Seit 9 Jahren geplant, 670 Millionen Franken teuer, 63 Meter hoch, 18 Geschosse, 3254 Räume, 2 Rolltreppen, 18 Lifte, 532 Betten, die meisten in Zweierzimmern, Operationssäle. Das ist das neue Anna-Seiler-Haus auf dem Areal des Inselspitals Bern. Das Gebäude ist durch vier oberirdische Passerellen mit anderen Häusern verbunden, etwa dem Kinderspital, und unterirdisch mit weiteren Gebäuden.
Es ersetzt das Bettenhochhaus aus den 1970er-Jahren, das an das Ende seiner Funktionszeit gelangt ist. Das Anna-Seiler-Haus ist ein grosses Gebäude für das grosse Inselspital. Es wurde trotz Corona fristgerecht, im Rahmen des Budgets und in der vereinbarten Qualität gebaut.
Bessere Arbeitsbedingungen für die Pflege
Was bringt das Anna-Seiler-Haus an Neuem? Bernhard Pulver, Verwaltungsratspräsident der Insel Gruppe, betont im Gespräch vier Aspekte:
Das Gebäude entspricht dem Standard Minergie Eco Plus. Das Anna-Seiler-Haus ist in Schichten aufgebaut: Zuunterst, durch Rolltreppen erschlossen, liegen die stark frequentierten Räume, namentlich die Ambulatorien, und das Restaurant. Weiter oben, nun mit Liften erreichbar, kommen die Räume für Operationen und für die stationären Patient*innen.
Die Pflegefachpersonen haben bessere Arbeitsbedingungen, um den Patient*innen gerecht werden zu können. Nicht nur wurde bei der Verteilung der Pausenräume darauf geachtet, dass sie genug Tageslicht erhalten. Die Arbeit wird in Zukunft auch in grösseren Einheiten organisierte: Auf Pflegestationen mit 38 Betten arbeiten rund zehn Pflegefachpersonen am Tag, drei in der Nacht.
Effizienz bedeutet nicht einfach günstig, sondern patientengerechter.
In den alten Gebäuden waren die Stationen kleiner, doch in der Nacht war nur eine Fachperson für alle zuständig. Neu sollen sich Stresssituationen für die einzelne Fachkräfte verringern, da Belastungsspitzen besser ausgeglichen werden können. Zudem erlauben die neuen Räume kürzere Wege und einfachere Abläufe. Man erkannte, dass die Arbeit in grösseren Einheiten besser organisiert werden kann, mit dem Ziel, dass die Pflegenden mehr Zeit am Krankenbett haben. So gelingt es, mit gleich viel Personen die Patient*innen besser zu betreuen. Effizienz bedeutet nicht einfach günstig, sondern patientengerechter.
Im neuen Gebäude gelang es, Herzchirurgie und Kardiologie viel näher zusammenzubringen und die Operationssäle der Herzchirurgie und das Katheterlabor der Kardiologie auf dem gleichen Geschoss anzusiedeln. Nun liegen neu die klassische Chirurgie am Herzen und die Abteilung, die mit bildgebenden Verfahren minimalinvasive Untersuchungen und auch kleinere Eingriffe durch die Blutbahn vornehmen kann, direkt nebeneinander. Das ist international einmalig und eine zumindest räumliche Voraussetzung für eine mögliche Verschmelzung zu einem einzigen Bereich für Krankheiten des Herzens. Der Bereich Herz/Gefäss, so Pulver, sei eine zentrale Stärke des Inselspitals und führend in der Schweiz.
«Die Stimmung bei den gut 10‘000 Mitarbeitenden ist teilweise kritisch», sagt Bernhard Pulver. Vieles komme zusammen: Corona, eine allgemeine Erschöpfung, der Mangel an Fachkräften, besonders in der Pflege, der überall spürbare ökonomische Druck, die grossen Veränderungen wie der Bezug neuer Gebäude und das neue Klinik-Informations- und Steuerungssystem im nächsten Frühjahr. Hinzu komme das Gefühl, zu viel Zeit für administrative Dinge einsetzen zu müssen und sich zu wenig um die Patient*innen kümmern zu können.
