«Wir wissen ja nicht, was für Zeiten wir noch entgegengehen»

von Christoph Reichenau 27. August 2022

Er redigierte viele Jahre den «Saemann» und die «Reformatio», war Pfarrer in Erlenbach und an der Nydeggkirche in Bern.  Jetzt ist ein Buch mit ausgewählten Aufsätzen und Predigten von Klaus Bäumlin aus 50 Jahren erschienen. Ein Gebirge.

«Revolutionäre Geduld» heisst der von Magdalene Frettlöh herausgegebene dicke Band. Der Titel geht zurück auf die Abschiedspredigt des Autors in der Nydeggkirche; in ihm vereinen sich seine menschliche, theologische und staatsbürgerliche Haltung.

Geduld braucht auch der Leser, der sich durch die unzähligen Texten hindurch liest, die oft die Länge eines Leitartikels oder einer Predigt haben. Als Klaus Bäumlin zu schreiben begann, in den 1970er und 1980er Jahren, durften gehaltvolle Darlegungen noch umfangreich sein, traute und mutete man den Lesenden einiges mehr zu als heute. Wer das Textgebirge des Autors erklimmt, ist dafür dankbar.

Orte

Der Sammelband beginnt mit einem Text von 1979, da war Klaus Bäumlin 41 Jahre alt. Es ist ein Nachdenken über die Orte seines Aufwachsens. «Orte» ist nicht ausschliesslich geographisch gemeint, unter «Orte» fallen auch das Milieu, das soziale Umfeld, der Lebensstil. Bäumlin erzählt vom Simmentaler Bauerndorf Erlenbach, wo sein Vater Pfarrer war, vom Textilunternehmen des Grossvaters in Glarus, vom Bildungsbürgertum, vom Umzug nach Bern in das Diakonissenhaus am Aarehang, dessen Leiter der Vater wurde.

Er schreibt: Man sagt, das Simmental und die Simmentaler erschlössen sich dem Fremden erst nach langer Bekanntschaft. Tatsache ist, dass, wer die teilweise enge, der Simme entlang sich windende Landstrasse befährt, kaum erahnen kann, in welcher Weite, Weichheit und spröden Zärtlichkeit sich über den engen Simmenwindungen das Tal nach oben hin öffnet, da wo die teilweise zerstreuten Siedlungen, darüber die Vorweiden und Alpweiden liegen.

Seine inneren und äusseren Erkundungen führen Bäumlin zum Schluss:

Meine Kindheit, der ‚Ort‘, an dem ich aufgewachsen bin, hat mir ein grosses Mass an freier Lebensentfaltung geboten und eine bürgerliche Sicherheit, in der, subjektiv, kaum Platz für Angst war. Die Geborgenheit in der Weite dieser gesicherten bürgerlichen Existenz hat aber auch bedingt, dass mir andere Lebenserfahrungen (zum Beispiel diejenigen von Arbeitern) persönlich fremd geblieben sind. Ich schäme mich dieser ‚Orte‘ meiner Herkunft nicht, ich habe sie nicht zu verdrängen oder zu verleugnen. Ich weiss, was ich ihnen verdanke. Aber ihre Relativität, ihre Begrenztheit, mehr noch: ihre objektive Gefährlichkeit sind mir inzwischen bewusst geworden. Fliehen bringt nichts. Verstehen ist besser, und neue Solidaritäten, die einem nicht in die Wiege gelegt wurden, noch besser…

Da steht einer zu seiner Herkunft, seiner Prägung, seiner «Blase», die er nicht ganz abstreifen kann und will. Doch dies hält ihn nicht ab, darüber hinaus zu blicken und zu suchen – und lässt damit gerade das Bild der einengenden Blase fragwürdig erscheinen.

Spröde Zärtlichkeit

„Weite, Weichheit und spröde Zärtlichkeit“ – was Bäumlin vom Simmental schreibt, scheint mir fast ein Motto seiner Texte im Allgemeinen zu sein. Da äussert sich kein Berserker, kein Missionar, keiner, der alles weiss und anderen die Welt erklärt. Der Autor, der Redaktor, der Pfarrer, der «wache Zeitgenosse», wie die Herausgeberin ihn neben anderen Bezeichnungen nennt, ist ein sorgfältiger, mitfühlender Analytiker der gesellschaftlichen Verhältnisse mit einem klaren Kompass:

Christen können aber von Gottes Versöhnung und ihrer befreienden Kraft gar nicht radikal und umfassend genug denken! Versöhnung zielt auf den ‘neuen Menschen’ – auf den einzelnen, aber auch auf neue Verhältnisse.

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Wie bespricht man ein Buch, das man nicht besprechen kann? Nicht besprechen kann, weil sich der vielgestaltige Inhalt – politische, religiöse, musikalische, kulturelle Betrachtungen, aber auch ganze Predigten zu zahlreichen Bibelstellen – nicht seriös zusammenfassen und auf keinen knappen Nenner verdichten lässt. Versuche ich es trotzdem, im vollen Bewusstsein des Scheiterns, dann wähle ich als Essenz diese Passage aus dem «Saemann», August 1978:

Der Flüchtling. Ein Zeichen an der Wand, eine Offenbarung des Menschen: So ist der Mensch dran, so auch. Ein Vertriebener, ein Verfolgter, ein Rechtloser. Einer, der nichts gilt. Ein Opfer dessen, was Menschenmacht mit Menschen anstellt. Ein Zeichen der tiefen Störung, die durch die Menschengeschichte hindurchgeht, für die Brüchigkeit unserer Welt, für das Unheil, das Menschen übereinander bringen. Und wer – jetzt, heute – so nicht dran ist, der tut gut sich zu fragen: weshalb gerade er so nicht dran ist.

