Das Film-Ding 004: Ein «audiophiles Schweizermesser» für John F. Kennedy

von Dieter Fahrer 8. November 2022

Das «Nagra SN»: Ein Tonaufnahmegerät so klein und flexibel einsetzbar, dass Geheimdienste und Polizei es zur Spionage einsetzten.

Brennende Projekte

Als die Familie Kudelski aus Warschau, nach einer langen Flucht vor den Nazis, über Ungarn und Frankreich 1943 in die Schweiz gelangte, war ihr Sohn Stefan 14 Jahre alt. Niemand hätte damals gedacht, dass US-Präsident John F. Kennedy nach dem Krieg mit ihm Kontakt aufnehmen würde, mit einem höchst geheimen Auftrag, der bestens in einen James-Bond-Film passen würde.

Doch schon die Studienzeit von Stefan Kudelski war abenteuerlich. Nach dem Collège de Genève besuchte er ab 1948 die EPUL (heute EPFL) in Lausanne und begann ein Ingenieurstudium, das er jedoch nie abschloss. Seine eigenen Projekte brannten ihn mehr.

Noch während dem Studium entwickelte er den ersten Industrieroboter mit elektronischer Steuerung und 1951 das erste professionelle und transportable Tonaufnahmegerät, das «Magnetophon Nagra I», das er in zwei Exemplaren an «Radio Suisse Romande» verkaufen konnte.

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Kudelski hat das Potential seines Recorders sofort erkannt, denn damals waren Tonaufnahmegeräte so gross wie klobige Aktenkoffer und nur mühsam zu transportieren. Sein Nagra, kaum dicker als ein Bundesordner, und mit Tontechnik vom Allerfeinsten ausgestattet, ermöglichte erstmals ein sehr viel flexibleres Arbeiten.

Kudelski entwickelte die Maschine laufend weiter und sie wurde schon bald ein unverzichtbares Arbeitsinstrument für Tontechniker und Journalistinnen beim Rundfunk.

1958 kam das «Nagra III» mit Synchronspur, das speziell auf die Bedürfnisse der Tonmeister beim Film zugeschnitten war (Tonmeisterinnen gab es damals noch kaum).

Doch die edle Kiste, bei der auch die Schlitzschrauben-Köpfe poliert waren, war zwar mobil, aber gute 6,5 Kilogramm schwer. Davon können alte Tonmeister ein Lied singen, wie es sich anfühlt, wenn man stunden- und tagelang mit der schweren Maschine um den Hals auf einem Filmset arbeitet!

Stefan Kudelski mit einem «Nagra III» (Foto: Kudelski S.A.)

Das «Nagra III» und später die IV-er-Reihe, sowie die Stereoausführung ab 1977 wurden zu Verkaufsschlagern für Tonprofis in der ganzen Welt.

«Série Noire»

John F. Kennedy wurde während seiner knapp zweijährigen US-Präsidentschaft (1961-63) auf das blühende und innovative Unternehmen Kudelski S.A. in Cheseaux-sur-Lausanne aufmerksam. Ob er selbst mit Kudelski in Kontakt trat, ist nicht überliefert, aber die Anfrage aus den USA, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit am Lac Léman diskutiert wurde, muss dort wie eine Bombe eingeschlagen haben: Kennedy beauftragte Kudelski mit dem Bau eines Kleinsttonbandgeräts, das für Spionagezwecke geeignet sein sollte.

‘SN’ für ‘Série Noire’, ein passendes Kürzel für ein Gerät, das versteckt eingesetzt wurde – und das es bis 1970 offiziell gar nicht gab.

Kudelski und sein Team übertrafen sich selbst und entwickelten das «Nagra SN», das ab 1965 vom CIA und FBI gebraucht wurde. «SN» für «Série Noire», ein passendes Kürzel für ein Gerät, das versteckt eingesetzt wurde – und das es bis 1970 offiziell gar nicht gab.

«Nagra SN», im Hintergrund ein Exemplar des «American Cinematographer Magazine» aus dem Jahr 1970
(Foto: )

Das «audiophile Schweizermesser», wie das Mini-Nagra später von einem Journalisten bezeichnet wurde, war auch in der Stereo-Version nur gerade 590 Gramm schwer und es fand mit 146 x 101 x 26 Millimeter locker in der Westentasche Platz (Nagra SNST).

