Rund 4‘000 Wohnungen sind in den vergangenen zehn Jahren in der Stadt Bern neu gebaut worden. 2023 waren es laut Wahlprospekt des Stadtpräsidenten 641 Einheiten. Insgesamt gibt es in der Stadt Bern heute rund 80‘000 Wohnungen.
Gleichzeitig ist die Bevölkerungszahl gewachsen. Ende Juli 2023 wohnten in Bern etwas mehr als 146‘000 Menschen. Das sind so viele wie seit 1975 nicht mehr. Die Stadt wächst, die Leute beanspruchen im Durchschnitt mehr Wohnfläche als früher, und damit besteht die Wohnungsknappheit trotz Neubauten fort. Wie gehen die Parteien, die im Hinblick auf die Wahlen vom 24. November um Sitze in Stadtrat und Gemeinderat buhlen, damit um?
Schweigen und Schlagworte
In der vergangenen Woche sind den Stimmberechtigten die Wahlprospekte der Parteien zugestellt worden. Dass darauf keine detaillierten Vorschläge zur Lösung des Wohnungsproblems enthalten sind, ist verständlich, denn der Platz auf den Flugblättern ist knapp. Trotzdem ist erstaunlich, dass das Wort «Wohnen» bei einigen Parteien nicht einmal angesprochen wird.
Andere begnügen sich mit Schlagworten: So verlangt die EVP (Liste 13) «genügend bezahlbaren Wohnraum – auch für Familien», verliert aber kein Wort darüber, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Auch die SVP (Liste 18) fordert einfach «bezahlbaren Wohnraum für alle» und bezeichnet das als «klare Vorstellung für die Zukunft». Der Mitte (Liste 29) ist das Thema Wohnen wenigstens einen ganzen Satz wert: «Wir wollen ein Wohnangebot, welches allen Bedürfnissen gerecht wird, und darum fordern wir bei neuen Überbauungen eine gleichmässige Verteilung von Miet-, Genossenschafts- und Eigentumswohnungen».
Ebenso knapp sind die Ausführungen in den Wahlprospekten von GFL (Liste 15) und Grünem Bündnis (Liste 20). Diese sind aber begleitet von einem QR-Code, mit welchem auf das detaillierte Wahlprogramm der beiden Parteien verlinkt wird. Dort werden die Forderungen zur Verbesserung der Wohnsituation in mehreren Punkten erläutert.
Förderung des privaten Wohnungsbaus
Für die FdP (Liste 12) ist die Lösung des Problems klar: «Bern braucht eine Wohnbaupolitik für alle Bevölkerungsschichten und vor allem mehr Wohnraum für den Mittelstand. Mieterinnen und Mieter und auch jene, die Eigentum suchen, sollen dank einfacherem Bauen ein Daheim in Bern nach ihren individuellen Vorstellungen finden». Auch ihre Jungpartei (Liste 17) will durch fleissiges Bauen ein höheres Angebot an Wohnungen erreichen. Deshalb setzt sie sich dafür ein, «dass von Privaten und damit nicht auf Risiko der Steuerzahlenden so rasch und so viel wie möglich neuer Wohnraum gebaut werden kann». Über den Preis dieses zusätzlichen Wohnraums ist an beiden Orten nichts zu lesen.
Die Parteien, welche die bürgerliche Liste bilden, äussern sich teils überhaupt nicht zur Wohnbaupolitik, teils wollen sie den Wohnungsbau den Privaten überlassen.
Für die Jungfreisinnigen ist klar, wer schuld an der jetzigen Wohnungsknappheit ist: «Die Stadt hat für mehrere 100 Millionen Wohnungen gekauft oder erstellen lassen. Diese Wohnungen vermietet sie günstig an sehr wenige glückliche Stadtbernerinnen, die den im roten Parteibüchlein vorgegebenen Lebensstil haben», heisst es in ihrem Wahlprospekt. Allerdings scheinen sie übersehen zu haben, dass die Stadt Bern gerade einmal 2‘500 Wohnungen besitzt, also rund 3 Prozent des Wohnungsbestandes. Könnte es allenfalls sein, dass die Ursache der Wohnungsnot und der hohen Mietpreise nicht bei den 3% städtischen Wohnungen liegt, sondern bei den 97% Wohnungen in Privatbesitz?
Da scheint die GLP (Liste 27) doch näher an der Realität zu sein, denn laut ihrem Wahlprospekt «braucht es vor allem die Privaten – sie besitzen den Boden in der Stadt Bern». Dementsprechend will sie diesen privaten Grundeigentümer*innen helfen: Sie setzt sich «für eine Revision der Bauordnung ein, damit mehr Wohnraum geschaffen wird». Warum dieser privat neu geschaffene Wohnraum dann billiger sein soll als der bisher von den gleichen Privaten gebaute Wohnraum, erfahren wir allerdings auch bei der GLP nicht.
