Zwischen Monza, Eitsch und Müetis Zämebruch

von Fredi Lerch 19. Mai 2020

Roland Reichens neuer Roman heisst «Auf der Strecki». Er berichtet von solchen, die beim Versuch, den billigsten Platz zu ergattern, auf der Strecke bleiben. – Mit drei Fragen an Beat Sterchi zu Reichens berndeutsch-hochdeutscher Mischsprache.

Daheim im Näscht vor dem Fernseh wäre es gemütlicher, sich das Rennen anzusehen, als von Spiez aus «mit dem Alten aben auf Monza». Der Sohn, der schon «seit zwanzig Jahr in einer Blockwohnig in Bern» lebt, begleitet seinen Vättu missmutig in einem Reisecar der «Passion Reisen Steffisburg» an das Formel 1-Rennen in Italien. Mit Wieseli, der in Därligen zusteigt, gibt’s das «schönste Gestürm» über die Frage: Massa oder Räikkönen? Der Vättu ist motivierter zu streiten als sein Sohn. Der blättert lieber in Emil Ciorans Buch «Vom Nachteil, geboren zu werden» und schluckt ab und zu ein Tablettli vom Meggi, seinem älteren Bruder, um diese Monzafahrt auszuhalten.

In Bern ist derweil Meggi zwischen Gurnigelstrasse, wo er wohnt, und der Hodleren unterwegs. Sein Leben besteht aus Eitsch, Coci, Rhöipi, mischeln und muggen. Und wenn das Rehli «in seinen engen Tschiins und den weissen Huudi» beim kleinen Schänzli anschaffen geht, begleitet er es. Bis es dann beim Fahrni einsteigt, der hinter dem Steuerrad füren plöffelt, diesen Karren habe er «von seinem Brüetsch». Dann fährt Fahrni mit Rehli los und Meggi beginnt zu warten. Dass Rehli das macht, ist heute wieder einmal besonders nötig, weil man sie beim Klupen «überall verwütscht» hat.

Während der Monzafahrt von Vätu und dem Jüngeren erhält das Müeti zuhause Besuch von Meggi und erzählt ihm von früher, als «du schon schwer in den Drogi» warst. Sie erzählt von der Zeit, als sie den Zämebruch hatte, in die Depression kam und ihr als erstes der Magen ausgepumpt wurde, als man sie in der Örtlimatt auf die Geschlossene einlieferte. 

Wenn die Sonne ergräten mag

Roland Reichen nennt sein neues Buch einen Roman. Es ist der dritte Text dieser Art. Wie in «aufgrochsen» (2006) und «Sundergrund» (2014) schildert er auch diesmal mit bedrückender Präzision das Milieu, in das er auf der ersten Seite des ersten Buches den «Bub» gesetzt und ihn «Proletengof» genannt hat.

Im neuen Buch wechseln sich die beiden Söhne und das Müeti beim Erzählen ab. Je vier der zwölf Kapitel können einer dieser Erzählpositionen zugeordnet werden. Die Sprache, mit der erzählt wird, ist durchgehend ein Oberländer Unterschichtenjargon, den Reichen so raffiniert einsetzt, dass beim Lesen ein starker Sprachsog entsteht (um ihn noch stärker zu erleben, lese man sich einige Seiten laut vor). 

Und ab und zu begegnet man einem berndeutschen Wort, für das man froh ist, dass dem 107seitigen Roman ein 18seitiges Glossar beigegeben ist. Zum Beispiel: «Die Sunne mag ergräten, wo wir auf dem Brünigpass erste Pause machen.» Ergräten? Das Glossar weiss Rat: «Über den Grat kommen». Wenn das kein schönes berndeutsches Wort ist.

Wirklich bös angeschlagen

Dass der jüngere Sohn, der am ehesten ein Alter Ego des Autors ist, im Car nach Monza den radikalskeptischen Schriftsteller Cioran liest, ist kein Zufall. Reichens skeptische Sicht ist ein Aspekt seines Blickes auf das Geschehen. Der andere ist die Empathie. Gegen Schluss geht der Vättu Sämeli, dieser dauernd herumfluchende und -schimpfende, selbstgerechte Möchtegern-Patriarch mit dem riesigen Bauch neben der Kloschüssel im eigenen Bad zu Boden, kommt nicht mehr hoch, versucht sich am Brünnelirand hochzuziehen, glitscht ab, und schlägt sich bös den Schnuffel auf. Das herbeieilende Müetti fragt: «Hast dir etwas brochen?» Und Reichen fährt fort: «Der Sämeli schüttelt seinen massigen Kopf. Tränen schiessen ihm in die Äuglein, perlen in seinen silbergrauen Schnauz. Ou, er hat wirklich bös angeschlagen.»

Neben Reichens Sprachvirtuosität ist es dieser skeptisch-empathische Blick, der «Auf der Strecki» zu einem berührenden Stück Literatur macht. Es zeigt Menschen, die dauernd «auf der Strecki» sind, um das Wichtige zumindest auf den billigsten Plätzen mitzubekommen – und dabei manchmal himmeltraurig «auf der Strecki» bleiben, weil man solche wie sie nicht einmal auf den billigsten Plätzen brauchen kann.