Natürlich war es batteriebetrieben, aber um Strom zu sparen wurden die Bänder von Hand zurückgespult. Dazu konnte eine kleine Kurbel ausgeklappt werden, die mit spitzen Fingern und etwas Geschick ein schnelles Umspulen der nur 3,81 Millimeter (0,15 Zoll) breiten Magnetbänder ermöglichte.

(Fotografik: cryptomuseum.com)
(GIF: Audiophiles and the Cold War/Nikita )

Fichen, Stasi, Nachtgeschichte

1970 präsentierte Kudelski das Nagra ST auf der Photokina in Köln und ab 1971 war das kleine Technikwunder frei käuflich. Schweizer Behörden und Kantonspolizeien gehörten nun auch zu den Kunden und sie verwendeten das Mini-Nagra zur Überwachung der eigenen Bürger:innen (Fichenaffäre). Wenig erstaunlich, dass auch die DDR-Stasi zu den Käuferinnen gehörte.

Doch auch die Profis der Filmbranche stürzten sich auf die Innovation aus Lausanne, denn es gab noch lange keine Ansteckmikrofone mit Funkübertragung. Das Mini-Nagra eröffnete erstmals die Möglichkeit, Schauspieler:innen mit einem Aufnahmegeräte auszustatten und lippennah ihre Stimmen und Geräusche aufzuzeichnen.

Auch Expeditions- und Autorenfilmer:innen nutzten das kleine Nagra, so auch Clemens Klopfenstein, das enfant terrible der Schweizer Filmszene, der schon bei den Dreharbeiten für seinen Essay-Reisefilm «Geschichte der Nacht» (1978) den Ton mit einem Mini-Nagra aufnahm. Ein Filmnomade mit leichtem Gepäck. Und er blieb dem Mini-Nagra treu – oder besser: das Nagra ihm, denn bei Klopfenstein musste der Kleinrecorder einiges aushalten (Siehe auch: Info-Box).

Kürzlich hat eine Lichtspiel-Delegation Klopfenstein in Italien besucht und diverse in die Jahre gekommene filmtechnische Geräte abgeholt, die die Gerätesammlung der Kinemathek am Aareufer bereichern. Mit dabei: der Alukoffer, der Klopfensteins Mini-Nagra-Ausrüstung enthält, die über Jahrzehnte in einem Keller lagerte. Trotzdem brauchte das kleine Juwel nur neue Batterien und die Spulen drehten sich wieder.

Das Gerät wird nun von den Spezialisten im Lichtspiel revidiert und der Koffer sanft aufgeräumt, denn er soll auch in Zukunft einen unverblümten Einblick in die Vergangenheit und Arbeitsweise des bekannten Schweizer Filmschaffenden gewähren.

Tonkoffer «Nagra SN» von Clemens Klopfenstein
mit Originaltonbändern von den Dreharbeiten zu «Der Ruf der Sibylla», 1985
Streaming: https://www.artfilm.ch/de/der-ruf-der-sibylla
(Fotos: Kinemathek Lichtspiel)

Oscars als Beilage

Der Oscar («Academy Award of Merit») gehört zu den heiss begehrten und viel umjubelten Preisen in der Welt des Films. Für seine technischen Errungenschaften wurde Stefan Kudelski gleich mehrmals damit ausgezeichnet. In lockeren Abständen, 1965, 1977, 1978 und 1990, gewann er eine Statuette nach der andern – sozusagen als Beilage. Vermutlich hat Stefan Kudelski auch den Dr. h.c., den ihm die EPFL Lausanne 1986 verlieh, mit Freude und einem Schmunzeln angenommen, er, der Studienabbrecher von anno dazumal.

Wirklich interessiert haben ihn weitere technische Innovationen und als in den 80er-Jahren die Digitalisierung alle Lebensbereiche zu durchdringen begann, stellte er die Weichen für eine Neuausrichtung der Firma, die sein Sohn André ab 1991 weiterführte.

Stefan Kudelski mit zwei seiner Oscars (Foto: RTS)

Die Kudelski S.A. ist heute ein börsenkotiertes Unternehmen, das sich auf digitale Sicherheitssysteme spezialisiert hat. Ihre neu entwickelten Technologien finden u.a. Anwendung im Bereich der Informationsübertragung, dem Schutz von Inhalten im Digitalfernsehen (Verschlüsselungssysteme) und der Zutrittskontrolle von Personen oder Fahrzeugen bei Veranstaltungen, zu Liegenschaften oder auf Skipisten.