Um 1955 hat meine Mutter, von einem an der Wohnungstür klingelnden Verlagsvertreter heimgesucht, ein dreibändiges Werk von über 1500 Seiten gekauft: grüne Leine mit Goldprägung und mit dem klassischen Titel «Europa Æterna» – ewiges Europa. Sie hat darin wohl kaum längere Zeit gelesen. Der Dreibänder stand aber standhaft und grossformatig neben vielen kleinen Büchlein (Reclams und Insel) und natürlich einer Schweizergeschichte (Büchergilde) im einzigen Bücherregal. Warum hat sie, die eher knapp bei Kasse war, ihn erworben? Und warum hat der Verlag – offenbar zu Recht – darauf gesetzt, mit einem solchen Produkt nicht nur bei meiner Mutter einen kommerziellen Erfolg zu landen?
Das war eben in den 1950er Jahren. Das heisst, kurz nach dem Krieg, als Europa überhaupt nicht «æterna», sondern ziemlich kaputt war – dies auch noch Jahre nach 1945. Da war Europa das westeuropäische Abendland, das vor einer roten Zukunft bewahrt werden sollte. Doch das ist lange her. Inzwischen hat sich – im «ewigen» Europa – vieles verändert.
Europa hat vorwärts gemacht, viele Absichten verwirklicht, viele Versprechen eingehalten. Inzwischen gibt es ein Europäisches Parlament, das diesen Namen verdient. Inzwischen gibt es den burgunderroten Europäischen Pass, eine gemeinsame Unionsbürgerschaft, wenn auch nicht Staatsbürgerschaft. Inzwischen gibt es den 2007 in Lissabon unterzeichneten Europäischen Vertrag. Und vieles mehr.
Gibt es inzwischen auch zu viel Europa? Das sei nicht ausgeschlossen. Einzelne Übertreibungen sind sattsam bekannt. Vor allem die längst wieder aufgehobene Vorschrift zur Gurkenkrümmung. Alles in allem funktioniert die EU zur vollen Zufriedenheit, aber weitgehend unbeachtet und als selbstverständlich hingenommen. Gewiss gibt es auch ein paar grössere und durchaus ernsthafte Probleme, insbesondere die Verschuldungsvorschrift und die fehlende Solidarität in der Flüchtlingspolitik. Diese sind fast willkommene Angriffspunkte zur Artikulation einer diffusen und doch markanten Ungehaltenheit.
Inzwischen haben sich nämlich die vorherrschenden Haltungen Europa gegenüber stark verändert. Regale mit «Europa Aeterna» dürfte es kaum mehr geben. Das liegt nicht an der EU, es wird kein Brockhaus-Lexikon mehr aufgestellt, und an Stelle von «Europa Aeterna» stehen jetzt eher Reise- und Kochbücher und Lifestyle-Magazine auf den Regalen. Vor allem geht man jetzt ins WWW-Netz, findet dort aber nur, was man sucht. Europa wird da nicht gesucht, und es gibt keine Hausierer, die mit einer Akquisitionsmappe für Europa unter dem Arm an unseren Türen stehen.
Nach der ersten Aufbruchsstimmung der Bürger und Bürgerinnen gleich nach dem Krieg ist die Europäische Gemeinschaft als Regierungsprojekt ohne Basisbezug kontinuierlich auf- und ausgebaut worden. Das war der Basis mehr oder weniger recht, jedenfalls hatte sie nichts dagegen. Ins Gewicht fallende Opposition gegen die EU gibt es erst in jüngster Zeit. Zur Opposition grundsätzlicher Art gesellte sich Opposition gegen konkrete Handhabung. Dabei überwiegt das Grundsätzliche das Konkrete; und dabei hat ein negativer Diskurs den vormals positiven überlagert.
