Wird der «Bund» zum antipsychiatrischen Kampfblatt?

von Fredi Lerch 29. Mai 2013

Mausert sich der «Bund» zunehmend zur Speerspitze antipsychiatrischer Kritik, nachdem er schon letztes Jahr ein bisschen sozial auffällig geworden ist, als er versucht hat, einen ziemlich mächtigen Strik zu zerreissen?

Die Tageszeitung «Der Bund», muss man wissen, war nicht immer die Berner Ausgabe des «Tages-Anzeigers» mit einer tapferen redaktionellen Aussenstelle am Dammweg. Früher einmal war sie das Zentralorgan der Freisinnigen Partei der Schweiz und geradezu furchterregend staatstragend; er war das Sprachrohr der bürgerlichen Bundespolitik, das «offiziöse Regierungsblatt», wie C. A. Loosli einmal gespottet hat, nichts weniger als die NZZ von Bern, wobei jeder rechte Berner überzeugt war: Mindestens! (Bernerinnen hat es damals noch keine gegeben.)

Und nun das! Nachdem der «Bund» schon letztes Jahr ein bisschen sozial auffällig geworden ist, als er versucht hat, einen ziemlich mächtigen Strik zu zerreissen, mausert er sich nun zunehmend zur Speerspitze antipsychiatrischer Kritik.

Am 17. April 2013 veröffentlichte diese Zeitung einen Gastkommentar von Wulf Rössler, Professor für Klinische Psychiatrie in Zürich, zum Problem, dass die Diagnosebibel der Branche, das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» dicker und dicker wird: Immer noch mehr Menschen – so referiert er den US-amerikanischen Psychiater Allen Frances – werden für krank erklärt und so dem wuchernden Absatzmarkt der Pharmaindustrie zugeführt.

«Immer noch mehr Menschen werden für krank erklärt und so dem wuchernden Absatzmarkt der Pharmaindustrie zugeführt.»

Allen Frances, Psychiater

Dabei seien «psychiatrische Diagnosen», stellt Rösler fest, den medizinischen nur «nachgebildet». Symptome würden als Fehlfunktion eines Organs – «in der Psychiatrie des Gehirns» – gedeutet, obschon bei den «meisten psychiatrischen Diagnosen […] keine erkennbare Fehlfunktion des Gehirns» vorliege. Darum seien solche Diagnosen nicht eigentlich medizinische Befunde, sondern «Konventionen, auf die sich Fachleute aus pragmatischen Gründen geeinigt haben und die aus ebensolchen Gründen auch wieder geändert werden können.»

Hoppla. Psychiatrische Diagnosen tun also nur so, als ob sie medizinische Diagnosen wären. Eigentlich sind sie standespolitische Übereinkünfte, wann sozial auffällig werdende Menschen als «krank» zu betrachten und mit dem Einsatz von chemischen Substanzen und allenfalls einer Internierung zu «normalisieren» seien. Wulf Rösslers Psychiatrie trägt einen Januskopf: Ihre Diagnosen haben mit Medizin nicht mehr zu tun als mit Disziplinierung, und ein Klinikaufenthalt dient nicht mehr der Therapie als der administrativen Versorgung – die es in der Schweiz angeblich seit 1981 aus menschenrechtlichen Gründen nicht mehr gibt.

Zugunsten des «Bunds» habe ich fairerweise auf einen einmaligen Ausrutscher geschlossen und Rösslers Artikel ins Mäppchen «Heftige antipsychiatrische Polemiken» gelegt.

Und nun das! Der «Bund» tut’s wieder! Am 18. Mai hat er ein grosses Interview mit dem Psychiater Reinhard Haller veröffentlicht aus Anlass von dessen neuem Buch «Die Narzissmusfalle». Narzissmus sei ein häufiges Phänomen in den Chefetagen der Wirtschaft, sagt Haller, und werde «in Fachkreisen» als «dissoziative Persönlichkeitsstörung» angesprochen. Aha, dachte ich, eine psychiatrische Diagnose, von der ich dank Rössler jetzt weiss, was sie taugt.
Und dann kam’s: «Es gibt erstaunliche Parallelen etwa zwischen Wallstreet-Bankern und kriminellen Psychopathen, die aufgrund schwerer Verbrechen hinter Gittern sitzen. Manchmal entscheiden bloss die Umstände darüber, ob Menschen ihre psychopathischen Neigungen im Chefsessel oder in der Kriminalität ausleben. […] Die Chefs grosser Unternehmen sind viel näher an kriminellem Verhalten, als wir wahrhaben wollen.»

