Das Film-Ding 005: Die Fresnel-Linse (eine weihnächtliche Kulturgeschichte)

von Dieter Fahrer 23. Dezember 2022

Eine licht- und bahnbrechende Erfindung: Lebensretter für Seeleute in Not, Zauberstab für die Kinematographie und Wegbereiter für eine nachhaltige Zukunft.

Demonstration auf dem Triumphbogen

200 Jahre ist es her, als in Paris, bis weit über die Stadt hinaus sichtbar, Wunderliches geschah: Wir schreiben das Jahr 1822, den 28. August, ein Mittwoch wie viele andere. Doch am Abend versammeln sich Menschenmassen auf der Avenue des Champs-Élysées und schauen mit Neugier zum Triumphbogen hoch, auf dessen Dachterrasse eine Scheinwerferanlage aufgebaut wurde, die mit dem Einbruch der Nacht ihre schier unglaubliche Reichweite unter Beweis stellen soll.

Frankreichs König Louis XVIII und seine Entourage haben sich weit weg vom Stadtzentrum postiert: Aus 32 Kilometern Distanz sehen sie staunend ein Licht über dem damals noch dunklen Pariser Nachthimmel. Die Begeisterung ist riesig, auch bei der Akademie der Wissenschaften, deren Mitglieder der Demonstration ebenfalls beiwohnen.

Ein Weltwunder

Es ist die Geburtsstunde der Fresnel-Linse (Stufenlinse). Ihr Erfinder, der französische Physiker Augustin Jean Fresnel, hatte von der nationalen Leuchtturmkommission den Auftrag erhalten, nach Möglichkeiten zu suchen, um die Reichweite des Lichts von Leuchttürmen zu verbessern.

Fresnels Scheinwerferanlage wird über den Winter in Bordeaux gelagert und im Frühling 1823 auf dem Leuchtturm von Cordouan im Golf von Biskaya installiert. Weil Bordeaux nicht direkt am Meer liegt, ist diese Stelle für den Zugang in ruhige Gewässer für Seeleute oft nur schwer zu finden.

Das helle Bogenlicht rettete nicht nur Seefahrer in Not, es revolutionierte auch die Kinotechnik.

Am 25. Juli 1823, ein Jahr nach der eindrücklichen Demonstration auf dem Arc de Triomphe, wird die Fresnel-Maschinerie in Anwesenheit ihres Erfinders in Betrieb genommen. Das Leuchtfeuer von Cordouan ist jetzt aus dreimal grösserer Distanz zu erkennen.

Für Augustin Jean Fresnel muss dies ein grosser Moment gewesen sein, und gleichzeitig ein ganz übler, denn am gleichen Tag zeigt sein chronischer Husten blutigen Auswurf. Fresnel hat Typhus, eine Krankheit, die bei ihm nie mehr richtig heilen wird. Er stirbt vier Jahre später, im Alter von nur 39 Jahren.

Leuchttürme für die Seefahrt

Fresnels Innovation wird schnell bekannt und die Spezialisten der grossen Seefahrernationen reisen nach Frankreich, um das Leuchtwunder im Original zu sehen. In den folgenden Jahrzehnten wird die Leuchtturmtechnik weiterentwickelt, insbesondere, was die Leuchtmittel anbelangt. Fresnels Anlage in Cordouan war weithin sichtbar, aber die Lichtstärke noch nicht sehr gross, denn als Leuchtmittel wurde Rapsöl verwendet, das an drei dicken, zentral positionierten, Dochten brannte. Es entstehen nun Anlagen mit Gaslicht, später mit verschiedenen elektrischen Lichtquellen, wobei die Erfindung des Bogenlichts einen erneuten Quantensprung an Leuchtkraft bedeuten sollte.

(Das helle Bogenlicht rettete nicht nur Seefahrer in Not, es revolutionierte auch die Kinotechnik und kam bei Filmprojektoren zum Einsatz – nachzulesen in «Das Film-Ding 002: Der hitzige Filmprojektor».)

Die Fresnel-Linse

Die Brechung von Licht beim Übergang von einem Medium in ein anderes, wie z.B. von Luft in Glas, wurde schon im alten Ägypten und in Mesopotamien beobachtet.

200 Jahre vor der Erfindung der Fresnel-Linse wurde diese Lichtbrechung vom niederländischen Philosophen und Naturforscher Willebrord Snel mathematisch präzise berechnet (Snelliussches Brechungsgesetz). Gleichzeitig entstanden die ersten Fernrohre.

Doch die Herstellung von grossen optischen Gläsern war aufwendig und teuer. Dazu kam das enorme Gewicht der massiven Glaskörper, das der Herstellung von grossen Linsen enge Grenzen setzte.

Weil die Lichtbrechung nicht im Innern der Linse geschieht, sondern an ihren Oberflächen, kam Augustin Jean Fresnel auf die Idee der Massenreduktion durch die Aufteilung der Linse in abgestufte Kreissegmente, die die konvexe Krümmung präzise übernahmen. Die ‘unnötige’ Glasmasse wurde so auf ein Minimum reduziert.

Links: Klassische konvexe Sammellinse. Mitte: Schematische Darstellung der Massereduktion. Rechts: Die Fresnel-Linse mit minimierter Glasmasse. (Foto: parabolixlight.com)
Bündelung eines Lichtstrahls beim Durchgang durch die verschiedenen, kreisförmig angeordneten Segmente einer Stufenlinse. (GIF: Artworks Florida Classic Fresnel Lenses, )

Leuchttürme für den Film

Anfang der 1930er-Jahre entwickeln findige Lichtingenieure bei Mole-Richardson Co. in Los Angeles die Fresnel-Scheinwerfer für die Filmproduktion. Ihre Arbeit wird 1935 mit einem Oscar für technische Innovation ausgezeichnet.

Die Anwendung der Fresnel-Technik revolutioniert die filmische Bildgestaltung wie kaum eine andere zuvor und danach. Stufenlinsenscheinwerfer ermöglichen eine präzise Lichtführung auch auf grosse Distanz. Ihr Licht ist hart, präzise und hat doch auch einen schmeichelnden Touch, denn das Glas ist mattiert, um eine Abbildung der konzentrischen Kreise zu verhindern.

Seit ihrer Erfindung gehören Stufenlinsenscheinwerfer zu den unverzichtbaren Arbeitsinstrumenten aller Kameraleute, oder präziser, aller «Directeurs de la photographie/Directors of Photography», wie im grossen Kino die Meister der Lichtführung genannt werden, weil sie nicht für das Schwenken der Kamera zuständig sind, sondern für die Lichtinszenierung.

Gerätepark auf einem Filmset in den 1930er-Jahren.
Die verschieden grossen Stufenlinsen-Scheinwerfer haben unter Filmbeleuchter:innen noch immer die gleichen Spitznamen wie damals: Inky (300W), Baby (1 kW), Junior (2 kW), Senior (5 kW). In jüngerer Zeit dazugekommen sind noch der Tener (10 kW), das Big Eye (12 kW) und der Solarspot (20 kW). (Foto: essentialhome.eu)

Meister des Lichts

Einer der grossen Meister des filmischen Lichts war der Franzose Henri Alekan (1909-2001). In jungen Jahren hatte er noch mit den Erfindern des Kinos, den Brüdern Lumières, zusammengearbeitet. Doch schon bald wurde er selbst zu einem gefragten Directeur de la photographie. Sein Kernanliegen war das Rhythmisieren von Licht im Raum und die Erschaffung von präzise ausgestalteten Lichtstimmungen, die das Wesen des jeweiligen filmischen Werks zum Ausdruck brachten. Die Fresnel-Scheinwerfer gehörten zu seinen wichtigsten Werkzeugen, und er handhabte sie wie Zauberstäbe.

Meilensteine in der Geschichte des filmischen Lichts sind seine Lichtinszenierungen in «La Belle et la Bête» (1946) von Jean Cocteau und die mystische Lichtgestaltung in seiner letzten grossen Arbeit für «Der Himmel über Berlin» (1987) von Wim Wenders.

1991 hat Alekan seine Lichtphilosophie im dicken Bildband «Des lumières et des ombres» veröffentlicht, und er gewährt Einblick, wie er sich von den grossen Meistern der Malerei inspirieren liess und wie seine Beleuchtungsskizzen aussahen, die seinem Chefbeleuchter als Grundlage für die oft komplexe Umsetzung dienten. Die gebundene Edition dieses reichen Buchs ist leider vergriffen, kann jedoch in der Bibliothek der Kinemathek Lichtspiel eingesehen werden.