Diskurs? Zur Rechtfertigung der EU wird gerne darauf hingewiesen, dass sie die nationalen Kriege in Europa überwunden habe und ein ausserordentlich erfolgreiches Friedensprojekt sei. Das hat man auch 2012 wiederholt, als die angeschlagene EU mit dem Friedensnobelpreis ausgestattet wurde.
Mit dieser Erzählung, die übrigens auch ihre Fragwürdigkeit hat, erreicht man heutzutage die Menschen in Europa kaum noch. Und weil man meint, dass es wegleitende Stories sind, mit denen man die Menschen besser erreichen könne, ertönt der Ruf nach einer neuen Erzählung. Ein anderes Narrativ muss her.
Zur EU gäbe es zwar viel Gutes zu erzählen: über den Einsatz für Rechtsgleichheit, über den Kampf gegen Kartelle, über Konsumentenschutz, Transportkontrollen, Prävention gegen Epidemien, Disziplinierung der Banken, Schliessung von Steuerschlupflöchern etc. etc. etc. Auch das Problem der immer häufiger abgeschlossenen bi-nationalen Ehen – und wiederum ihrer Scheidungen.
Das ist nicht mehr Abendland. Das meiste ist nicht im erwünschten Mass heroisch. Vieles funktioniert still, ohne angemessene Anerkennung. Alles in allem ist die jetzige EU im Vergleich zur früheren EG, als ihre Völker «Europa Aeterna» auf ihre Regale stellten, überhaupt nicht schlechter geworden. Ganz im Gegenteil.
Die aufgezählten Leistungen gehörten traditionellerweise in die Pflichtenhefte der Nationalstaaten. Heute aber können viele vormals nationale Aufgaben nur auf der supranationalen Ebene geregelt und überwacht werden. Dies wird – bei einiger Reflexion – theoretisch auch anerkannt. Wie aber steht es um das erhabene Gefühl, eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden? Da gibt es keinen entsprechenden Transfer «nach oben». Muss das Wir-Gefühl auf die nationalen Nester beschränkt bleiben und gar gegen Europa eingesetzt, muss Europa vor allem als Deponie für Ängste und blossen Missmut benutzt werden?
Das «ewige» Europa ist in hohem Mass vom Wechselwetter abhängig, es ist paradoxerweise ein Schönwetterprogramm, obwohl Europa gerade bei schlechtem Wetter besonders benötigt würde. Es offenbart sich jetzt, zum Beispiel gestützt auf das halbe Brexit-Votum, die schnelle Bereitschaft, gegen die EU ausfällig zu werden, als ob man sehnlichst darauf gewartet hätte, das Vergemeinschaftungsprojekt schlechtreden zu können.
Eine besondere Variante, gegen Europa zu sein, besteht darin, sich auf Europa zu berufen. Zum einen wird gerne darauf hingewiesen, dass der Verbund von 27 oder noch 28 Staaten ja nicht das ganze Europa sei, weil da ein paar wenige – etwa Island und die Schweiz – noch nicht dabei sind. Oder es wird gesagt, dass ein teilweise zusammengeführtes Europa mit dem eigentlichen und «ewigen» Vielstaaten-Europa unvereinbar sei. Hier müssten wir bei der in der Schweiz eigentlich bekannten Einsicht ankommen, dass die Existenz eines Bundes mit dem Weiterbestehen von kantonalen Bundesgliedern (Kantonen) nicht unvereinbar sei.
Gutmeinende, aber in unverbindlicher Weise besserwisserische Kommentare erklären, dass man Europa nun neu erfinden müsse. Dies lässt sich umso leichter empfehlen, als man das bestehende Europa kaum kennt. Ob «ewig», ob neu oder alt, ob reformbedürftig – ein gemeinsames Europa kann nicht besser sein, als es seine nationalstaatlichen Mitglieder und ihre Bürger und Bürgerinnen sind. Das jedenfalls ist gleich geblieben.
Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Bereits erschienen sind «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber, «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich und «als ich in europa war» von Katja Brunner. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch