Die mit der weiten Sicht

von Ulrike Ulrich 30. Juli 2016

Ich bin Europäerin. Würde ich tot in den USA an Land gespült, würde man mich dort als Caucasian Female. Late Forties einordnen. Aufgrund der Titanschraube in meinem Knie würde ich schliesslich identifiziert. Deutsche. Schweizerin durch Einbürgerung.

Where do you come from? Europe! Continent or concept?

Ich bin Europäerin. Vor ein paar Tagen stand ich in Oxford vor Sapphos Gedichtfragmenten, der Magna Carta, der Handschrift von Kafkas Verwandlung, der Chanson de Rolande, vor Dorothy Hodgkins Arbeit über das Penizillin. Die Schätze der Bodleian Library. Alles aus Europa.

Europa. Das bedeutet: Die mit der weiten Sicht. European Union: ein Euphemismus.

Ich bin Europäerin. Vor zwei Wochen stand ich im Londoner Dockland-Museum vor dem Tisch von Thomas Fowell Buxton, der vor knapp 200 Jahren im House of Commons die Abschaffung der Sklaverei gefordert hat. Kolonialismus. Sklaverei. Ausbeutung, Massenmord. Alles aus Europa.

There is no such thing as Splendid Isolation. Es gibt sie nicht, die Insel der Seligen.

Ich bin Europäerin. Und EU-Bürgerin. Ich habe am Tag des Referendum in London einen «I’m in»-Button getragen. Und auch noch am Tag danach. Ich bin drin. «Me too!», haben die Leute in der Tube zu mir gesagt, «Me too!» Oder «I wish you still were.» Sie haben mich für eine Britin gehalten.

Das einzige Land, in dem der Europatag ein gesetzlicher Feiertag ist, ist der Kosovo.

Ich bin Europäerin. Wer wäre ich ohne Nationalität (ich meine nicht ohne Papiere, Sans-Papiers)? Ohne Nationalität zu sein, stelle ich mir entlastend vor. Nicht bloss, weil ich als Deutsche geboren worden bin.

In Oxford ist auch das Typoskript der proeuropäischen Rede von Sir Geoffrey Howe ausgestellt. Es heisst, diese Rede habe 1990 Maggie Thatcher zu Fall gebracht.

Ich bin Europäerin. Und EU-Bürgerin. Sowohl in England nach dem Brexit als auch in der Schweiz nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative haben sich Menschen bei mir entschuldigt, für die andere, die grössere, die erfolgreiche Hälfte.

11% der LondonerInnen haben sich Anfang Juli in einer Umfrage des Guardian für ein unabhängiges London in der EU ausgesprochen. 60% der befragten SchweizerInnen stimmten im Frühling 2016 der Aussage zu, dass die EU für Frieden sorge.

Ich bin Europäerin. In den 90ern war ich Leiterin bei Internationalen Jugendbegegnungen. Mit Jugendlichen aus Estland, Israel, Palästina, Malta, Polen, Deutschland, Italien usw. Ich habe immer geglaubt, dass es hilft, sich kennen zu lernen. Dass nichts so sehr das Interesse an einem anderen Land weckt, nichts so sehr die Offenheit fördert, wie persönliche Kontakte. Die meisten haben sich natürlich verliebt.

Die Schlange beim Einreiseschalter für EU und Schweiz am Flughafen ist oft länger als die für alle anderen. Der Club ist nicht mehr so exklusiv wie auch schon. Aber es gibt noch genug Länder, die sich seit Jahren um einen Beitritt bemühen. Die nicht freiwillig draussen sind.

Ich bin Europäerin. Generation Nato-Doppelbeschluss. Generation Ostermärsche. Als ein US-Reiseunternehmen mit dem Slogan Besuchen Sie Europa, solange es noch steht geworben hat. Als wir dachten, die Gefahr würde von aussen kommen. Dabei hätten wir (in Deutschland) es doch besser wissen müssen.

2015 starben allein auf dem Mittelmeer über 3 600 Menschen bei dem Versuch, in die EU zu gelangen.

Ich bin Europäerin. Ich glaube an die Europäische Menschenrechtskonvention. Daran, dass es gut ist, wenn die Nation nicht das Non plus Ultra ist. Ich glaube, dass Europa sich nach 1945 auf wichtige gemeinsame Werte verständigt hat. Ich glaube nicht, dass Abschottung dazugehört. Kapitalismus auch nicht.

Zwischen 1959 und 2015 wurde die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof 97mal wegen eines Verstosses gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt. Italien 1781mal, Frankreich 708mal, Österreich 250mal, Deutschland 182mal, um nur die Nachbarn zu nennen.

Ich bin Mensch. Aus der Generation Click-for-Change. Und auch wenn das bloss ein Engagement mit beschränkter Risikobereitschaft ist, begeistert es mich, wenn ich sehe, dass ich eine Online-Petition unmittelbar nach einer Mongolin, einem Finnen, vor einem Nigerianer und einer Peruanerin unterschrieben habe. Und nicht nur beim Einsatz für Wale und Elefanten, sondern auch für Indigenenrechte, gleichgeschlechtliche Ehe, Abschaffung der Todesstrafe.

Die mitochondriale Eva, gemeinsame Vorfahrin aller heute lebenden Menschen, hat mit grosser Wahrscheinlichkeit in Afrika gelebt.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B wird einige der Texte in den nächsten Tagen veröffentlichen. Bereits erschienen sind «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter und «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber. Ab dem 1. August können sämtliche Texte nachgelesen werden auf der Website www.marignano.ch