Wohntraum im Schnelldurchlauf

von Michelle Huwiler 5. Januar 2022

Winterserie «So wohnt Bern» – Ein Verkaufsinserat legt still gehegte Wünsche frei und führt via Architekten und Banken zu einem Wohnprojekt für 10 Personen. Ein Erfahrungsbericht.

Ende Juli ruft mich eine Freundin aus Gymnasiumszeiten an: «Es ist ein denkmalgeschütztes Bauernhaus ausgeschrieben. Die Stadt will es im Baurecht verkaufen. Helft ihr mit, ein Projekt einzureichen?» Ihre Stimme klingt freudig erregt. Eine Woche zuvor haben wir ausführlich über Wohnprojekte gesprochen, ein Dauerthema in meinem Freundeskreis. Als Mitdreissiger in einer Pandemie sind wir zwangsläufig häuslicher und anspruchsvoller geworden. Ausserdem wächst unser finanzieller Spielraum und wir beginnen uns zu fragen, wem wir jeden Monat Miete bezahlen. Meine Freundin möchte mit ihrer Familie raus aus dem Reihenhäuschen in Bümpliz, es wird ihnen zu eng und die nahe liegende Zugstrecke ist laut. Selbst in einem Aargauer Bauernhaus aufgewachsen, erwacht die Sehnsucht vom Leben auf dem Land wieder. Bei den aktuellen Immobilienpreisen ist dieser Traum allerdings nur in der Gruppe realistisch. Auch gut Verdienende in unserer Generation können sich Häuser kaum mehr leisten, ausser sie haben geerbt oder rechtzeitig Bitcoins gekauft.

Ich bin etwas überrumpelt. Zusammen mit meinem Partner und einem befreundeten Paar habe ich mich vor einigen Wochen einem Wohnbaugenossenschafts-Projekt angeschlossen, das den Umbau eines ehemaligen Bürogebäudes in ein Wohnhaus partizipativ erarbeitet. Ob wir da wohnen wollen, wissen wir noch nicht. Unser Ziel: mitmachen und lernen, wie man ein solches Projekt angeht, was eine Genossenschaft genau ist, wie das Finanzierungsmodell funktioniert etc. Später werden wir dank diesem Lernprozess vielleicht bereit sein, ein eigenes Projekt zu realisieren. Nach einigen Jahren Wohnen in WGs und Wohnen in Zweisamkeit mit meinem Partner ist mir mittlerweile klar: Mein Wohnideal ist das Zusammenleben in einer grösseren Gemeinschaft. Ich bin gern unter Leuten und möchte meinen Alltag mit anderen teilen. Zum jetzigen Zeitpunkt fehlt es mir aber an Erfahrung und Knowhow, ein solches Projekt umzusetzen. Es ist mir bewusst, dass unsere Aussichten auf Erfolg äusserst bescheiden sind. Trotzdem reizt mich der Gedanke, es einfach mal zu versuchen und vom Träumen ins Machen zu kommen. «Ich komme auch zum Besichtigungstermin», antworte ich meiner Freundin.

Die erste Begegnung

Eine Woche später, an einem heissen Augusttag, radeln wir nach Matzenried. Der Weg von Bern zieht sich, es entstehen Schweissflecken auf unseren T-Shirts. Ich denke darüber nach, was diese Wohnlage für meinen Arbeitsweg, mein Freizeitverhalten, die Pflege meiner über die gesamte Deutschschweiz verteilten Freundschaften bedeuten würde. Zwar ist die Gehdistanz zum Nachtleben für mich mittlerweile kein relevantes Kriterium mehr für eine gute Wohnlage. Aber bin ich wirklich bereit, das Stadtzentrum zu verlassen? Da erscheint es in unserem Blickfeld: sonnengeschwärztes Holz, mit Geranien geschmückt, ein Traum von einem Bauernhaus. 200-jährig steht es zuoberst auf dem Hügel und die Aussicht reicht bis zum Chasseral.

