Die Mordluft von Neu Delhi

von Gerhard Meister 5. Februar 2014

Am Montagmorgen war ich früh auf den Beinen, ich war Teil des Menschenstroms, der sich seinem Arbeitsplatz entgegen bewegt. Unterwegs Richtung Bus sah ich einen Mann, auch er unterwegs zu seiner Arbeit, wie ich annehme.

In der linken Hand hielt er eine Zigarette, in der rechten einen Kaffeebecher. Das war auffällig, aber nur ein bisschen. Der Mann tat eben, was man am Morgen tut, er brachte sich mit einer Zigarette und einem Becher Kaffee in Schwung. Und hatte dafür zuhause keine Zeit mehr.

Könnte man sich unterwegs duschen, so hätte er dies vielleicht auch noch gemacht. Und das wäre ebenfalls nicht weiter auffällig gewesen. Es passt ja zusammen: Dusche, Zigarette, Kaffee. Der Mann will seinen Kopf startklar machen für den Arbeitstag. Soweit so klar.

Seltsamer deshalb, dass er diese weissen Stöpsel von seinem Handy beziehungsweise I-Pod in den Ohren stecken hatte. Er hörte also auch noch Musik. Was nun allgemein als eine entspannende Tätigkeit gilt oder zumindest als etwas, mit dem man sich vor der den Aufdringlichkeiten des Alltags schützt und aus ihnen flüchtet.

Insofern verkörperte der Mann einen Widerspruch.

Einerseits war er seinen Kopf am Aufstarten für den Arbeitstag, andererseits  fuhr er diesen Kopf mit der Musik im Ohr wieder herunter.

Die Annahme, dass er über seine weissen Ohrstöpsel so früh schon irgendeinen Business-Englisch-Kurs in sein Gehirn träufelte, lasse ich beiseite, denn Widersprüche sind menschlich.

Später an diesem Morgen sass ich im Zug und las in der Zeitung, dass in Delhi die Luft noch viel schlechter ist als in Peking, wo sie auch schon sehr schlecht ist. Die Inder haben deswegen die schwächsten Lungen der Welt. Man hielt das schon für genetisch, bis man, vor wenigen Jahren erst, herausgefunden hatte, dass Inder, die ausserhalb Indiens aufgewachsen sind, normal entwickelte Lungen haben.

Nun muss ich aber aufpassen, dass meine Kolumne nicht unschön in zwei Teile zerfällt, die miteinander nichts zu tun haben.

Was hat die Mordluft in Delhi mit einem Montagmorgen in der Schweiz zu tun? Weshalb habe ich diesen Zeitungsartikel überhaupt gelesen? War das Einstimmung auf den Arbeitstag und das Wirklichkeitsprinzip oder das Gegenteil davon?

Vor kurzem traf ich einen Mann, der sagte, er lese Zeitung, um den Kopf abzuschalten. Ich weiss genau, was er meint.

Zum Schluss noch zwei Tatsachen. Erstens: In der Schweiz ist die Luft sauber. Zweitens: Dass laut Bundesamt für Gesundheit jedes Jahr 3500 Menschen am Feinstaub in dieser Luft sterben, ändert an dieser Tatsache überhaupt nichts.