Wenn Simon Küffer aka Tommy Vercetti ein neues Album veröffentlicht, dann ist das ein grosses Ding – nicht nur für die Berner Rapszene. Spätestens seit der Veröffentlichung seines ersten Soloalbums «Seiltänzer» vor neun Jahren besitzt der Berner Künstler schweizweite Ausstrahlung. Am 27. September erscheint sein neues Album «No 3 Nächt bis Morn».
Als Rapper «Tommy Vercetti» tritt Küffer seit 2003 auf. Damals legte er sich den Namen in Anlehnung an den Protagonisten des Computerspiele-Klassikers «GTA Vice City» für das Ultimative Battle im Bierhübeli zu. Seither ist er mit diesem Namen in mehreren Formationen unterwegs und hat diverse Mixtapes und Alben veröffentlicht.
Vercetti ist jedoch weit mehr als «nur» Rapper. Voraussichtlich im nächsten Jahr wird er seine Doktorarbeit zum Thema der visuellen Rhetorik des Geldes an der Hochschule der Künste Bern (HKB) abschliessen. Mit dem sogenannten Bistroclub, einer Diskussionsgruppe, die Vercetti gemeinsam mit dem emeritierten HKB-Professor Beat Schneider leitet, veranstaltet er regelmässig öffentliche Diskussionen im Breitschträff. Jüngst wurden der rasante Aufstieg Chinas zur Weltmacht und dessen gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen aus einer linken Perspektive diskutiert. Des Weiteren schrieb er von 2014 bis 2017 eine Kolumne für Journal B und arbeitet seit über 10 Jahren als Grafiker in Bern.
Zwischen Makroperspektive und Spassprojekt
Was Vercettis künstlerische Laufbahn betrifft, so stellte das 2010 erschienene Soloalbum «Seiltänzer» eine Zäsur dar. Vercetti stieg mit seinem Debut-Album prompt in die Top 20 der Schweizer Hitparade ein – ein Novum für ihn, der bisher eher regionale Bekanntheit hatte und erstaunlich auch deshalb, weil das Album weder musikalisch noch textlich nach Hitparade klingt. «Seiltänzer» ist ein intellektueller Rundumschlag, auf dem Vercetti Gesellschaft und Leben wortgewaltig ausbreitet und seziert. Mit dem Album zeigte er, dass Musik die Makroperspektive jenseits abgedroschener Phrasen mit künstlerischem Tiefgang erforschen kann, was ihm den Ruf als Intellektueller einbrachte und vom Kanton Bern mit dem Literaturpreis honoriert wurde.
Den Erhalt des Preises honorierte Vercetti seinerseits mit der wenig schmeichelhaften Line: «Die Wixxer wei mir ä Literaturpriss gää (…) u när heisi pötzlech ds gfüüu i wirde erwachse» auf dem Mixtape «Stadt unter» der Rap-Formation Eldorado FM (EFM) und erteilte damit der etablierten Kultur auf seine Weise eine Absage. Sowieso erweckte Vercetti zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, als wolle er seine Musik in deren Dienst stellen. Stattdessen unternahm er mit den Rappern CBN, Manilio und Dezmond Dez, aus denen sich EFM zusammensetzt, seit jeher gezielte Ausbrüche und bezeichnet EFM auf dem Mixtape «Bugarach Beach» als «Spassprojekt». Gleichzeitig dürfte selbst nicht besonders aufmerksamen HörerInnen klar sein, dass EFM trotz einiger teils rauer Textpassagen – die auf dem letzten Album «Luke mir si di Vater» (2015) deutlich spärlicher gesät sind – keinen Grund hat, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Stattdessen trumpften die vier immer wieder lyrisch auf und schafften sich eine Nische, die bis heute ein grosses Publikum begeistert. Ebenso wie einige EFM-Tracks schliessen die Alben «Glanton Gang» (2013; zusammen mit Dezmond Dez) oder die jüngst erschienenen «Kaspar Melchior Balthasar» (2018; zusammen mit Dezmond Dez und CBN) und «Polarlos EP» (2018) am hochkarätigen «Seiltänzer»-Album an.
No 3 Nächst bis Morn
Es überrascht also nicht, dass auch das neue Album «No 3 Nächt bis Morn» mit allen Wassern gewaschen ist. Angst, den Stier bei den Hörnern zu packen, kennt Vercetti nicht. Stattdessen kritisiert er die gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnisse in der gewohnten Eloquenz und Sorgfalt seiner letzten Veröffentlichungen.
