Das Film Ding 006: Der «Running Man» in der Wäschetrommel

von Rita Jost 9. Februar 2023

Sie standen einst in jeder Waschküche: Die kupfernen Wäscheschleudern, im Volksmund «Uswindi» genannt. Im Lichtspiel erinnert eine solche Trommel an die Zeit, als die Bilder laufen lernten.

Mit seinen weissen Haaren und dem buschigen Schnurrbart sieht er ein bisschen aus wie der zerstreute Wissenschaftler im Film «Back to the Future». Aber der 75-jährige Vladimir Malogajski ist alles andere als zerstreut, er ist hellwach. Und in die Zukunft blickt er auch nicht. Eher in die Vergangenheit. Aber Wissenschaftler ist er. Physiker, Chemiker, Philosoph und Tüftler.

1980 als Student von Belgrad nach Bern gekommen, studierte er an der hiesigen Universität und arbeitete dort bis zu seiner Pensionierung als Kristallograph. Er konstruierte Maschinen und Apparate zur Messung der Zusammensetzung von Kristallen. Seit der Pensionierung ist der drahtige Rentner mehrmals wöchentlich ehrenamtlich in der Werkstatt des Lichtspiels im Marzili anzutreffen. Er erfindet und konstruiert Maschinen, die den Besucher*innen die Welt des Films erfahr- und erlebbar machen.

Ich treffe Malogajski in der Werkstatt im alten Backsteinhaus an der Sandrainstrasse 3. Auf den Regalen um ihn herum eine Unmenge Kameras, Projektoren, Aufnahme- und Abspielgeräte und Filmrollen. An den Wänden Filmplakate und Leuchtschriften. Und mitten drin eine Wäschetrommel, wie sie einst in jeder Schweizer Waschküche stand. Vladimir Malogajski hat daraus ein Praxinoskop konstruiert.

Das Praxinoskop

Für ihn sei das eine ganz spezielle Maschine, sagt Valdimir Malogajski und versetzt der Auswinde einen Schubs. Das Schauspiel beginnt: Im Innern der Trommel erkennt man auf zwölf Spiegeln einen trabenden Läufer. Man kann um die Trommel herumgehen, aus jedem Winkel sieht man den Athleten. Er rennt, setzt einen Fuss vor den anderen, bewegt die Arme. Und für unser Auge wirkt diese Bewegung aus jeder Perspektive völlig natürlich und flüssig. Solange die Trommel sich dreht.

Das Praxinoskop wurde erfunden, als noch niemand das Wort Film kannte. Und doch, sagt Vladimir Malogajski, ist die Bildwiedergabe noch heute für das menschliche Auge perfekt, natürlicher kann sie der beste moderne Projektor nicht liefern. Aus einem einfachen Grund: Wir können uns um die Trommel herumbewegen und blicken aus allen möglichen Perspektiven auf den trabenden Mann. Und immer nehmen wir seine Bewegungen genauso wahr, als ob der Mann tatsächlich in der Trommel rennen würde. Die 12 Bilder, die auf die Spiegel projiziert werden, fliessen nahtlos ineinander über und wir nehmen es als einen perfekten Bewegungsablauf wahr.

«Die Filmpioniere dachten immer, man müsse mehr Bilder pro Sekunde liefern, damit das Auge überlistet werde», sagt Malogajski, «Ich bin überzeugt, es müssen nicht mehr Bilder sein. Man muss die Wahrnehmung nicht überlisten, man muss die Natur nachahmen.» Und unsere natürliche Aufnahmekapazität kann höchstens ein Bild alle zwanzig Millisekunden verarbeiten.

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Der «Running Man»

Erfunden wurde das Praxinoskop 1877 vom Franzosen Emile Reynaud. Der flache rotierende, oben offene Zylinder hatte etwa die Grösse einer Schallplatte. Auf der Innenseite der Aussenwand war ein Bildstreifen angebracht mit acht oder zwölf Bildern: Zeichnungen, später auch Fotos. Diese wurden in der Mitte des Zylinders auf die gleiche Anzahl Spiegel projiziert. Wenn sich die Trommel drehte, entstand aus der Bilderfolge eine fliessende Bewegung.

Damit verblüffte Reynaud sein staunendes Publikum. Ab 1892 zeigte er kurze Zeichentrickfilme, welche er Lichtpantomimen nannte. Die Vorstellungen wurden in Paris von Tausenden Menschen besucht. Mit Bildbändern konnte eine Projektionsdauer von 15 Minuten erreicht werden. Erst mit dem Aufkommen des Kinematografen der Gebrüder Lumière Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Ende des Praxinoskop eingeläutet.

Drei Bewegungsstudien des Chronofotografen Muybridge. (Foto: Rita Jost)

Der «running man» jedoch, die erste bewegte Bildfolge, die das Publikum zu sehen bekam, wurde ikonografisch. (Zu sehen ist er etwa im Vorspann eines jeden durch die Filmcoopi Zürich verliehenen Films). Die Fotos des rennenden Athleten hatte der Fotopionier Eadweard Muybridge gemacht. Der 1830 geborene Engländer, der sich in den USA einen Namen als Chronofotograf geschaffen hatte, schoss von verschiedenen Bewegungsabläufen mehrere Fotos innerhalb einer Sekunde.

So entstanden unter anderem Bewegungsstudien von Tänzerinnen, kriechenden Kleinkindern, Hoch- und Weitspringern und 1878 die legendär gewordene Serienaufnahme eines galoppierenden Pferds. Damit erbrachte er übrigens auch den Beweis, dass ein Pferd im Galopp kurzzeitig alle vier Hufe in der Luft hat.

Das Praxinoskop in der Wäschetrommel

Zurück in die Werkstatt des Lichtspiels zu Vladimir Malogajski. Er baute vor einigen Jahren ein Praxinoskop originalgetreu in eine Wäscheschleuder ein. Die ehemalige «Uswindi» fand er irgendwo im Bernbiet in einem Garten – zweckentfremdet als Blumentopf für Geranien. Als filmbegeisterter Tüftler erkannte Malogajski sofort die Möglichkeit, in diese Wäscheschleuder ein Praxinoskop einzubauen. Die Trommel war robust, gut erhalten, drehte ruhig und hatte den idealen Durchmesser. Konstruktionsangaben für Reynauds Apparat waren vorhanden.

Also bildete Malogajski die Erfindung aus dem 19. Jahrhundert nach und setzte Kopien der Fotos von Muybridges «running man» ein. Bei seiner Arbeit machte er übrigens eine für ihn überraschende Entdeckung: die Wasserturbine, mit deren Hilfe die «Uswindi» ursprünglich funktionierte, wurde genau im gleichen Jahr zum Patent angemeldet wie das Praxinoskop.

Das Praxinoskop wurde 1830 erfunden. Hier das Modell im Lichtspiel. (Foto: Lichtspiel)

Vladimir Malogajski gibt der Trommel wieder einen Schubs und erzählt, während der Athlet seine Runden dreht, nochmals vom erstaunlichen Phänomen der limitierten Aufnahmefähigkeit des Menschen. Die zwanzig Millisekunden sind auch für andere Sinne wie das Gehör und den Tastsinn offenbar seit Urzeiten eine Limite. Mehr Eindrücke in kürzerer Zeit können wir nicht verarbeiten.

Es scheint, dass dies natürlicherweise die Einheit ist, die uns ermöglicht, mit der Umwelt überhaupt zurechtkommen und uns zu orientieren. Auch modernste Technik kann deshalb das Praxinoskop in der Wiedergabe nicht überbieten. Sofern die Trommel in der richtigen Geschwindigkeit dreht.