Hinter grossen Filmen verstecken sich oft grosse Freundschaften. Henri Alekan hat ab 1945 stets mit dem gleichen Chefbeleuchter gearbeitet: Louis Cochet (1907-2001). Die beiden Lichtgestalten verstanden sich blind. Ihre Zusammenarbeit war ernsthaft und spielerisch zugleich, jedoch immer der Poesie des filmischen Werks verpflichtet. Zwei Studenten der Hochschule für Film und Fernsehen in München HFF, Patrick Hörl und Ulrich Weis, konnten während den Dreharbeiten zu «Der Himmel über Berlin» mit Alekan und Cochet sprechen. Ihr Filmportrait gibt Einblick in die Arbeitsweise und das Denken der langjährigen Licht-Freunde:

Fresnel im «Alten Schweizer Film»

Auch die Kameraleute in der Schweiz arbeiten mit Stufenlinsenscheinwerfern, wenn sie präzises und stimmungsvolles Licht erschaffen wollen, seit jeher, so auch der Berner Kameramann Fritz E. Maeder (1936-2018), dessen Kameraarbeit für den Spielfilm «Dällebach Kari» exemplarisch die Bildsprache des sogenannten «Alten Schweizer Films» verkörpert.

Maeder setzte seine Fresnel-Lichtführung auch bei Dokumentarfilmen ein, so zum Beispiel bei seiner Zusammenarbeit mit dem Berner Fotografen und Dokumentarfilmer Kurt Blum.

Deutlich weniger kraftvoll ist Maeders Bildsprache bei Filmklassikern wie «Die Schweizermacher» oder «Kassettenliebe», beides Farbfilme, deren seichte Bildästhetik erkennen lässt, dass den Kameraleuten der alten Schule der Umgang mit Farbe als filmisches Gestaltungsmittel noch wenig vertraut war.

665 x Sonne

Der Nutzen von Fresnels Erfindung beschränkt sich heute längst nicht nur auf die Seefahrt und die Kinematographie. Die Anwendungsgebiete sind vielfältig. Insbesondere im Bereich der Photovoltaik spielen Fresnel-Linsen eine zukunftsweisende Rolle.

Seit 2020 wird am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg i.B. an hocheffizienten Solarzellen geforscht. Das Projekt heisst «50 Prozent», weil man sich erhofft, dass die neuesten Solarzellen des Typs «Konzentrator», die mit Fresnel-Technik arbeiten, einen Wirkungsgrad von 50% haben werden. Am 30. Mai 2022 konnten die Forschenden des ISE vermelden, dass mit 665-facher Sonnenkonzentration ein Wirkungsgrad von 47,6% erreicht wurde – eine kleine Sensation auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft.

Licht ist vielfältig und es hat bis heute nicht alle seine Geheimnisse offenbart, obschon Wissenschaftler:innen aller Kulturen und Zeiten seine Eigenschaften erforschten.

Für Euklid gingen die Lichtstrahlen vom Auge aus. Eine Metapher für das Licht des Bewusstseins?

Im Fokus des letzten Kapitels soll deshalb nicht die Fresnel-Linse stehen, sondern die Frage nach dem Licht selbst; eine kleine Kulturgeschichte der Erforschung des Lichts also, die einiges über das Wesen des Lichts aussagt, aber noch mehr über das Bewusstsein der Menschen, die sich immer wieder die gleiche Frage gestellt haben – eine Frage, die gut zu Weihnachten passt:

Was ist Licht?

Göttliches Licht

Im alten Ägypten wachte der Sonnengott Ra über allem, was war. Sein Licht war Licht und göttliche Sicht zugleich. Die Menschen lebten in seinem Licht und wurden gleichzeitig von diesem gesehen.

Aristoteles kam dem heutigen Lichtverständnis nahe: Licht kommt in seinen Schriften von einer Lichtquelle, wird von Gegenständen reflektiert und so vom Auge gesehen. Doch auch weiterhin machten Lichtvorstellungen Schule, die wir heute allenfalls noch als Metapher sehen können. So zum Beispiel bei Euklid, für den die Lichtstrahlen vom Auge ausgingen. Eine Metapher für das Licht des Bewusstseins?

