Wovon wir reden, wenn wir über Berge reden.

von Christoph Reichenau 1. März 2021

«Let’s Talk about Mountains», so heisst «eine filmische Annäherung an Nordkorea», die ab dem 27. März im Alpinen Museum der Schweiz zu sehen, zu hören, zu lesen sein wird, eine Ausstellung der vielen Dimensionen. Wie ist sie entstanden?

Worüber können wir reden, wenn wir von Bergen reden? Was zeigt sich uns, wenn wir über Berge reden? Über Berge, weil wir über alles Weitere nicht reden sollen, nicht reden dürfen. Aber doch einiges mitbekommen, wenn die Berge das erklärte, das richtige, das mögliche Thema sind – ehrlich gemeint, nicht bloss eine clevere Taktik, das unerwünschte Thema tangential zu berühren.  

Dazu zeigt das Alpine Museum der Schweiz (alps) am Berner Helvetiaplatz ab dem 27. März eine Ausstellung. Gern geben die Macher*innen jetzt schon Auskunft über ihr Making of. Eindrücke aus einem Gespräch mit alps-Direktor Beat Hächler sowie dem in Berlin lebenden Bündner Filmemacher Gian Suhner, der hier gerade mit dem Aufbau der Ausstellung beschäftigt ist.   

Berge als Türöffner

Seit ein paar Jahren macht das alps die Erfahrung, dass das Thema Berge Türen öffnet zur Kultur, zur Gesellschaft, zum politischen System von Ländern, die schwer zugänglich sind. Berge sind mehr als topographische Erhebungen; Berge stecken tief in den Köpfen der Bewohner*innen von Bergländern, auch wenn sie im flachen Land leben. Das war die Erfahrung mit Projekten zu Afghanistan, Iran oder Taiwan. Menschen, die in Ländern mit Bergen leben, haben zueinander ein besonderes Verhältnis, denn Berge prägen die Menschen und die Prägung wird in vielfältiger Ausgestaltung ein wesentlicher Teil ihrer Kultur. Aus dieser Erkenntnis bildete das alps einen Schwerpunkt des Programms. Dessen neuestes Element ist die filmische Annäherung an Nordkorea.

Start in Venedig

Wie entstand der Wunsch dafür? 2014 zeigte der südkoreanische Pavillon an der Architekturbiennale von Venedig Plakate von Nordkorea. Fast auf jedem Plakat hatte es Berge. Der Eindruck eines gebirgigen Landes entstand, eines Staats mit totalitärem Einparteiensystem, der sich auf Berge propagandistisch bezieht, sie nutzt als Ursprung ideologischer Neuerung. Fast futuristische Architektur verbindet sich mit der Bergwelt (man denkt unwillkürlich an das 300 Meter hohe Turmprojekt des Blenders Remo Stoffel in Vals).

In Südkorea erheben sich ebenfalls viele Berge. Die innerkoreanische Beziehung funktioniert auch über (das Thema) Berge: In einer Darstellung erscheint die koreanische Halbinsel als Tiger, dessen Wirbelsäule der Baekdudaegan bildet. Das ist der Bergrücken, der sich über die ganze koreanische Halbinsel erstreckt. Auf Gemälden sind Berge in Korea seit Jahrhunderten mit Spiritualität verbunden, etwa mit der Abbildung buddhistischer Tempel neben Wasserfällen. Die neuen koreanischen Führer konnten auf einem alten kulturellen Fundament bauen.

Ursprungsberg Paektusan

Der Berg von mythischer und weltanschaulicher Bedeutung für die ganze Halbinsel ist der Paektusan in Nordkorea, an der Grenze zu China, 2’744 Meter hoch. Dort soll der erste Koreaner zur Welt gekommen sein. Von dort soll ab den späten 30er Jahren auch Kim Il-sung, der Grossvater des jetzigen Machthabers, als Partisanenführer Nordkorea vom Joch der Japaner befreit haben. Auch die Geburt von Kim Jong-il, des Sohnes von Kim Il-sung, wurde nachträglich an den Fuss des Paektusan verlegt. Die Erzählung von der Geburt der neuen Dynastie und Ideologie ist somit in der Bergwelt verortet, die der Paektusan verkörpert, der omnipräsent ist, etwa auch als Hintergrund der Nachrichtensprecher am Fernsehen.

