Wohnen im Hochhaus

von Thomas Göttin 22. Dezember 2021

Winterserie «So wohnt Bern» – Jürg und Erika Küffer wohnen seit 46 Jahren in Wittigkofen an der Jupiterstrasse 3 im 17. Stock. Thomas Göttin hat sie besucht.

93 Klingelknöpfe verteilt auf 23 Stockwerke, dann lange Sekunden im Lift. Schliesslich es ist das 17. Stockwerk, wo mich Jürg und Erika Küffer bereits erwarten. Zuerst geniessen wir die Aussicht über die Stadt Richtung Westen und nach Süden mit dem Alpenpanorama. «Als wir uns für eine Wohnung entschieden, haben wir uns gesagt, je höher desto besser. Der erste Eindruck war das Gefühl von Weite, Freiheit und viel Licht. Auch im Winter bei schlechtem Wetter», sagt Jürg Küffer.

Er arbeitete bei der SBB an verschiedenen Orten in der Schweiz. Zurück in Bern finden Jürg und Erika Küffer 1970 auf ein Chiffreinserat eine Dreizimmerwohnung im Elfenauquartier, in dem sie beide aufgewachsen sind. Sie entscheiden sich aber bald «ab Plan» für die Wohnung in Wittigkofen und können von ihrer Wohnung aus täglich beobachten, wie das Hochhaus wächst. Im Juli 1975 ziehen sie ein.

Wohn- oder Stadt-Vision?

War es ein Entscheid für eine bestimmte Vision des Wohnens? Erika muss nicht lange überlegen: «Es war eine grössere Wohnung für uns mit den zwei Buben, und als Eigentum finanzierbar.» Im Haus Nr. 3, als Baugenossenschaft für Stockwerkeigentümer konzipiert, hatte der Schweizerische Eisenbahnerverband SEV, die Gewerkschaft des SBB-Personals, 10 Wohnungen erworben. Das benachbarte Hochhaus Nr. 1 war noch jahrelang eine Baugrube, bis die Finanzierung zustande kam. Auch ein Quartier- und Einkaufszentrum fehlte zu Beginn. «Wenn es eine Vision war, dann der Architekten und vor allem der Stadt. Die Stadt ist gewachsen, und für sie bedeutete das neuer Wohnraum.»

Später regte sich gar Widerstand gegen den Ausbau, etwa weil die «drei Eichen» weichen mussten. Doch bestand auch ein Sachzwang, da die Finanzierung auf einer grossen Anzahl Wohnungen basierte. Die Einstellhalle für Autos war so konzipiert, dass sie alle Hoch- und Kettenhäuser unterirdisch verbindet, erzählt Jürg: «Früher konnte ich mit dem Töffli von uns ganz im Westen bis zur Osteinfahrt unterirdisch frei fahren.» Heute haben die einzelnen Häuser überall separate Tore in der Einstellhalle.

Gen Himmel – das Hochhaus an der Jupiterstrasse 3. (Foto: Thomas Göttin)

Alltag

Der Kontakt zu den andern Bewohner*innen «hat sich so ergeben, vor allem durch die Kinder», erklärt Erika Küffer. Sie ist stärker involviert und kennt den Hausklatsch, die Mütter schauen zwischendurch gegenseitig zu den Kindern. «Weil wir zwei Aufzüge haben, einen für die geraden und einen für die ungeraden Stockwerke, haben wir mit den Nachbarn der ungeraden Stockwerke häufiger zufälligen Kontakt. Auch die Höhe spielt eine Rolle, je weiter oben, desto seltener sind die zufälligen Kontakte.» Jürg arbeitet zuerst Schicht, und weil das Hochhaus Nr. 3 ganz im Westen «mit dem Rücken zum Quartier» steht, bekommt er weniger mit. Es ist die Zeit, in der fast alles «Normalfamilien» mit Eltern zwischen 30 und 40 und zwei Kindern einziehen.

Mittlerweile «ist das ganze Quartier ausgewechselt», sagt Jürg. «Eine Rolle spielt dabei auch die französische Schule», ergänzt Erika, «und auch Diplomaten sind dazu gekommen». In ihrem Haus habe es wenig Probleme gegeben, einzig die zahlreichen Umbauten stören zwischendurch. Wenn in einer Wohnung Wände herausgerissen werden, so hört man es über viele Stockwerke. Für etwas Unruhe sorgen allenfalls Mieterwechsel, etwa dann wenn die Kinder der früheren Wohnungsbesitzer nicht selbst einziehen, sondern die Wohnung fremd verkaufen.

Erika und Jürg Küffer (Foto: Thomas Göttin)

Quartierleben

Dank dem Engagement der Bewohner*innen sind das Einkaufszentrum sowie die Kulturarena Wittigkofen entstanden. Bei der Kulturarena setzten die Initiant*innen Juan und Nelly Puigventos diesen Sommer nach 40 Jahren einen Schlusspunkt, auch weil die Kirchgemeinde ihre Lokalitäten, zum Beispiel den Saal, nicht mehr so kostengünstig zur Verfügung stellte. «Das Engagement hat generell abgenommen», meint Jürg. Er war 10 Jahre lang Präsident des Quartiervereins: «Ich habe so viel von der Siedlung erhalten, da wollte ich durch mein Engagement etwas zurückgeben.»

Der Quartierverein bestehe weiter, doch der Bau-Ausschuss, den jedes Hochhaus besitzt, bestehe hier bei 93 Parteien nur noch aus 2 Mitgliedern. Allerdings: die Quartierzeitung «Jupi», die auf dem Beistelltisch liegt, ist frisch erschienen. Und auf dem Fussballplatz Murifeld, vom Balkon aus gut sichtbar, spielen Esperia und der basisdemokratische Ostbärn FC – «Ah, die mit dem weissen T-Shirt», wirft Jürg ein – mit Nachwuchs auch aus Wittigkofen. Jürg und Erika Küffer mischen sich nicht mehr ein. Sie setzen sich für ein Foto gemeinsam auf das Sofa. «Wir haben es keinen Tag bereut, hier zu wohnen, es hat immer gestimmt. Mittlerweise geniessen wir selbst den Balkon, der uns früher eher zu klein war. Und wir lieben diesen Raum mit Aussicht auf Stadt und Alpen.»

Im Lift meine ich bereits im Erdgeschoss angekommen zu sein, als sich die Tür öffnet. Eine elegante ältere Dame steigt zu und klärt mich auf, dass wir erst im 13. Stockwerk sind. «Je vous ai pris pour le monsieur qui habite en face», entschuldigt sie sich. Und endlich im Erdgeschoss fügt sie verschmitzt hinzu:  «Je vais souper au Schweizerhof, une fois par année.»