Weisses Licht wird von einem Glasprisma gebrochen und in die Spektralfarben zerlegt,
weil jede Farbe ein anderes Brechungsverhalten aufweist. (GIF: wikimedia.com)

Die Farben des Lichts

Indem er einen weissen Lichtstrahl auf ein Glasprisma richtete, hat der englische Physiker, Astronom und Mathematiker Sir Isaac Newton (1643-1727) das weisse Licht in seine farbigen Bestandteile zerlegt.

Lichtausbreitung, Lichtbrechung und viele Phänomene in der Natur wie z.B. den Regenbogen konnte er so erklären. Doch Newton irrte, indem er glaubte, dass Licht aus winzigen Teilchen (Korpuskeln) bestehe, die von einer Lichtquelle ausgeschleudert würden.

Lichtwellen

Newton ertrug Kritik nur sehr schlecht und er bekämpfte seine physikalischen Konkurrenten mit Vehemenz. Als Christiaan Huygens 1678 die Wellennatur des Lichts postulierte (Huygenssches Prinzip), liess Newton seine Verbindungen als Vorsitzender der Royal Society spielen, und so sollte es noch lange dauern, bis sich die Vertreter der Wellentheorie, zu denen auch Fresnel zählte, Gehör verschaffen konnten.

Elektromagnetische Wellen im Äther

1864 formulierte James Clerk Maxwell die noch heute gültigen Grundgleichungen der Elektrodynamik und er erkannte, dass Licht eine elektromagnetische Welle ist. Allerdings vermutete er, wie damals die meisten Physiker, dass diese Welle nicht im leeren Raum existieren könne, sondern ein Ausbreitungsmedium brauche. Dieses Medium, das das gesamte Weltall ausfüllen müsste, wurde als Äther bezeichnet.

Die Doppelnatur des Lichts und des Menschen

Mit der Quantenhypothese von Max Planck (1900) wird Licht zur reinen Energie. 1905 erkennt Albert Einstein, dass das ganze Strahlungsfeld aus Quanten besteht. Für seine theoretische Herleitung erhält er 1921 den Nobelpreis.

Diese Quanten, die später Photonen genannt werden, besitzen jedoch eine «Doppelnatur». Wenn wir Teilchen suchen, dann finden wir sie, doch wenn wir Wellen suchen, dann zeigt uns das Licht seine Wellennatur. Das Licht vereint Eigenschaften von Welle und von Teilchen, ist beides, oder keines (Welle-Teilchen-Dualismus). Licht entzieht sich damit unserer konkreten Anschauung.

Der Begriff «Doppelnatur» wird seit jeher auch für das Wesen des Menschen angewandt, und es gibt viele Parallelen zu unserem Verständnis von Licht.

Über die Jahrtausende hat das Licht viele Wesenszüge preisgegeben, doch es hat auch Geheimnisse bewahrt.

So könnte hier nun noch eine Kulturgeschichte zur Doppelnatur des Menschen folgen. Es wäre dann von metaphysischem Dualismus die Rede, von kosmologischem, naturphilosophischem und religiösem Dualismus.
Es ginge um Sein und Werden, um Ewigkeit und Zeitlichkeit, Körper und Geist, Gut und Böse – oder zeitgenössischer, in den Worten des Zürcher Philosophen Ludwig Hasler:

«Der Mensch ist nichts Eindeutiges. Er ist der verkörperte Zwiespalt. Er hängt irgendwo zwischen dem Geist und dem Animalischen. Mensch ist er nur, solange er in dieser Spannung bleibt, solange er sich nicht versimpelt zu einer Eindeutigkeit. Um vergnügt zu leben, müsste er seine Doppelnatur akzeptieren.»

Ist der Mensch auch Licht, mag man sich fragen? Und:

Was ist Licht?

Über die Jahrtausende hat das Licht viele Wesenszüge preisgegeben, doch es hat auch Geheimnisse bewahrt. Licht ist das, was wir als Licht erkannt haben – doch es ist auch das, was wir noch nicht als Licht kennen.

Licht ist deshalb Wissen und Unwissen, ist Antwort und bleibt Frage.

Was ist Licht?

Leuchtende Weihnacht!

Fresnel-Linse von A.E. Cremer, Paris. (Foto: Kinemathek Lichtspiel Bern)

 

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