Das Grossspital erlebe gerade einen Kulturwandel. Früher sei die Führung in den Kliniken nahezu unantastbar gewesen, ihren Chefinnen und Chefs habe niemand hineingeredet. Die Insel als Expert*innenorganisation im Maxi-Format: Man ist auf die weitgehend unersetzlichen Leistungen der Fachleute angewiesen und nimmt allfällige Mängel in ihrem Führungsverhalten in Kauf.
Dies ändere sich nun. Heute schauten die Vorgesetzten hin und suchten gegebenenfalls Lösungen. Dies führe manchmal zu Abgängen und nicht selten zu Unmut auch auf der Chefetage.
Auf die Frage, ob die schiere Grösse der Insel ein Problemfaktor sein könne, antwortet Pulver: «Die Führung einer so grossen und komplexen Organisation ist an sich schwierig. Ihre Aufteilung erfolgte allerdings um den Preis der Kooperationschancen. Und diese sind gerade in der Medizin riesig.»
So viel zu den Verbesserungen und Vorteilen, die das neue Gebäude mit sich bringen soll. «Aber natürlich gab es auch Schwierigkeiten», räumt Pulver ein. Ein Beispiel: Da die Geschosshöhe des Anna-Seiler-Hauses mit jener des davon getrennten Kinderspitals nicht übereinstimmt, besteht bei der Passerelle zwischen den Häusern eine Kurve mit Rampe, die nur mit einer mechanischen Fahrhilfe für den Bettentransport überwunden werden kann. «Es gilt, in den kommenden zwei Monaten zu schauen, welche baulichen und betrieblichen Probleme zu verbessern sind.»
Was folgt?
Zuerst wird das Frauenspital, das während der Sanierung «seines» Gebäudes im Theodor-Kocher-Haus untergebracht ist, in das dann sanierte und verbesserte Haus zurückziehen. Dann wird das Theodor-Kocher-Haus an der Friedbühlstrasse um 5 Geschosse erhöht. Die Onkologie wird aus dem Bettenhochhaus hierhin verlegt werden.
Die Planung ermöglicht eine gewisse Freiheit dank dem Grundsatz der «Fruchtfolgefläche»: auf dem Areal der Insel besteht stets eine freie Fläche, auf der gebaut werden kann.
Ab etwa 2029 soll das dann leere Bettenhochhaus abgerissen werden. Das freie Areal wird in einen Park umgestaltet. Allerdings nicht auf Dauer. Denn später wird diese Fläche für den nächsten Zyklus der stetigen Gebäudeerneuerung genutzt werden. «In den 2040er Jahren wird das Kinderspital ersetzt werden müssen», erklärt Bernhard Pulver. Es soll voraussichtlich auf dem Parkgelände neu entstehen. Das Gelände böte auch Platz für andere medizinische Bauten, etwa für die Universitären Psychiatrischen Dienste, derzeit an der Bolligenstrasse in der Waldau.
Die Insel Gruppe hat eine Bauplanung bis ins Jahr 2060. Nicht alles ist freilich in Stein gemeisselt. Die Planung ermöglicht eine gewisse Freiheit dank dem Grundsatz der «Fruchtfolgefläche». Der Grundsatz bedeutet, dass auf dem Areal der Insel stets eine freie Fläche besteht, auf der gebaut werden kann.
Wer zahlt?
Die Insel Gruppe ist Bauherrin. Sie plant und finanziert ihre Bauten selbst. «Damit wir das können, müssen wir im Betrieb einen Überschuss erwirtschaften», erklärt Bernhard Pulver. Der normale stationäre Betriebsertrag besteht aus der Fallkostenpauschale mal Anzahl Behandlungen. Zusatzverdienste sind schwierig zu erzielen und eine Mengenausweitung zur Finanzierung von Investitionen und für die Erneuerung der Gebäude gesundheitspolitisch wenig sinnvoll.
