Zahlenspielereien um die nächsten Wahlen

von Willi Egloff 3. Januar 2024

Gemeinderatswahlen Im November 2024 wird der Berner Gemeinderat neu gewählt. Noch ist nicht bekannt, wer ausser den Bisherigen Alec von Graffenried und Marieke Kruit kandidieren wird. Umso fröhlicher wird in Bund/BZ über das voraussichtliche Ergebnis spekuliert.

Die Gemeinderatswahlen in der Stadt Bern sind Proporzwahlen. Nicht die Stimmenzahl der einzelnen Kandidatinnen oder Kandidaten ist entscheidend, sondern welche Liste wie viele Stimmen erhält. Wer wissen will, wie diese Wahlen im November 2024 ausgehen werden, muss daher nicht so sehr auf die einzelnen Köpfe achten, die sich um die frei werdenden Sitze bemühen, sondern auf die Wahlstärken der Parteien.

Um einen Sitz im Gemeinderat zu ergattern, muss eine Partei einen Stimmenanteil von 16,7% erhalten. Einen solchen Wert erzielt in der Stadt Bern nur die SP. Bei den Nationalratswahlen im vergangenen Oktober erreichte sie sogar 36%. Bei einem gleichbleibenden Stimmenanteil würde sie also vorab zwei Sitze im Gemeinderat erhalten. Die restlichen drei Sitze müssten als sogenannte Restmandate verteilt werden.

Um ihre Chancen auf einen dieser restlichen Sitze zu verbessern, stellen alle relevanten Parteien für den Gemeinderat gemeinsame Listen auf. So kandidierten bei den letzten Gemeinderatswahlen SP, GB und GFL auf einer «RGM-Liste», SVP und FdP als «Bürgerliches Bündnis» und die GLP, CVP und BDP zusammen als «Mitte-Liste». Das Ergebnis: Die RGM-Liste gewann 4 Sitze, die Mitte-Liste einen, der SVP-FdP-Verbund ging leer aus.

Sitzverteilung nach Parteistärken

Ob es im Herbst wiederum solche Gemeinschaftslisten geben wird und welche Parteien sich für solche Bündnisse zusammentun, steht im jetzigen Zeitpunkt noch nicht definitiv fest. Dies scheint vor allem die Lokalredaktion von Bund/BZ zu Spekulationen über zukünftige Allianzen anzuspornen. In einer Flut von Artikeln werden wir darüber belehrt, was getan werden sollte, um die aktuelle RGM-Mehrheit zu beenden. Allerdings hält sich die Plausibilität dieser Tipps in Grenzen.

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Denn die Ausgangslage ist eigentlich klar: Würden alle Parteien, die sich an den Nationalratswahlen beteiligt haben, bei den kommenden Gemeinderatswahlen ein etwa vergleichbares Resultat erzielen wie im Oktober 2023 und gäbe es keine gemeinsamen Listen, so gehen zwei Vollmandate an die SP, die drei Restmandate an die GLP, an die SP und an das Grüne Bündnis, und zwar in dieser Reihenfolge. Der Gemeinderat würde sich also aus drei Personen aus der SP und je einem Vertreter oder einer Vertreterin der GLP und des Grünen Bündnisses zusammensetzen. Alle übrigen Parteien gingen leer aus, darunter auch die zurzeit im Gemeinderat vertretene Mitte und die GFL.

Bei dieser Berechnung wird davon ausgegangen, dass die Grünen auf städtischer Ebene wiederum auf mindestens drei verschiedenen Listen kandidieren, wie dies bei den Stadtratswahlen 2020 der Fall war. Ihre Ergebnisse bei den letzten Wahlen zum Nationalrat wurden daher für die Umrechnung auf die städtische Ebene aufgesplittet, und zwar in Analogie zum Stimmenverhältnis, das diese Parteien bei den städtischen Wahlen 2020 erzielt hatten.

Keine Listenverbindungen bei der Gemeinderatswahl

Anders als bei den Nationalratswahlen und bei den Stadtratswahlen gibt es bei den Wahlen zum Gemeinderat keine Listenverbindungen. Wer nicht aus eigener Kraft einen Stimmenanteil erreicht, der sicher für einen Sitz ausreicht, wird daher versuchen, mit anderen Parteien zusammen eine gemeinsame Liste zu bilden, die dann allenfalls das erforderliche Quorum erreicht. Dabei besteht das unvermeidbare Risiko, dass die gemeinsame Liste zwar die erforderliche Stimmenzahl erhält, dass der Sitz dann aber an einen Vertreter oder eine Vertreterin einer andern Partei geht, weil diese Person mehr persönliche Stimmen erhalten hat als die eigenen Kandidierenden.

Das Risiko, dass Kandidierende anderer Parteien besser abschneiden als die eigenen, verleitet erfahrungsgemäss dazu, zwar eine gemeinsame Liste einzureichen, dann aber doch nur die eigenen Kandidierenden zu wählen.

Das war beispielsweise bei den Gemeinderatswahlen 2020 der Fall: Bei den Stadtratswahlen erzielte die CVP einen Stimmenanteil von 3,19%, die mit zwei Listen angetretene GLP einen solchen von 13,14%. In den Gemeinderat gewählt wurde von der gemeinsamen Liste aber der CVP-Mann Reto Nause, weil er mehr Stimmen auf sich vereinigte als die beiden GLP-Kandidatinnen.

