Hochwasser

von Beat Sterchi 12. Dezember 2024

Hier und heute Zurück in Bern berichtet unser Kolumnist von sprechenden Bäumen und den Sintfluten, die im Herbst in seinem zweiten, spanischen Zuhause gewütet haben.

Beim Spaziergang über die Münsterplattform überkam mich das Bedürfnis, einen Baum zu berühren. Einen der dort fest verwurzelten Kastanienbäume. Vielleicht, weil in diesen Zeiten die eigene Bodenhaftung so leicht verloren gehen kann. Ich war aber nicht allein auf der Plattform und wollte es vermeiden, wie ein Baum-Umarmer auszusehen. Es war mir nicht entgangen, dass sogenannte Baum-Umarmer in den Medien gegenwärtig gerne verhöhnt werden.

Glücklicherweise brach aber in dem aufgewühlten Himmel über dem Gurten gerade die Sonne durch und ich konnte mich an den Stamm lehnen und so tun, als würde ich mit geschlossenen Augen die paar wärmenden Sonnenstrahlen geniessen, während meine Hände hinter meinem Rücken die Rinde des Kastanienbaumes fühlten. Soll keiner sagen, das tue nicht gut. Und nachdem ich in Spanien im Sommer diese fürchterliche Dürre miterlebt habe, war es schön, wieder zu hören, wie die Aare über die Schwellen rauschte. Aber plötzlich vernahm ich hinter mir eine leise, etwas hölzerne Stimme. Sie könne leider nicht lauter sprechen, sagte die Stimme, aber wenn ich mich hier schon so anlehnen würde, müsse sie mir etwas sagen zu der letzten eidgenössischen Volksabstimmung. Ich wisse schon, es sei ja erst ein paar Wochen her.

Ein zugepflastertes Land ist doch gar kein Land mehr.

Seit meiner Rückkunft in Bern sind mir schon etliche verrückte Sachen passiert, aber bisher hat noch kein Baum zu mir gesprochen. Die Stimme sagte auch schon, die Bäume hätten sich sehr darüber gefreut, dass die Autobahnen nicht noch autobahniger gemacht würden. Sie hätten sich aber auch gewundert, warum man sie nicht stärker einbezogen habe. Niemand habe gezählt, wie viele von ihnen bei einem Ausbau hätten umgehauen werden müssen. Es habe auch niemand darauf hingewiesen, wie viel Kulturland wieder geopfert worden wäre. Tut das euch nicht weh, wenn die Matten verschwinden? fragte die Stimme. Wie könnt ihr bloss immer wieder vergessen, dass hier alles klein und begrenzt ist? Ein zugepflastertes Land ist doch gar kein Land mehr. Und überhaupt, sagte die Stimme, das höre natürlich niemand gerne, aber bevor wir nicht beginnen würden, über eine reduzierte Lebensweise zu sprechen, sehe sie schwarz für die Zukunft.

Als ich meine Augen wieder geöffnet hatte, rauschte die Aare noch immer und während ich die Plattform verliess und unter dem jüngsten Gericht hindurch über den Münsterplatz ging, fragte ich mich, ob ich vielleicht, an den Baum  gelehnt, kurz eingeschlafen war und geträumt hatte.

Nur weil nicht mehr über die Flutkatastrophe von Valencia berichtet wird, heisst das überhaupt nicht, dass schon alles überstanden wäre.

Da ich noch Brot kaufen wollte, ging ich durch das Münstergässchen in die Kramgasse, wo sich beim Simsonbrunnen asiatische Touristen gerade gegenseitig aufs Heftigste fotografierten. Sie warfen sich in Pose, indem sie ihre Arme und Beine ausstreckten oder irgendwie verrenkten und dazu ihre Gesichter zu einem Lachen verzogen. Gleich dort begegnete ich in der Laube dann meiner lieben Kollegin Ariane von Grafenried. Diese lachte wirklich und herzlich und strahlte vor Lebensfreude wie immer. Sie hatte sogar Zeit für einen Kaffee. Nur zwanzig Minuten, sagte sie, weil sie so viel zu tun habe. Aber man mag es glauben oder nicht: Wir redeten mindestens eine Stunde lang über Poesie. Einfach so. Was Poesie soll und kann und dass es ohne Poesie nicht geht. Sie bei einem Tee, ich bei einem Kaffee an der Rathausgasse. Erst danach fiel mir ein, dass ich ihr unbedingt auch noch von dem sprechenden Baum auf der Plattform erzählen musste.

Weil ich hier an dieser Stelle zuletzt aus Spanien berichtet habe, muss ich noch auf die Unwetterkatastrophe von Valencia zurückkommen. Nur weil nicht mehr darüber berichtet wird, heisst das überhaupt nicht, dass schon alles überstanden wäre. Bekannt ist, dass bei der Nothilfe bei weitem nicht alles rund lief und dass mehr als zweihundert Menschen ihr Leben, dazu Tausende die Grundlage ihrer Existenz verloren haben. Bekannt ist auch, dass das Wetterphänomen nicht neu ist, dass aber das Mittelmeer immer wärmer wird und deswegen einfach viel mehr verdunstetes Wasser in den Teufelskreis eines Sturms gerät. Mittlerweile haben die Regenmassen, die da vom Himmel fallen, einfach biblische Ausmasse angenommen, denn genau so muss man sich die Sintflut vorstellen.

Auch in unserem Dorf wollte es nicht aufhören zu regnen und dort, wo während des Sommers kein Tropfen Wasser floss, rauschte plötzlich eine wilder Bergbach daher. Und es ist bei weitem nicht so, dass sich die politischen Parteien nun zusammenrafften und vielleicht sogar einmal einem Baum zuhören würden. Im Gegenteil. Sie schieben einander gegenseitig die Schuld zu und schlagen sich die Köpfe ein. Und apropos Autobahnausbau: Zwei Tage nach der Katastrophe waren alle Autobahnen rund um Valencia wieder durch Überbelastung lahmgelegt.