Der Produzent des Albums, Pablo Nouvelle, bespielt die Platte mit einer Varietät an Beats und rührt stets die richtige Mischung aus organischen Bläsern à la Glanton Gang, gefühlvollem Soul und technoiden Synthis an, um Vercettis eindringliche Texte auf direktem Weg in den Hirnstamm zu transportieren. Sich das Album anzuhören macht Freude. Nie hat man das Gefühl, etwas zweimal zu hören, nie das Gefühl, Vercetti versuche sich krampfhaft neu zu erfinden. Stattdessen spinnt er auch mal eine Idee, die er vor neun Jahren aufgenommen hat, authentisch weiter. Schon der Titel des Songs «Memo a Misäuber» dürfte den einen oder die andere an die zweiteilige Abhandlung über die Liebe auf «Seiltänzer» erinnern. Mit der entwaffnenden Ehrlichkeit der Selbstreflexion berichtet er, wie sich seine Lebensrealität gewandelt hat:
«U plötzlech ke Ziit für au dä Scheiss
verbissä a jedem Eggä gspart
Stundä uf ds Konto ta und ghofft
mir wärdä glücklecher eso
u plötzlech ke Ziit für au dä Scheiss
Karriere ä sehr einsamä Wäg
tarnt aus Kunscht erkennsch sä z spät
und ig nüm glücklech wi zuvor»
Man könnte sagen, Vercetti sei nun doch «erwachsen» geworden, weil ihm die Zwänge von Geld, Arbeit, Karriere und Familie zu schaffen machen. Man könnte aber auch sagen, Vercetti ist ehrlich geblieben. Die ungeschönte Darstellung war immer seine Paradedisziplin – egal ob der Blick aus dem Fenster oder zum Spiegel ging. «Erwachsen» ist Vercetti auch deshalb nicht, weil dem Begriff der Mief von Angepasstheit und Resignation anhaftet. Diese Attribute können dem Rapper aber keinesfalls angedichtet werden. Stattdessen liefert Vercetti eine demaskierende Radikalität, die so tief schneidet, dass selbst der eine oder andere Nadelgestreifte schockiert bemerken könnte, dass auch in seinen Adern rotes Blut fliesst. Im Song «Vorem Gsicht» klagt Vercetti die gesamte gesellschaftliche Hierarchiekette vom Chef bis zur Politik an, nur um am Ende belehrt zu werden:
«Widerstand isch am Änd vom Tag eifach dumm
du nennsches: Diäbstau, mir: Privateigetum
si fülle dr Cheque us, mir mache nume Gsetz drus
u lö mir ihne ds Land, lö si üs aus Pfand s Gärtli drumum»
Interessant und anspruchsvoll ist auch der Song: «Papst & Spekulant», auf dem der einzige andere Rapper gefeatured wird (natürlich ist es Dezmond Dez). Für fünfeinhalb Minuten schlüpfen die beiden in die Rolle des Papstes (Vercetti) bzw. des Spekulanten (Dez) und produzierten einen Textschwall, den man sich am besten mehrfach hintereinander anhört und dazu idealerweise die im Booklet mitgelieferten Lyrics gleich mitliest.
Abgesehen von der überzeugenden inhaltlichen Tiefe begeistert das Album auch mit einer durchdachten Struktur, sowie überraschenden Features und Formen. Schon auf «Seiltänzer» und «Glanton Gang» bewies Vercetti, dass Prologe und Outros ein Album nicht nur hübsch einrahmen, sondern locker mal die Sultans of Swings einer Platte sein können. Ganz so üppig fallen «Rappers Delight» und «No 2 Nächt bis Morn» leider nicht aus, dafür stimmen sie angemessen aufs Album ein bzw. entlassen einen bedächtig ins Jetzt. Auf letzterem findet sich eines der insgesamt vier gelungenen Features auf dem Album.
Zum Schluss fällt es einfacher, eine Empfehlung abzugeben als ein Fazit zu ziehen. Das Album muss man kaufen, so wie man auch den zeitlosen «Seiltänzer» aus dem Schubladenstock hervorkramen sollte. Und wer am Abend des 22. Dezember noch ein Loch in der Agenda hat, schreibt sich die Zusatzshow zur schon ausverkauften Plattentaufe im Dachstock ein. Dort dürfen die tanzbaren Nouvellschen’ Beats dann endlich über die Membran einer ihnen würdigen Anlage schwingen, was Grund genug sein sollte, diesen Abend nicht anderweitig zu verplanen.