Ein langer Weg

Als ihm klar geworden war, dass die Ausstellung vor allem «filmisch» werden sollte, zog alps-Direktor Beat Hächler den in Berlin lebenden Bündner Filmemacher Gian Suhner bei. Dieser bildete mit Katharina Schelling und Denis Elmaci ein Filmteam. Nach erstem Kontakt mit der Botschaft von Nordkorea in Muri und der Kontaktaufnahme aus Pjöngjang brach das Filmteam 2018 zu einer zweiwöchigen Recherchereise auf. 2019 folgte ein Aufenthalt von vier Wochen in Nord- und einer Woche in Südkorea. Stets waren zwei Begleitpersonen, die zugleich als Dolmetscher dabei.

Die lange Reise im Land, kein eiliges «Durchrauschen» nach Schema X, führte zu im Voraus bestimmten Drehorten, an denen das Verhältnis der Nordkoreaner*innen zu den Bergen erkundet wurde: In eine Kita, wo die Kinder ein Lied zum Paektusan einübten; an eine High-School, deren Gymnasiast*innen Geographie und Geschichte in Verbindung mit der herrschenden Ideologie vermittelt wurde; an einen Ort, an dem die DEZA Projekte gegen die Bodenerosion durchführt, um die Landwirtschaft zu unterstützen, und natürlich in einem Ski-Resort (wo eine Bahn aus Schweizer Produktion lief).

Die beiden Reisen des Film- und Ausstellungsteams unterschieden sich stark. 2018 fand in Südkorea die Winterolympiade statt. Der südkoreanische Präsident hatte Nordkoreas Führer besucht, es war Tauwetter. 2019 war die Öffnung teilweise wieder Geschichte, die Menschen vorsichtiger.

Paektusan und Hallasan

In Nordkorea besuchte das Team zwei sehr unterschiedliche Bergregionen. Die im äussersten Norden Nordkoreas gelegene Region des Staatsberges Paektusan. Ein nationaler Wallfahrtsort, der die Bedeutung der Kim-Dynastie mit dem militärischen Befreiungskampf gegen die Japaner verknüpft. Die Besucher*innen sind häufig Delegationen von Betrieben oder Arbeitsbrigaden von Baustellen, einheitlich gekleidet und als Gruppe geführt. Der Paektusan wird als „Heiliger Berg der Revolution“ gefeiert. Man nähert sich ihm ehrfürchtig, im Gedenken an den grossen Staatsgründer Kim Il-sung, der Besuch ist ein «rite de passage» sozialen und politischen Bewusstwerdens. Ganz anders die Berge im Süden Nordkoreas, in den Kumgang-Bergen. Hier erinnert die Landschaft ans Maggia- oder Bavonatal. Granitfelsen, glasklare Bergbäche, Wanderwege mit Brücken und Stegen. Die Stimmung erinnert an Schulreisen. Vergnügtes Ausflüglertum, aber auch hier sind immer Gruppen unterwegs.

Auch Südkorea hat seinen Paektusan, den ganz im Süden sich erhebenden Vulkanberg Hallasan. Er ist 1’950 Meter hoch. Das Klima ist hier milder und der Berg weniger hochalpin. Doch in der Bedeutung steht der Hallasan dem Paektusan kaum nach. In Südkorea wirkt die Form des Tourismus offener, es gibt Busverbindungen an viele Orte mit kleineren Stationen. Zwar bestehen zahlreiche Wandervereine, doch reisen Menschen auch individuell, klettern, wandern allein. Es gibt die «kleinen Fluchten» ins Gebirge, sportliches alpines Wandern mit dem neuesten Equipment.