Von der Denkmalpflege als «schützenswert» eingestuft: Das 200-jährige Bauernhaus mit Ofenhaus in Matzenried. (Foto: Michelle Huwiler)

Am Besichtigungstermin herrscht ein geschäftiges Treiben. Interessenten stapfen durch Wohnräume, fotografieren ehemalige Ställe und begutachten den Dachstock. Fachmännisch wird die Bausubstanz beurteilt, Umbaumöglichkeiten werden abgewägt. Wir sind zu fünft: vier Interessierte aus unserem Umfeld und eine Nachbarin, die Innenarchitektin ist. Sie begleitet uns aus Gefälligkeit. Nach dem Rundgang versammeln wir uns unter dem alten Nussbaum und fassen unsere Eindrücke zusammen: der imposante Dachstock, der grosszügige Umschwung, der gemütliche Kachelofen, die historischen Türschwellen. Wir sind uns einig: Dieses Haus würde unserem Wohntraum nahekommen, aber es gäbe viel zu tun! Ein Umbauprojekt von dieser Grössenordnung ist wohl eine Schuhnummer zu gross für uns. Die Begleiterin ermutigt uns, es zu wagen. Das wichtigste sei, eine überzeugende Idee zu haben, was man aus dem Gebäude machen könnte.

Am 16. August eröffne ich den Chat «Bauernhaustraum», der zu unserem zentralen Austauschort wird. Wir teilen Recherchen miteinander, kommentieren Erfolgsmomente und verarbeiten Rückschläge. Ein Archiv, das den turbulenten Verlauf der nächsten Wochen nachvollziehen lässt. Das Projekt entwickelt eine beträchtliche Sogwirkung. Wir nehmen uns vor, eine Wohnbaugenossenschaft zu gründen und stürzen uns in die Abklärungen, wie wir dies bewerkstelligen. Meine Zweifel sind nicht gänzlich verschwunden, aber ich schiebe sie zur Seite. Ich lasse mich auf das Luftschloss ein und gebe ihm eine Chance.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Frohe Aussichten

Mit Blick auf die farbigen Post-its diskutieren wir im September darüber, welche Räume wir privat und welche wir gemeinsam nutzen wollen. Ziel des Treffens: Unsere Ideen konkretisieren und eine Vision entwickeln, wie wir das Bauernhaus bewohnen wollen. Mittlerweile besteht unsere Gruppe aus 10 Personen zwischen 3 und 75 Jahren, ein älteres Ehepaar ist dazugestossen. Per Inserat hatten die Rentner*innen Interessierte für gemeinschaftliches Wohnprojekt gesucht und standen deswegen bereits jemandem aus unserer Gruppe in Kontakt. Nebst Erfahrung mit dem Umbau eines Bauernhauses bringen sie Lust auf eine Veränderung mit; ein Glücksfall für unsere Gruppe. Die gesammelten Stichworte auf den Plakaten offenbaren teilweise unterschiedliche, aber nicht unvereinbare Bedürfnisse.

Die Sympathie stimmt und wir sind uns in grundlegenden Fragen einig. Wir suchen eine Wohnform, die Privatsphäre respektiert, aber auch ein Zusammenleben ermöglicht. Ab und zu zusammen Znacht essen soll genauso selbstverständlich sein wie nachbarschaftliche Unterstützung bei Fahrten in die Stadt oder Kinder hüten. Den Garten möchten wir zusammen bewirtschaften, das alte Ofenhaus nehmen wir wieder in Betrieb und laden Nachbarschaft und Freunde zu Brotback-Tagen ein. Am Umbau werden wir uns mit Eigenleistungen beteiligen. Es ist uns wichtig, die historische Bausubstanz wertzuschätzen und Nachhaltigkeit bei Umbau und Lebensgestaltung mitzudenken. Unsere Träume nehmen Gestalt an. Zu Ehren von Mazzo, dem historischen Namensgeber von Matzenried, nennen wir unser Projekt «Palazzo Mazzo». Es ist ein intensiver und sehr ergiebiger Tag. Ich bin überwältigt von der Energie, die eine Gruppe entwickelt, wenn sie am selben Strick zieht.

