Als Kind liebte ich Bücher über Zeitreisen. Ich löste das Rätsel der Nofretete, wanderte mit Hannibals Elefanten über die Alpen und überfiel die Römer im Teutoburger Wald. Aber auch, wenn mein Grosi im Wohnzimmer glettete und vom Krieg, den Bomben auf Schaffhausen und den wackelnden Fenster im Freiamt sprach, oder mein Vater am Znachttisch die Kindheit meines Grossvaters als Verdingbub nacherzählte, lauschte ich gespannt.
Meine Faszination war riesig, aber einen richtigen Bezug zu meinem Leben hatten all diese Geschichten nicht: Keine Elefanten wanderten über den Belpberg, und ich rösselete in unserem Einfamilienhäuschen-Garten, statt meine Tage mit viel zu harter Arbeit auf einem Feld zu verbringen.
Ich wurde zum ersten Mal Teil von etwas, was diese Stadt schon lange erfüllt und belebt: Aktivismus, Träume, Utopien
Als ich Ende Gymer auszog, in eine WG, ins grosse Bern und begann, meine Freizeit mit Schreien auf Demos, Sitzungen und Strategiearbeit für den Klimastreik zu verbringen, wurde ich zum ersten Mal Teil von etwas, was diese Stadt schon lange erfüllt und belebt: Aktivismus, Träume, Utopien. Ich lernte Aktivist*innen kennen, die schon bei der Besetzung der Reitschule dabei gewesen waren, sprach mit Menschen aus der autonomen Szene, die Wissen über die Politik der Strasse hatten, das Bücher füllen würde und doch nirgends niedergeschrieben ist, und landete zuletzt zufällig auf einer Jahresversammlung einer Gruppe von Alt-68er*innen.
Seither organisiere ich ein paarmal im Jahr Generationenaustausch-Treffen zwischen interessierten Aktivisti vom Klimastreik und der älteren Generation. Gemeinsam mit Regula Keller von den 68er*innen plane ich einen groben Ablauf, besorge Verpflegung und überlege mir Fragen zum jeweiligen Thema.
Dann treffen wir uns alle zusammen, mal in der Cafeteria beim Klimaraum, mal in meinem Garten, hören uns politische Lieder an, die unsere jeweiligen Generationen geprägt haben und sprechen über alles Mögliche: Feminismus, Veganismus, Geschlechtsidentität oder die Rolle von Eigenverantwortung in der Lösung der Klimakrise (sehr klein, wenn Sie mich fragen, aber da waren wir uns nicht so einig).
Bei einem veganen Znacht gestanden meine Mitbewohnerin und ich einem Ehepaar aus der 68er*innen-Gruppe vor kurzem, dass sie für uns so etwas wie Adoptivgrosseltern geworden sind
Gerade ist das Interesse an der AG von Klimastreik-Seite etwas verebbt, und vielleicht ist es Zeit, für eine Weile Abschied zu nehmen von diesen organisierten Treffen. Doch so viel aus dieser Zeit wird mich für immer begleiten: Erkenntnisse der älteren Aktivist*innen über mühsame Dynamiken in Politogruppen, Konsensentscheide und psychische Gesundheit; das empathische Zuhören und die Perspektivübernahme, die diese Gespräche erforderten.
Wenn ich für soziale Gerechtigkeit auf die Strasse gehe, werde ich für immer auch die Wut und die Stärke meiner Vorreiter*innen und Mitstreiter*innen in mir tragen, die seit über 50 Jahren gegen ausbeuterische und patriarchale Strukturen kämpfen – am Arbeitsplatz, an der Urne, aber auch in angeblich fortschrittlichen politischen Gruppen.
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Und nicht zuletzt sind auch Freund*innenschaften aus diesen Gesprächen entstanden. Bei einem veganen Znacht gestanden meine Mitbewohnerin und ich einem Ehepaar aus der 68er*innen-Gruppe vor kurzem, dass sie für uns so etwas wie Adoptivgrosseltern geworden sind. Politische, badass Adoptivgrosseltern, die gerade ein Buch über Care-Arbeit und verschiedene Familienmodelle geschrieben haben (Journal B berichtete) – wie cool ist das bitte! Und was für ein gros sartiges Beispiel dafür, wie ein Generationenaustausch auf Augenhöhe alle Seiten bereichert und Räume für bemerkenswerte Utopien schafft.