Um 2010 hat die Insel Gruppe vom Kanton das Frauenspital übernommen: rechtlich, betrieblich und im neuen Bau von 2002, den das Zürcher Architekturbüro Bétrix und Consolacio erstellt hatte. Bald traten die Baumängel an der Statik und mit Schadstoffen zu Tage, doch für Mängelrügen war es zu spät.
Um das Gebäude sanieren zu können, zog das Frauenspital in das Theodor-Kocher-Haus an der Friedbühlstrasse. Bald wird es zurückziehen können. Bernhard Pulver schätzt die zusätzlichen Bau- und Betriebskosten für die Insel Gruppe seit der Übernahme auf mindestens 300 Millionen Franken: «Dafür erhielten wir vom Kanton nie eine finanzielle Unterstützung.»
Zwar können die Kantone den Spitälern «gemeinwirtschaftliche Leistungen» abgelten. Politisch ist dies derzeit verpönt. Immerhin erhält die Insel – so Pulver – zwei Beiträge: Mit einem Leistungsauftrag übernimmt der Kanton Bern seit diesem Jahr einen Teil der Kosten der ambulanten Leistungen in der Kindermedizin, da die tarifliche Abgeltung die Kosten – wie in allen Kinderspitälern des Landes – bei weiten nicht deckt. Und die Universität Bern entschädigt die Insel für Leistungen in der medizinischen Lehre und Forschung; auch dieser Beitrag stammt letztlich aus der Kantonskasse.
Braucht es ein Universitätsspital?
Es gibt durchaus auch kritische Stimmen. In der Online-Zeitung Hauptstadt wird zum Beispiel der Gesundheitsökonom Heinz Locher zitiert: Bern brauche im Grund kein Universitätsspital, ein Kantonsspital würde genügen. Und: «Was kümmert Herzmedizin die normale Bevölkerung?»
Bernhard Pulver hält diese Einschätzung für falsch. Natürlich sei die medizinische Grundversorgung – zu der auch das Inselspital einen erheblichen Beitrag leiste – für die Bevölkerung zentral. Ebenso wichtig sei es jedoch, bei einem Herzinfarkt, bei Krebs oder einem Hirnschlag auf die Spitzenmedizin eines Universitätsspitals zählen zu können.
Kantonsspitäler sollen sich darauf verlassen können, dass für alle Fälle Universitätsspitäler zur Verfügung stehen
Pulver: «Es muss die Ambition von Bern sein, auch in Zukunft ein führendes Universitätsspital zu haben.» Schaue man etwa die Strategie der Charité in Berlin an, so stünden dort Lehre, Forschung und Krankenversorgung gleichwertig nebeneinander. Das sei das Wesen eines Universitätsspitals, meint Bernhard Pulver. Deren gebe es in der Schweiz fünf: Neben Bern auch Lausanne und Zürich sowie Genf und Basel. Bern habe die grösste medizinische Fakultät der Schweiz. Würde die Politik das Inselspital auf den Status eines Kantonsspitals reduzieren, würde sie auf die Ausbildung hunderter von Ärzt*innen verzichten. Und Berns Beitrag zur Forschung und Lehre in der Medizin ohne Not schmälern.
Wichtig findet Pulver, dass sich Kantonsspitäler darauf verlassen können, dass für alle Fälle Universitätsspitäler zur Verfügung stehen, sozusagen als «Healer of Last Resort», entfernt vergleichbar der Nationalbank als «Lender of Last Resort». Um diese Erwartung erfüllen zu können, müssten Universitätsspitäler kontinuierlich und in allen Disziplinen Spitzenforschung betreiben, im Bereich der Psychosomatik so gut wie in der Entwicklung von Krebstherapien.
Die mehr als vierzig Einheiten umfassende Insel kann das, ist Bernhard Pulver überzeugt. Und sie will es auch. Dann fragt er herausfordernd: «Wir Berner*innen wollen doch etwas zur Welt beitragen? Im Bereich der Medizin tun wir es!»