Dieser Käse ist nicht Käse

von Gerhard Meister 30. Oktober 2013

Es gibt bestimmte sprachliche Nuancen, um die man sich ein halbes Leben nie kümmern musste. Der Abstand zwischen Verkaufsdatum und Verfallsdatum gehörte für mich bis vor kurzem dazu.

Natürlich hatte ich meine Vorstellungen. Bis zum Verkaufsdatum darf ein Laden seine Produkte verkaufen, bis zum Verfallsdatum habe ich die Sicherheit, qualitativ einwandfreie Nahrung in meinem Kühlschrank zu haben. Zwischen Verkaufs- und Verfallsdatum liegt eine Zeitspanne, in der ich noch konsumieren, der Laden aber nicht mehr verkaufen darf beziehungsweise nur noch heruntergeschrieben, damit die Ware doch noch wegkommt.

Genauso interpretierte ich den roten Fünfzigprozentkleber auf dem höhlengereiften Emmentaler Käse Marke Kaltbach, den ich vor kurzem im Coop vom Regal in meinen Einkaufskorb beförderte. Mit einer gewissen Vorfreude übrigens auf seinen Konsum. Von da her bescherte es mir keine good feelings, als die Kassierin meinen Käse vom Laufband nahm, um ihn wegzuschmeissen.

Das Verkaufsdatum ist seit gestern abgelaufen, sagte sie.

Aber das Verfallsdatum ist doch erst in einer Woche, bis dahin kann man ihn doch noch konsumieren.

Und wieder sie: Und sogar noch länger, der Käse ist mindestens eine Woche übers Verfallsdatum noch einwandfrei. Aber ich darf Ihnen den Käse nicht verkaufen.

Wie wäre es, wenn Sie mir den Käse schenkten?

Das darf ich erst recht nicht.

Ein anderer Vorschlag. Sie werfen den Käse jetzt dort in den Abfallkorb und schauen einfach weg, wenn ich ihn dort wieder heraushole.

Die Verkäuferin lächelt unerbittlich, das Objekt meiner Begierde, dieses seltsam zwischen Abfall und Delikatesse oszillierende Stück höhlengereiften Emmentaler Käses bleibt bei ihr auf der Kasse liegen.

Und ich bin einsichtig genug, sie nicht dafür zu beschimpfen. Sie befolgt Regeln, die sie befolgen muss, wenn sie ihren Job behalten will. Und die Idee, dem Coop einen Brief zu schreiben mit der Bitte, mir verständlich zu machen, weshalb dieses Stück Käse bei mir zuhause im Kühlschrank noch mindestens zwei Wochen ein hervorragendes Stück Käse bleibt, während es im Regal vom Laden schon lange zu Abfall geworden ist, diese Idee bleibt Idee, der keine Tat folgt.

Ja, so müde bin ich an diesem Morgen und so eingeübt ins vernünftige Schweizersein, dass zuhause nur noch knapp die Energie reicht, um nachzugoogeln, was es mit der Sache auf sich hat und zu erfahren, dass jedes Jahr in der Schweiz Nahrungsmittel im Wert von einer Milliarde Franken das gleiche Schicksal erleiden wie mein höhlengereifter Käse und deshalb – im Fall von Fleisch- und Wurstwaren – verbrannt werden oder sonst vielleicht noch in den Viehtrog gelangen.

Ich akzeptiere die Kluft zwischen Verkaufsdatum und Verfallsdatum wie ein guter Katholik die Wandlung von Brot in den Leib seines Herrn nach Erklingen des Messglöckleins. Der Supermarkt wird zur Kirche, die mir den Glauben an ein Wunder abverlangt: Brot sieht aus wie Brot und Käse wie Käse, aber in Wahrheit ist das Brot Gott und der Käse Abfall. Dass kein irdischer Nahrungsmittelchemiker den Unterschied feststellen könnte, spielt keine Rolle.