Der Ansatz «Talk about Mountains»

Beat Hächler ging davon aus, die Schweizerinnen und Schweizer des Filmteams könnten über das Thema Berge an Menschen herankommen und über die Menschen das Land Nordkorea kennenlernen. Es gelang. Immer redete man über die Natur, dann über Kultur, später kamen die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Politik ins Spiel. Nach zähen Anfängen kam es meist zu einem Dialog. Nur Persönliches blieb weitgehend ausgespart. Meist folgte in Nordkorea am Schluss einer Äusserung der Dank an das Regime, das dies und jenes ermögliche.

Auch wenn sich die Gespräche oft an der Oberfläche bewegten, lernten die alps-Leute Individuen kennen. Im Format der Gespräche, von denen zahlreiche in der Ausstellung zu sehen sein werden, ist das Menschliche spürbar, das einen gemeinsamen Grund bildet, wo man sich füreinander interessiert in aller Unterschiedlichkeit. Ins Gespräch zu kommen, erwies sich als nicht schwierig. Die ausgewählten Themen – etwa: Was lernen Kinder im Geografieunterricht über Berge? – schlugen Brücken. Doch «das Gespräch» ist nicht abgeschlossen. Alle entdecken in den Interviews immer wieder Neues, Anderes. Es mögen Nuancen sein. Sie laden ein, weiterzureden.

Dass alps hatte vor, die Guides aus Nordkorea in die Schweiz einzuladen. Wegen Corona war dies auf den Zeitpunkt der Vernissage nicht möglich. Der Besuch soll nachgeholt werden. Die Ausstellungsmacher*innen nimmt es wunder, wie die Ausstellungsinhalte auf die nordkoreanischen Guides wirkt. Auch dies wird eine Fortsetzung des Gesprächs sein: Den Menschen beim Betrachten der Filmbilder die Möglichkeit geben zuzuschauen, wie die Schweizer*innen ihnen zugeschaut haben, damals in Nordkorea.

Ein Grossprojekt

«Let’s Talk about Montains» ist ein Grossprojekt für ein kleines – wenn auch sehr wichtiges und ambitioniertes – Museum wie das alps. Von der ersten konkreten Idee bis zur Vernissage der Ausstellung vergingen 7 Jahre; die übliche Planung umfasst die Hälfte dieser Zeit.

Die Bildung des Filmteams mit Gian Suhner und Katharina Schelling war ein Glücksfall. Die beiden brachten Zeit ein, Energie, neue Blicke, die das Thema weitete. Aus Sicht der externen Personen war umgekehrt der Anschluss ihrer Recherche- und Filmarbeit an ein festes Haus, das alps, wichtig; die bewegten Bilder wirken stark im szenografischen Raum des Hauses. Bedeutend war zudem, dass Beat Hächler früh schon wusste, dass die Ausstellung «filmisch» werden sollte.

Jetzt dauert es nur noch wenige Tage bis zur Vernissage. Dann schlägt die Stunde der Besucher*innen. Mit der Eröffnung wird die so lange, sorgfältig, umsichtig am andern Ende der Welt vorbereitete Ausstellung unsere Ausstellung. An uns also, aufzunehmen – und weiterzureden, unter uns und, zumindest virtuell, mit Nordkorea.

Magazin

Wenn wir wieder draussen stehen werden mit unseren sortierten oder ungeordneten Eindrücken, bleiben wir nicht allein. Ein 200 Seiten starkes Magazin gibt uns Fotos nach Hause, die wir nochmals durchsehen und in denen wir Neues entdecken können. Rund ein Dutzend Texte schildern in Ergänzung zur Ausstellung Erfahrungen aus Nordkorea, lassen uns wissen, regen an mit ironischen Vergleichen etwa von der Revolution auf den Paektusan zum Mythos des Schwurs in der bergigen Zentralschweiz. Sehr lesenswert. Ein lang andauernder Nachhall einer nahrhaften Ausstellung.