Wohnraum der Spekulation entziehen
Etwas konkreter klingt es bei der GFL (Liste 15). Sie verlangt laut Wahlprospekt «mehr preisgünstiges Wohnen für Jung und Alt». Zu diesem Zweck sollen in den nächsten 4 Jahren 3000 neue Wohnungen gebaut, gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften gefördert und sowohl familien- als auch altersgerechtes Wohnen ermöglicht werden. Im RGM-Wahlprospekt für die Gemeinderatswahlen wird präzisiert, wo diese Wohnungen entstehen sollen, nämlich auf dem Gaswerkareal, auf dem Viererfeld und in weiteren Arealüberbauungen. Ausserdem soll die Stadt Bern eine Mietzinskontrolle bei Sanierungen einführen.
Das Grüne Bündnis (Liste 20) hält die immer höheren Mietpreise für «eines der grössten Probleme für die Menschen in Bern». Sie setzt sich daher für einen möglichst hohen Anteil an günstigem Wohnraum bei städtischen Bauprojekten und «für die konsequente Förderung von Wohnbaugenossenschaften» ein. Die Junge Alternative (Liste 21) verlangt ausserdem «eine effektive Mietzinskontrolle und 100% gemeinnützige Wohnungen». Auch die SP (Liste 22) sieht die Schaffung von bezahlbarem und gemeinnützigem Wohnraum als Priorität und will mehr Boden der Spekulation entziehen. Sie trifft sich darin mit der Alternativen Linken (Liste 16), welche «die Vergesellschaftung von Privateigentum, etwa durch den Kauf von Boden durch die Stadt Bern» fordert.
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Im Wahlprospekt der Partei der Arbeit (Liste 25) ist der Kampf gegen die Wohnungsnot ein programmatischer Schwerpunkt. «Um der Armut, den prekären Lebenssituationen und der Verdrängung im Stadtraum etwas entgegenzusetzen, fordern wir konsequent mehr städtischen Wohnungsbau», heisst es da. Die Stadt soll bestehende Liegenschaften erwerben und so diesen Wohnraum dauerhaft der Spekulation zu entziehen. Ausserdem soll bezahlbarer Wohnraum geschützt werden, indem für Sanierungen und Umbauten eine Bewilligungspflicht eingeführt wird.
Unvereinbare Positionen
Beim Durchblättern der Wahlprospekte zeigt sich, dass die parteipolitische Spaltung zwischen rechten und rot-grünen Parteien gerade im Bereich der Wohnpolitik deutlich zu Tage tritt. Während auf der rechtsbürgerlichen Seite vor allem gefordert wird, das Bauen den Privaten zu überlassen und ihnen durch gelockerte Bauvorschriften möglichst freie Hand zu lassen, sucht die Linke den genau gegenteiligen Weg: Es soll möglichst viel Grundeigentum in die Hände der Stadt Bern und in das Eigentum von gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften verschoben werden, um diese Wohnungen der Spekulation zu entziehen. Ausserdem soll eine Mietzinskontrolle dafür sorgen, dass im Falle von Sanierungen und Umbauten keine überhöhten Mieten verlangt werden können.
Wenn also die Stadt ihren mickrigen Anteil von 3 Prozent am hiesigen Wohnungsbestand erhöhen und gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften fördern will, muss sie das private Wohneigentum zurückdrängen.
Beides zusammen geht offensichtlich nicht. Entweder die Stadt überlässt es den privaten Eigentümer*innen, was und wo sie bauen wollen und wie hoch die Mieten sind, oder aber sie sorgt über eine klare Regulierung und die Kontrolle der Mietzinsen dafür, dass der Wohnraum in der Stadt auch für finanziell benachteiligte Personen und für Familien bezahlbar bleibt. Auch ist der bebaubare Grund in der Stadt Bern eng begrenzt. Wenn also die Stadt ihren mickrigen Anteil von 3 Prozent am hiesigen Wohnungsbestand erhöhen und gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften fördern will, muss sie das private Wohneigentum zurückdrängen. Es gibt nicht beides gleichzeitig.
Zumindest in den Wahlprospekten sind die Postionen klar. Die Parteien, welche die bürgerliche Liste bilden, äussern sich teils überhaupt nicht zur Wohnbaupolitik, teils wollen sie den Wohnungsbau den Privaten überlassen. Die RotGrünMitte-Parteien stellen eine aktive Wohnungspolitik in Aussicht, die durch staatliche Massnahmen dafür sorgen soll, dass in allen Quartieren bezahlbarer und günstiger Wohnraum erhalten bleibt und auch neu entsteht. Es geht daher bei den Wahlen vom 24. November keineswegs nur um etwas «mehr Farbe im Gemeinderat», sondern es geht auch um Grundsatzfragen einer städtischen Wohnpolitik.