Die Jungen

Für mich scheint in dieser Stelle vieles auf, für das Klaus Bäumlin steht und sich einsetzt – und das noch immer gilt. Ebenso ist es mit wichtigen Überlegungen etwa zur Revolte der Jungen 1980. Blicken wir in ein Textelement 1981 (aus der «Reformatio»):

Die Jungen, die auf unseren Strassen demonstrieren (…) haben mit einer seltsamen Sensibilität wahrgenommen, dass wir uns auf dem Weg zu einer immer umfassender verwalteten, in allen Bereichen kontrollierten, von wirtschaftlichen und technischen Vorgängen und Mechanismus anhängigen Welt befinden. (…) Gegenüber dieser bürgerlichen, auf Verschleiss und Konsum, auf Niederreissen und Neubauen, auf dauernde Umwälzung und Vermehrung von Gütern, Informationen, Neuigkeiten, Reizen und Stimulierungen, Geräuschen und Bewegung gerichteten Welt, gegenüber dieser Revolution und Explosion des Menschen selbst vertritt die ‘Bewegung der Unzufriedenen’ eine konservative Position: Sie kämpft für die Erhaltung überblickbarer Lebensbereiche, für die Erhaltung und Wiederherstellung unmittelbarer menschlicher Kommunikation und gegen die Aufspaltung des Lebens in beziehungslose Funktionen. Sie kämpft für die Erhaltung alter Häuser; denn diese Jungen wissen aus Erfahrung, welches Mass an Lebensqualität solche Häuser bieten im Vergleich zu dem sie ersetzenden Block.

Die Freiheit

Klaus Bäumlin hat über das genaue Verständnis von Freiheit und deren Bezug zur Gerechtigkeit nachgedacht, etwa 1975 im «Saemann» zum 1. August: Wie steht es mit der Freiheit jener, die in bedrückenden Arbeitsverhältnissen und in ständiger Angst leben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, ihn vielleicht gar schon verloren haben? Wie steht es mit der Freiheit jener Jungen, die eine Lehre oder ein Studium abgeschlossen haben, nun aber kaum eine Möglichkeit sehen, den erlernten Beruf auch auszuüben?

Meine Sorge betrifft diese Freiheit, die so ungleichmässig verteilt ist in unserem Land.

Wie steht es mit der Freiheit jener, die in engen und oft zu teuren Wohnungen oder in schlecht geplanten Quartieren leben und in ihren Lebensmöglichleiten beschränkt sind, so dass sie zu allerlei Lebensersatz greifen müssen? Wie steht es mit der Freiheit der alten Menschen, die oftmals an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind und sich auf ihre alten Tage allenthalben einschränken müssen? (…) Meine Sorge betrifft diese Freiheit, die so ungleichmässig verteilt ist in unserem Land.

Die Toten

Und auch die Bestatteten und die Erinnerung an die Toten zogen Bäumlins Augenmerk nach einem Spaziergang über den Schosshalden-Friedhof in Bern auf sich. So schrieb er 1978 in der «Reformatio»:

Gedächtnis der Toten – das kann auch etwas zutiefst Subversives sein. Es erinnert an die Toten. Es bringt in Erinnerung ihre Leiden, ihr Übergangensein. Es erinnert hartnäckig daran, dass sie dem Leben entrissen wurden, dass sie das Ziel der Geschichte verfehlt haben, es ihnen vorenthalten wurde, ihre Sehnsucht betrogen, ihr Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit, ihr Hunger nach Brot, nach Leben, nach Glück nicht gestillt worden ist. Es hält ihre uneingelösten Ansprüche lebendig und wach. Dieses Gedächtnis der Toten fragt unentwegt nach denen, die die Lasten und die Kosten der Geschichte getragen haben. Es fragt nach denen, die in keinem Geschichtsbuch verzeichnet sind, die Geschichte nicht gemacht, sondern erlitten haben. (…) Das Gedächtnis der Toten appelliert an die verheissene messianische Zurechtbringung und Wiedergutmachung aller Dinge.

Die Kirche als Ort des Asyls

Und Bäumlin entwickelte 1990 aus dem bedauerlichen Verschwinden des Gesangs aus unserem Alltag, und nicht zuletzt auch aus der Kirche, einen spannenden Gedanken, der überraschend mitten in unsere Gegenwart hineinreicht:

Es wird nur noch in der Kirche gesungen. (…) Das zeigt ja auch die seltsame Situation der Kirche auf: Sie ist als Ganzes zur kulturellen, zivilisatorischen Anomalie, zur Insel geworden. Das bedeutet einerseits Entfremdung, Abseitigkeit der Kirche; aber es kann ja auch heissen, dass die Kirche ein Refugium sein könnte für Inhalte, für Erfahrungen, die sonst in unserer Welt keine Heimat mehr haben. Es gäbe gewissermassen ein Kirchenasyl, nicht für Flüchtlinge, sondern auch für verdrängte Erfahrungen und Lebensdimensionen. (…) Vielleicht, wenn uns einmal der elektrische Strom ausgeht und die ganze technische Infrastruktur zusammenbricht, dann könnten wir zurückgreifen auf Dinge, die in diesem ‘Kirchenasyl’, wenigstens ansatzweise, noch da sind – zum Beispiel das Singen. Wir wissen ja nicht, was für Zeiten wir noch entgegengehen.

Das tönt fast prophetisch. Doch Klaus Bäumlin ist kein Prophet. Er denkt nach, er fragt, er sucht – mit kritischem Blick auch auf sich selbst. Sich auf ihn einzulassen und mit seinen Texten zu befassen lohnt sich – wie das Beispiel zeigt – gerade heute.