Hinter der Tramendstation Fischermätteli, dort wo die Weissensteinstrasse ihre kleinsten Nummern hat, steht das letzthin in die Medien geratene «Schmiedhaus», in dem vom Sozialamt unterstützte Dropouts leben. Daneben betreibt der Verein «wohnenbern» die WG Holligen, ein Projekt für teilbetreutes Wohnen. Und ein Haus weiter steht der dreistöckige Block, in dem das Projekt «Albatros» – getragen von der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Region Bern (AKiB) – betreutes Wohnen für Drogenkonsumierende (BWD) anbietet.
Gestern Abend hat das BWD «Albatros» im Rahmen einer Jubiläumsfeier mit «Appetizern» für Leib und Ohr sein zwanzigjähriges Bestehen gefeiert. Journal B-Mitarbeiter Christof Berger hat dabei als ehrenamtlicher Projektleiter in einem persönlich gehaltenen Statement nachdrücklich auf die Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements als Motor für die staatliche Drogenpolitik hingewiesen.
Das Phänomen der Zweit- und Drittgeneration-Junkies
«Betreutes Wohnen heisst, dass ein Team sieben Tage die Woche eine stabile Hausstruktur garantiert», sagt Betriebsleiterin Uli Paldan.
«Ich begegne ab und zu jungen Erwachsenen und werde dabei mit dem Verhalten von Pubertierenden konfrontiert.»
Uli Paldan
Sie kam seinerzeit als Theologiestudentin von Heidelberg nach Basel, stieg nach dem Staatsexamen im dortigen «Gassenzimmer» in die praktische Drogenarbeit ein und bildete sich darin seither kontinuierlich weiter. Seit sechzehn Jahren ist sie bei «Albatros», heute leitet sie – «bei flachen Hierarchien», wie sie betont – das Team. Es besteht mit ihr aus acht Fachleuten, die sich in gut 500 Stellenprozente teilen (dazu kommen eine Reinigungsfachkraft und für Stellvertretungen ein «SpringerInnen-Pool»). Dieses Team betreut elf HausbewohnerInnen im Alter von Anfang zwanzig bis knapp sechzig, davon ungefähr zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen.
Wer hier nach einem Vorstellungsgespräch und einer Probezeit einzieht, ist über achtzehn und chronisch abhängig von illegalen Drogen. «Die meisten sind heute gleichzeitig von mehreren Suchtmitteln abhängig: in unterschiedlicher Kombination von Heroin, Kokain, Crack, Benzodiazepinen, je nach Angebot, finanziellen Möglichkeiten und Vorlieben.»
Nach Paldans Erfahrung hat sich die Klientel in den letzten zwanzig Jahren verändert. «Zunehmend gibt es junge Erwachsene, die bereits in zweiter oder dritter Generation Drogenkonsumierende sind. Drogenkonsum hat viel damit zu tun, wie und in welchem Umfeld jemand aufwächst. Kinder übernehmen die Grundstrukturen, in die sie hineinwachsen. Konsumieren die Eltern Drogen, beginnen auch die Kinder nicht selten früh mit dem Konsum von harten Drogen, was gewöhnlich zu einem Entwicklungsstopp führt. Ich begegne ab und zu zwanzig- bis fünfundzwanzigjährigen Personen und werde dabei mit dem Verhalten von Pubertierenden konfrontiert.»
Späteinsteigende in den Suchtmittelkonsum haben aufgrund ihrer Lebenserfahrung bessere Chancen, nach der Stabilisierung wieder selbständig wohnen zu können. Für Früheinsteigende ist «das Erwerbsstreben» nicht selten so fremd wie eine Fremdsprache, die man nicht kennt. «Es gibt Menschen, für die ein Überleben ohne die Krücke Droge wohl auch langfristig nicht möglich ist.»
Ressourcenorientiert, aber mit klaren Regeln
«Albatros», sagt Uli Paldan, «ist eine Wohnschule. Hier kann man lernen, was man zum Wohnen braucht, damit man sich selber versorgen kann.» Das Haus bietet neben den elf möblierten Einzelzimmern auf drei Stockwerken eine Gemeinschaftsküche und einen Essraum, zwei TV-Räume, einen Gruppen- und Spielraum, dazu auf jedem Stock WCs, Duschen und Putzräume und einen Garten.
«Albatros ist niederschwellig. Aber wir wollen wissen: ‘Was, wo, wie und wieviel konsumierst du?’»
Uli Paldan
«Albatros» ist kein abstinenzorientiertes, sondern ein ausgesprochen niederschwelliges Angebot. Illegale Drogen dürfen konsumiert werden, einerseits jene Substanzen, die die BewohnerInnen in ihren «Substitutionsprogrammen» beziehen (Heroin, Morphin, Methadon oder Sevre-long, ein neues Morphin-Präparat), andererseits ist «Beikonsum» erlaubt, also Konsum von Substanzen, die man sich auf der Gasse organisiert. «Wir wollen aber, dass unter hygienischen Bedingungen konsumiert wird. Und wir wollen wissen: Was, wo, wie und wieviel konsumierst du?»
Der Alltag im Haus ist mit Koch- und Putzplänen organisiert. «Teammitglieder haben eine Vorbildfunktion: Was wir verlangen, das leben wir ein Stück weit auch vor.» Auf Februar 2014 hat man das vorher stark defizitorientierte Hauskonzept durch ein stärker ressourcenorientiertes ersetzt. Dieser Fokuswechsel von den Schwächen auf die Stärken der KlientInnen ist gekoppelt mit einem Anreizsystem, das zum Mitdenken und Mitmachen in der Wohn- und Hausgemeinschaft animieren soll. Im Haus gilt ein Punktesystem. Eine bestimmte Punktezahl berechtigt zum Bezug von Produkten aus dem «Albatros-Kiosk»: Raucherwaren, Toilettenartikel, Kinoeintritte.
Umgekehrt gibt es einen klaren Tarif bei Regelverletzungen. Moralisiert wird nicht, aber es gilt die Selbstverantwortung. Wer über die Stränge schlägt, riskiert ein «Hausverbot» von 10 bis 22 Uhr, in gröberen Fällen auch über Nacht. Und Gewalt oder fortgesetzter Deal im Haus sind Ausschlussgründe.
Sisyphusarbeit ohne exakte Erfolgskontrolle
Was die Aufenthaltsdauer betrifft, gibt es alles: Leute, die noch in der Probezeit wieder gehen und solche, die bald einmal ausgeschlossen werden. Umgekehrt gilt die früher übliche Befristung der Aufenthalte auf 18 bis 24 Monate nicht mehr. Paldan: «Die Stabilisierung jedes Menschen dauert unterschiedlich lang. Es gibt ab und zu Langzeitbewohner, die wohl kaum noch einmal selbständig werden wohnen können, insbesondere Drogenkonsumierende ab ungefähr 45.» Im Normalfall aber wird nach der Phase der Stabilisierung die Rückkehr in begleitetes oder selbständiges Wohnen angestrebt. Nicht die kleinste Schwierigkeit ist dabei das Finden von bezahlbarem Wohnraum.
«Die Gesellschaft macht es jungen Erwachsenen heute nicht einfacher als vor zwanzig Jahren, mit ihrem Leben klar zu kommen.»
Uli Paldan
Eine Erfolgskontrolle gibt es nicht: Es gibt Leute, die nach dem Austritt wieder abstürzen; welche, die wegziehen; welche, die zu Albatros den Kontakt abbrechen, um den unbelasteten Neustart zu versuchen. Aber einiges weiss man hier doch: Zum Beispiel weiss man von ehemaligen «Albatros»-BewohnerInnen, die heute selbständig leben, in Einzelfällen «clean», ansonsten trotz kontrolliertem Konsum integriert. Und letzthin hat sich einer telefonisch angemeldet, er komme mit seinem Auto vorbei, weil er dem Team, das ihm wieder auf die Beine geholfen habe, seine Braut vorstellen möchte.
Die Zimmerauslastung im Projekt «Albatros» liegt konstant bei etwa 90 Prozent, und das wird so bleiben. «Grundsätzlich», sagt Uli Paldan, «hat sich die Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren nicht verändert: Sie produziert immer wieder neuen Druck, der es jungen Erwachsenen nicht unbedingt einfacher macht, mit ihrem Leben hier klar zu kommen.»