Der imposante Dachstock ist ein Zeugnis vergangener Handwerkskunst und regt aktuelle Wohnfantasien an. (Foto: Michelle Huwiler)

 

Die Vision liegt nun auf dem Tisch und schafft die Motivation, den grossen Stapel Arbeit anzupacken, der auf uns wartet. Es bleibt knapp ein Monat bis zur Einreichung der Unterlagen. Ein ehrgeiziger Zeitplan! Neben einem Nutzungs- und Sanierungskonzept wird auch ein Angebot für den Kaufpreis der Liegenschaft, ein Angebot für den jährlich anfallenden Baurechtzins sowie die Finanzierungsbestätigung einer Bank verlangt. In den nächsten Tagen läuft es rund im Chat. Zunächst steht das Glück auf unserer Seite: Wir finden einen Architekten, der viel Erfahrung mitbringt betreffend Umbau denkmalgeschützter Bauten. Er ist bereit, in der knappen Zeit mit uns eine Eingabe auszuarbeiten. Wir erhalten positive Signale von der Bank, mit der die ältesten Mitglieder unserer Gruppe bereits für die Finanzierung ihres jetzigen Hauses zusammengearbeitet haben. Aus dem FAQ, das die Stadtverwaltung allen Interessenten zuschickt, geht hervor, dass es kein Ausschlusskriterium ist, wenn wir unsere Wohnbaugenossenschaft noch nicht gegründet und im Handelsregister eingetragen haben. Diese Pendenz können wir momentan also getrost zur Seite legen. Plötzlich scheint das Unerreichbare ein Stück näher zu rücken. Ich bin überrascht und euphorisiert.

Reality-Check

Die erste Ernüchterung tritt ein, als wir die Entwürfe des Architekten erhalten. Wir finden uns in diesen Plänen nicht wieder und haben den Eindruck, dass der Entwurf zwar auf die Bedürfnisse des historischen Gebäudes eingeht, nicht aber auf unsere Bedürfnisse als Bewohner. Die Kostenberechnung enthält Zahlen, die jenseits von unseren Möglichkeiten liegen. Die Umbaukosten ergeben zusammen mit dem Baurechtzins Mieten, die für uns nicht tragbar und für diese Lage unverhältnismässig teuer sind. Zwei Wochen vor Abgabe wollen wir unsere Rückmeldungen koordinieren und treffen uns zur Sitzung.

Das Treffen beginnt mit einem Paukenschlag. Die Senior*innen teilen uns mit, dass sie aus dem Projekt aussteigen. Schweren Herzens mussten sie sich eingestehen, dass die periphere Lage ihren Bedürfnissen im Hinblick auf das Älterwerden zuwiderläuft. Es fliessen auf beiden Seiten Tränen der Enttäuschung. Ich merke, wie sehr ich mich inzwischen mit dem halbstündigen Veloweg in die Stadt angefreundet habe und wie plastisch ich mir das Zusammensitzen in unserem Garten schon ausgemalt habe. Es schmerzt, das Bild wieder loszulassen. Über das weitere Vorgehen haben die Aussteigenden sich bereits Gedanken gemacht und schlagen vor, uns für die Eingabe weiterhin zu unterstützen. «Wir hoffen aber heimlich», ergänzen sie verschmitzt, «dass ihr eine Absage erhält. So bleibt die Chance bestehen, dass wir zusammen ein Wohnprojekt an einer besser erschlossenen Lage realisieren können.»

Mit dem Ausstieg der Hausbesitzer schwindet die Aussicht auf die Finanzierungsbestätigung ihrer Bank. Auch unser Konzept «Mehrgenerationen-Wohnen“ ist nicht mehr haltbar. Es steht die Frage im Raum, ob wir aufgeben sollen. Aber dafür sind wir schon zu weit gekommen. Zu viel hat sich wie von alleine ergeben, zu ermutigend waren die bisherigen Feedbacks. Das Projekt zu diesem Zeitpunkt hinzuschmeissen, würde bedeuten, bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben. So schnell wollen wir unseren «Palazzo Mazzo» nicht loslassen.