«Es gibt erstaunliche Parallelen etwa zwischen Wallstreet-Bankern und kriminellen Psychopathen»

Reinhard Haller, Psychiater

Hoppla. Was will mir der «Bund» damit sagen? Aha! Weil psychiatrische Diagnosen sowieso wenig taugen, wenden sie die Fachleute nach Gesichtspunkten (standes)politischer Opportunität an. Konkret: Durchschnittlich machtlose, sozial auffällig gewordene Menschen werden immer häufiger krankgeredet. Dagegen mächtige Menschen – Chefs grosser Unternehmen zum Beispiel –, die zwar als «kriminelle Psychopathen» ticken und lediglich wegen der «Umstände» im Moment keine «Verbrechen» begehen, sind nicht «krank», sondern «Manager», die mit Boni «geadelt» werden (Haller). Kurzum: Der einen die mataphorische Diagnose, dem anderen den handfesten Bonus.

Starker Tobak. Mein erster Gedanke: Damit hat die «Bund»-Redaktionsaussenstelle den Vogel abgeschlossen. Der zweite: Zum Glück würden die Leute dort sowas nie tun. Und der dritte: Der «Bund» macht Kampagnenjournalismus: Offensichtlich arbeitet er subversiv an der Umwertung wichtiger psychiatrischer und politischer Parameter.

Unterdessen erwarte ich täglich den innenpolitischen Leitkommentar, der die Pointe der Kampagne bringen wird. Es kann ja nicht anders sein, als dass der «Bund» verdienstvollerweise die tabuisierte, hauptsächliche Schwäche der Abzocker- und der 1:12-Initiative gegen die Boni-Exzesse der Manager im Visier hat: Versuchen nicht beide Initiativen vis-à-vis von «Psychopathen» (Haller) symbolische juristische Leitplanken der Kriminalisierung aufzustellen? Muss man vor dem Hintergrund von Rösslers und Hallers fachkompetenten Ausführungen aber nicht einsehen: Es kann hier nicht um Kriminalisierung, es muss um Pathologisierung gehen?

«Im Namen unserer staatsbürgerlichen Verantwortung», wird uns der «Bund» möglicherweise schon nächsten Samstag leitartikeln, «appellieren wir an die Zivilcourage der massgeblichen psychiatrischen Standespolitiker (gibt es dort eine Frau?): Nehmt eure Verantwortung wahr! Erweitert euren Katalog der Diagnosen, der ja medizinisch sowieso nicht viel taugt, auf jene Menschen, die in bedeutend grösserem Mass sozial auffällig sind als die durchschnittliche Klientel unserer Kliniken. Wer immer weitere Bevölkerungskreise chronischkrank redet, um sie für den Konzerngewinn mit chemischen Substanzen verseuchen zu können, darf nicht als ‘normal’ gelten! Wer trotz Firmengewinnen Personal entlässt und ganze Abteilungen schliesst, bloss damit der Börsenkurs steigt, braucht ein schonendes, aber bestimmtes Anhalten! Wer trotz Millionenboni seine Existenzängste in derart eklatanter Weise nicht unter Kontrolle hat, benötigt den Schutz einer kompetenten Institution! Klinikdirektoren (-direktorinnen sind mitgemeint): Öffnet eure psychiatrischen Kompetenzzentren dem fremdgefährdenden Krankengut aus den Chefetagen unserer Finanzindustrie!»

Wie sonst als so kann die «Bund»-Kampagne verstanden sein? Ich frage mich bloss: Ist solche Publizistik noch staatstragend? Quo vadis, «Bund»?