Gegenseitige Streichkonzerte

Das Risiko, dass Kandidierende anderer Parteien besser abschneiden als die eigenen, verleitet erfahrungsgemäss dazu, zwar eine gemeinsame Liste einzureichen, dann aber doch nur die eigenen Kandidierenden zu wählen. Das Ergebnis ist, dass diese gemeinsamen Listen ihre vermeintliche Wahlstärke nicht ausschöpfen können. So erzielten SVP, FdP und Jungfreisinnige bei den Stadtratswahlen 2020 zusammen 18% der Stimmen. Die gemeinsame Liste für den Gemeinderat brachte es aber nur auf 15,02%, womit sie leer ausging. Offenbar hatte ein erheblicher Teil der rechten Wählerschaft die Kandidierenden der jeweils anderen «Bündnisparteien» nicht unterstützt.

Ähnliches, wenn auch in kleinerem Ausmass, spielte sich bei der Mitte-Liste ab: Die dort vertretenen Parteien erzielten bei den Stadtratswahlen insgesamt 21,1% der Stimmen. Ihre gemeinsame Gemeinderatsliste schaffte es aber nur auf 19,5%. Auch hier fanden offensichtlich gegenseitige Streichkonzerte statt.

Ein ganz anderes Bild zeigte sich bei der RGM-Liste. Die auf dieser Liste vertretenen Parteien SP, GB und GFL sowie ihre jeweiligen Jungparteien erhielten bei den Stadtratswahlen insgesamt 53,4% der Stimmen. Für ihre gemeinsame Gemeinderatsliste resultierten aber nicht weniger als 63,7%. Das Ergebnis reichte gleich für drei Vollmandate. Den vierten Gemeinderatssitz erlangte RGM durch ein Restmandat.

Gemeinschaftsliste ist keine Wunderwaffe

Die Erfahrungen bei den Gemeinderatswahlen 2020 zeigen also, dass gemeinsame Listen keineswegs die Wunderwaffe sind, welche ihnen die verfrühten Wahlprognosen von Bund/BZ zuweisen wollen. Sie funktionieren nur, wenn hinter der Wahlarithmetik auch ein gemeinsamer politischer Wille steckt.

Zwar trifft es zu, dass die Stimmkraft aller Parteien von SVP bis GLP für zwei Mandate im Gemeinderat ausreicht. Würden sie im November 2024 in der gleichen Konstellation kandidieren wie im Herbst 2020 und könnten sie ihre Stimmkraft vom Oktober 2023 voll ausschöpfen, so könnte sich die Zusammensetzung des Gemeinderates tatsächlich verändern: Läge die Gesamtstimmenzahl der Gemeinderatswahl wiederum bei rund 220’000 Stimmen (2020 waren es 221’806 Stimmen), erhielte RGM dann nämlich drei Vollmandate, die Mitte-Liste eines. Das verbleibende Restmandat ginge aber knapp an die Listenverbindung von SVP und FdP.

Gemessen an der jeweiligen Parteistärke müsste das Vollmandat an die GLP, das Restmandat an die SVP gehen. Aber eben: Es hängt von den Stimmenzahlen der einzelnen Kandidierenden ab. Das wissen die jeweiligen Listenpartnerinnen auch. Also wird es wohl auch diesmal wieder gegenseitige Streichkonzerte geben, mit dem absehbaren Risiko, dass dann auch das Restmandat wieder verloren geht.

Alle vereint gegen RGM?

In Bund/BZ wird in einer ganzen Reihe von Beiträgen eine andere Listenverbindung propagiert. Danach sollen sich alle Parteien von SVP bis GLP zu einer BGM-Liste zusammentun und damit RGM herausfordern. Diese Gemeinschaftsliste würde nach dieser Meinung fast sicher zwei Vollmandate erreichen.

Sehr viel plausibler wäre aber ein anderer Effekt: Eine solche Liste hätte als einzigen gemeinsamen Inhalt die Absicht, die RGM-Mehrheit einzudämmen. Ein gemeinsamer politischer Gestaltungswille ist aber weit und breit nicht ersichtlich. Eine solche Liste müsste daher für bürgerliche Wählerinnen und Wähler mit einer bestimmten Parteienpräferenz geradezu als Einladung wirken, die Kandidierenden der jeweils anderen Parteien auf dem Wahlzettel zu streichen. Die Folge wäre wiederum, dass die Liste einen kleineren Stimmenanteil erhalten würde, als es der Summe ihrer Komponenten entspräche.

Die Zahlenspielereien deuten daher eher darauf hin, dass alles genau so ablaufen wird wie bei den letzten Gemeinderatswahlen

Hinzu kommt: Wieso sollte eine GLP mit einem Stimmanteil von 13,7%, der aller Wahrscheinlichkeit nach für das Erlangen eines Gemeinderatssitzes ausreicht, in eine solche Gemeinschaftsliste einwilligen? Das Risiko, wie schon bei den Wahlen 2020 an einem sicher geglaubten Sitz im Gemeinderat vorbeizuschrammen, wäre beträchtlich. Und dass der Sitz dann sogar an einen Vertreter der Stadtberner SVP gehen könnte, dürfte für Wählende der GLP und der Mitte kaum attraktiv sein.

Die Zahlenspielereien deuten daher eher darauf hin, dass alles genau so ablaufen wird wie bei den letzten Gemeinderatswahlen: Es wird wiederum drei gemeinsame Listen geben. RGM wird mindestens 3 Vollmandate erhalten, die Mitte-Liste eines. Über die Zuweisung des fünften Sitzes entscheidet die Wahlbeteiligung: Ist diese hoch, so geht auch dieses Mandat an die RGM-Liste, bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung ist der Ausgang offen.

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels war fälschlicherweise von vier Vollmandaten für RGM bei den Gemeinderatswahlen 2020 die Rede. Richtig ist: RGM holte damals drei Vollmandate und ein Restmandat. Wir bitten um Entschuldigung für diese Ungenauigkeit und bedanken uns für eure Hinweise.