Zu zweit wohnen ist schön, aber in Gemeinschaft mit anderen ist es noch schöner. Die Autorin mit ihrem Lebenspartner. (Foto: Samuel Gäumann)

 

All-in

Die überwältigendste Erfahrung in diesem Prozess ist die gegenseitige Unterstützung. Immer wieder tauchen Hindernisse auf, die jemand aus unserer Gruppe als ausweglos einschätzt. Prompt übernimmt eine andere Person und findet einen kreativen Lösungsweg. So geht das auch in den letzten zwei Wochen, in denen sich die Ereignisse überschlagen und ich mich zeitweise fühle, als hätte mich jemand in ein kniffliges Planspiel katapultiert. Wir überarbeiten die Pläne mit dem Architekten. Wir minimieren die Kosten und es resultiert ein Entwurf, in dem wir unsere Vision vom Zusammenleben umsetzen können. Die Motivation steigt. Es folgen neue Verhandlungen mit einer anderen Bank, es werden nebst einigen Einwänden positive Signale ausgesendet. Daraufhin nochmaliges Überarbeiten der Finanzen, Zoom-Finanz-Sitzung, Anpassungen bei Kaufpreis und Baurechtzins, weitere Abklärungen mit anderen Banken, letzte Anpassungen in Nutzungs- und Sanierungskonzept, Verfassen eines Eingabedossiers, Verschicken der Unterlagen an Verwandte, telefonische Abklärungen betreffend Erbvorzügen und Darlehen, immer wieder hoffnungsvolle Rückmeldungen auf unser Vorhaben. Werden wir das letzte Level erreichen?

Vier Tage vor Abgabe folgt die grosse Enttäuschung: Trotz mündlicher Zusagen erhalten wir keine Finanzierungsbestätigung der Bank. Zwar haben wir es in den letzten Tagen geschafft, das Eigenkapital durch Weibeln in der Verwandtschaft zu erhöhen. Am Ende bleibt eine Differenz von 175’000 CHF zum Betrag, den die Bank von uns als Eigenkapital erwartet. Genossenschaften, die vergleichbare Projekte realisiert haben, pflichten uns bei, dass es sehr aussichtsreich sei, Beträge in dieser Grössenordnung zusammenzukriegen. Aber wie sollen wir Anteilsscheine verkaufen oder verbindliche Zusagen für Darlehen einfordern, solange unser Projekt und unsere Rechtsform rein fiktiv sind und unser Projekt hauptsächlich aus Absichtserklärungen besteht? Es wird uns zum Verhängnis, dass wir noch keine Wohnbaugenossenschaft gegründet haben und nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Es ist enttäuschend, die Bestätigung zu erhalten, dass am Ende das Geld eben doch mehr zählt als die überzeugende Idee.

Gebodigt

Wir legen unsere Bemühungen in der Eingabe offen und reichen die Unterlagen am 24. Oktober ein, ohne das entscheidende Dokument und ohne grosse Hoffnungen. Immerhin soll unser Dossier gelesen und die grosse Arbeit mit etwas Aufmerksamkeit gewürdigt werden. In den zwei Monaten, in denen wir auf den Bescheid warten, haben wir ausreichend Zeit, Bilanz zu ziehen: Das Projekt hat mich eine Woche Ferien, einige schlaflose Nächte und 412 CHF für die Honorare des Architekten und Fotografen gekostet.

Ich bereue es nicht. Erfahrung eignen wir uns beim Machen an, nicht beim Träumen. Zum Hauptgewinn zähle ich die Gruppe Menschen, mit der ein intensiver Austausch möglich ist und die Zusammenarbeit zu jeder Zeit Spass gemacht hat. Wir haben neue Kontakte geknüpft und bestehende intensiviert. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir wohnen möchten, hat mich und meinen Partner nähergebracht. Ausserdem haben wir in kürzester Zeit enorm viel gelernt und uns Wissen angeeignet über genossenschaftlichen Wohnbau, die Finanzierungsmodelle von Banken und die Zusammenarbeit mit Architekten. Wir haben erfahren, dass ein sorgfältiges Dossier eine Überzeugungskraft hat und wir bei der Realisierung unserer Wohnträume auf vielfältigste Unterstützung in unserem Umfeld zählen können.

Für das denkmalgeschützte Bauernhaus in Matzenried hat es nicht gereicht. Im Absagebrief vom 17. Dezember 2021 erhalten wir Gewissheit. Immobilien Stadt Bern würdigt unser Dossier mit netten Worten und wünscht uns, «dass die Gemeinschaft Palazzo Mazzo an einem anderen Ort ein geeignetes Objekt zur Realisierung ihres Wohnprojektes finden wird.» Ein Wunsch, den auch ich weiterhin hege. Dank dem missglückten Versuch ist er nun weniger utopisch als auch schon.