies in geschickter Kombination mit dem öffentlichen Verkehr: Kein Zufall ist der städtische Fahrradverleih «velib’» – immerhin seit 2007 einer der ersten dieser Art in Europa – mit seinen mittlerweile rund 20’000 Velos und rund 1500 Velostationen direkt mit dem regionalen «Navigo»-Abo des ÖV kombinierbar. Heute verwenden rund 245’000 Abonnierende dieses Angebot und machen alltäglich Gebrauch der intelligenten Räder ab der praktischen Vélib-App.[2]

Zweitens ist die Stadt trotz der hehren Pläne heute noch weit entfernt vom Ziel, eine echte Velostadt zu sein: Dies etwa im Vergleich zu den holländischen und dänischen Velometropolen, aber auch zur Hauptstadt Bern, die seit Jahren ein echtes Veloparadies ist. Der locker-charmante Schlagerhit «A vélo dans Paris» von Joe Dassin aus dem Jahr 1972[3], würde ganz jedenfalls gut für fortschrittliche Städte wie Bern passen. Sicher aber nicht auf die normalerweise chaotischen Verkehrsverhältnisse in Paris. Hierzulande hält man sich zwar jetzt brav an präsidiale Notrechtsparolen und es gibt böse Blicke, wenn man beispielsweise beim Zeitungskiosk etwas zu nah ansteht. Präsident Macrons Kriegsparole vom 16. März läuft sozusagen im Hinterkopf mit.

Betont nachlässig ist hingegen der Umgang der Parisiens mit Verkehrsregeln und anderen obrigkeitlichen Vorgaben in «Friedenszeiten»: Zwar gibt es Velowege und Velospuren, aber an diese halten sich weder die Velofahrenden selbst, geschweige aber dann alle anderen. Hier wird parkiert, angehalten, ausgeladen, Töff gefahren. Von den vielen Trottinetts, die überhaupt keine Regeln einhalten, gar nicht erst zu reden, denn diese fliegen einem überall im Strassenraum um die Ohren. Zudem wechseln die Fahrradstreifen laufend die Fahrbahn, manchmal ist man auf der linken Strassenseite, manchmal auf der rechten und man muss höllisch aufpassen, wenn man die stark befahrenen Strasse quert.

In den Spitzenzeiten – siehe Dassins Chanson! –  kommt in Paris ohnehin der ganze Verkehr zum Erliegen. Bei allen schönen Veloparolen: Die freiheitsliebenden Franzosen fahren mit ihren PW überall hin und eine verkehrsfreie Innenstadt ist höchstens schöne Vision einiger rotgrüner Politikerinnen und Politiker. Die totale Verkehrsblockade als Dauerzustand ergab sich in den 6 Wochen Streik (Dezember 2019 – Mitte Januar 2020) in der Metropole jeweils ab 08.30 Uhr bis in die Nacht hinein, da damals der ganze öffentliche Verkehr lahmlag. Als Velofahrer kämpfte man sich in dieser Zeit im Schneckentempo ohne Regeln (Lichtsignale bitte ja nicht beachten!) kreuz und quer durch. Wenn man denn überhaupt als Vélib-Kunde[4]  noch zu einem Vehikel kam: In der Streikzeit nahmen die Velofahrten in Paris um 30 und mehr Prozent zu, der Kampf ums letzte Velo an den Parkierstationen war meist hoffnungslos, der Fahrradverleih wurde vom eigenen Erfolg machtlos überrannt.

Frankreich ist durchaus ein Veloland, aber bisher vor allem des leichtfüssigen Velosports: Die seit 117 Jahren jährliche «Tour de France» ist (oder war bisher) das Weltklasse-Velorennen Nummer eins. Millionen von (meist per PW angereisten) Franzosen harren jeweils im Juli irgendwo am Rand heisser Asphaltstrassen oder an steil exponierten Bergpasskurven tagelang aus, um ihre Idole in 30 Sekunden vorbrausen zu sehen.

Die Grande Nation weinte, als im Sommer 1989 der intellektuelle Laurent Fignon die Tour auf der letzten Etappe wegen 8 Sekunden Rückstand an den Amerikaner Greg LeMond verlor und im vergangenen November 2019 war hierzulande eine halbe Staatstrauer angesagt, als die Rennfahrerlegende Raymond Poulidor (der ewige Zweite) mit 83 Jahren verstarb. Den Mythos des von den Franzosen leidenschaftlich geliebten Radlerheldentums nahm dabei schon im Jahre 1903 (das Jahr der 1. offiziellen Tour!) der Schriftsteller und Theatermann Alfred Jarry aufs Korn, indem er die Passion Jesu als Velorennen um den Sieg über 14 giftige Kurven bis hinauf auf den Hügel Golgatha darstellte.[5] Eine auch aus aktuellem Anlass durchaus ernst zu nehmende Blasphemie, nicht nur gegenüber der katholischen Kirche, sondern genauso gegenüber der radrennfanatischen und gedankenlosen Masse.

Es muss jetzt also dringlich ums «andere» Velo gehen: Nach diesen Monaten der Streiks und der momentanen Gesundheitskrise erhält das Fahrrad eine noch aktuellere Bedeutung und wird hoffentlich auch in Paris endlich zu dem, was es seit 140 Jahren sein sollte: Das normale, wichtigste und einfachste individuelle Fortbewegungsmittel der urbanen Massengesellschaften im Alltag. Vielleicht wären noch unendlich viel mehr Fahrräder und eine radikale Verkehrs- und Strassenplanung eine kleine Antwort auf die grosse Frage, wie man sich in einer globalisierten Welt am besten fortbewegt. Wenigstens wenn es um kürzere Distanzen in den Metropolen geht. Und solche sind in Zukunft ohnehin eher angesagt.

 

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Song zum Text: Joe Dassin (1972, als die Welt noch fast in Ordnung war!), «La complainte de l’heure de pointe (A vélo dans Paris)»

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Der Berner Michael Kaufmann war als Direktor der Hochschule Luzern-Musik von 2011 bis 2019 in Luzern. Bevor er als Heimwehberner in die wichtigste Hauptstadt der Welt zurückkehrt, hat er sich für einige Monate Paris entschieden. Er lebt momentan im 19. Arrondissement. Ein Umweg, der sich auch in Krisenzeiten lohnt.
Seine «Spaziergänge in Paris» folgen bis Juli 2020.


[1] Die genaue amtliche Bezeichnung der Selbstdeklaration lautet in der französischen Administrationspoesie «Attestation de déplacement dérogatoire». Das Individuum X erklärt sich damit für genau fünf mögliche Gründe als von der Ausgehsperre ausgenommen.

[2] Die App von velib’ liefert alle Infos, es wird jede Fahrt dokumentiert, inkl. Leistung und  CO2-Einsparung. Praktisch vor allem ist der integrierte Stadtplan mit allen Standorten der Stationen und der Menge dort verfügbarer Vehikel (wobei dabei nicht immer alle funktionsfähig sind)

[3] Der schöne Refrain des Chansons lautet zuversichtlich im Sinne der aufgeweckten 1970er: «Dans Paris à vélo on dépasse les autos / A vélo dans Paris on dépasse les taxis»

[4] Das Privatvelo des Autors wurde schon nach 14 Streiktagen aus dem «geschützten» Innenhof gestohlen. Für eine Klage beim Polizeiposten des Quartiers (ein Erlebnis an und für sich!) hätte man 4 h warten müssen. Die Polizei hatte schon damals Wichtigeres zu tun.

[5] Alfred Jarry, «La passion considérée comme course de côte», in: Le Canard Sauvage, April 1903